Gerhard Schröder kämpft für Europa.
Beim Jahrestag der deutsch-asiatischen Wirtschaft verteidigt der Altkanzler offene Grenzen und die Integration von Migranten – auch zur Stärkung der europäischen Wirtschaft.
Schröder lobte Merkel für ihre Entschlossenheit. Der Altkanzler übte aber auch Kritik: „Merkel hätte ein paar Leute in Europa vorher anrufen sollen.“
Düsseldorf. - Altkanzler Gerhard Schröder greift in Debatte um die Folgen der Flüchtlingsströme ein. Grenzkontrollen, die nicht mit dem Schengener Abkommen vereinbar sind, hält er für falsch. „Wir müssen die Freizügigkeit erhalten. Wir müssen Schengen erhalten“, sagte er beim Jahrestag der deutsch-asiatischen Wirtschaft „Asia Business Insights“, den das Handelsblatt am Montag gemeinsam mit der internationalen Großbank HSBC in Düsseldorf veranstaltet hat.
Als Grund nannte der ehemalige Bundeskanzler das Interesse der Unternehmen in Europa am freien Warenverkehr. Eine Einschränkung hält er für falsch und gefährlich, sie schade der Wirtschaft. „Europa muss sich entscheiden, ob es im 21. Jahrhundert noch eine Rolle spielen will“, meinte Schröder. Deutschland allein sei zu schwach, um international eine herausragende Rolle zu spielen.
„Deswegen muss jeder ein überzeugter Anhänger der Integration bleiben – auch in schwierigen Zeiten“, fügte der Altkanzler hinzu. Wer immer Schengen außer Kraft setzen wolle, müsse sagen, was an dessen Stelle kommen soll. „Wir brauchen keine schnelle Lösung, sondern einen Plan. Die wirklichen Probleme Europas“, analysierte Schröder, „liegen nicht in Griechenland und dem Euro, sondern in Protektionismus und Nationalismus.“ Die Kräfte der De-Integration in der EU seien größer „als wir es gebrauchen können“, bedauerte er.
Schröder schaltet sich damit deutlich in die Debatte um die Folgen der Flüchtlingskrise in Europa ein. Der frühere SPD-Finanz- und Wirtschaftsminister Manfred Lahnstein hatte sich gerade im Handelsblatt für ein zeitlich befristetes Aussetzen des Schengen-Abkommen ausgesprochen. Europäische Spitzenpolitiker lehnen den Vorschlag ab. „Ohne Schengen macht Europa keinen Sinn“, meint Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Und der Präsident des Europäischen Rats, Donald Tusk, malt ein Scheitern der EU an die Wand, falls die Regeln von Schengen nicht mehr gelten sollen.
Falsche Signale der Kanzlerin
In der Flüchtlingsfrage kritisiert der ehemalige Bundeskanzler seine Nachfolgerin Merkel: „Die Bundeskanzlerin“, so sagt er, „hat Herz gezeigt.“ Aber sie habe das eine oder andere falsche Signal gesetzt, in dem sie eine Ausnahmesituation zum Normalzustand erhoben habe.
Merkel habe, so sieht es Schröder, zwei Dinge übersehen: Sie habe erstens das Abkommen von Dublin, wonach der Staat, in dem ein Asylbewerber als erstes eingereist ist, verantwortlich für das Asylverfahren ist, handstreichartig außer Kraft gesetzt. „Sie hat gehandelt. Aber sie hätte ein paar Leute in Europa vorher anrufen sollen“, meint Schröder. Und sie hätte zweitens die Entscheidung als Ausnahmesituation darstellen müssen, die schnell wieder vorbei ist. Jetzt sei die Situation verfahren."
Als einen Lösungsansatz schlägt Schröder eine Stichtagsregelung vor: Jeder Flüchtling, der sich zu einem bestimmten Stichtag in Deutschland aufhalte, dürfe ungeachtet, ob sein Anliegen gerechtfertigt ist oder nicht, in Deutschland bleiben und einen Job bekommen.
„Wir brauchen einen Befreiungsschlag. Wer hier ist, bleibt und kann auch sofort arbeiten“, meinte der Altkanzler. Schröder will so die Geschwindigkeit der Integration erhöhen, auch um Vorfälle wie in der Silvesternacht in Köln zu vermeiden. „Wir kommen klar mit den Millionen, die da kommen. Aber nicht mit der Schnelligkeit, mit der sie auf Kommunen einstürzen“, sagte der Altkanzler.
Nota. - Normalerweise mischt sich ein elder statesman nicht in die Tagespolitik ein, und schon gar nicht kritisiert er seinen Nachfolger. Auch der hemdsärmlige Schröder hat sich bislang daran gehalten. Doch es stimmt: Was normalerweise richtig ist, ist es im Augenblick nicht unbedingt. Außergewöhnliche Situationen erfordern oft außergewöhnliche Reaktionen. Hat er aber was zu sagen gehabt, das wichtig genug war, um eine Ausnahme zu rechtfertigen?
Zunächst einmal: Er hat Frau Merkel wegen ihrer Entschlossenheit gelobt. Das steht, obwohl es auch das Handelsblatt in den Hintergrund schiebt, an erster Stelle. Kritik hat er geübt, sie hätte ein paar Leute vorher anrufen sollen? Der hat gut reden. Daran wird sie selber gedacht haben, aber sie ahnte, dass es besser war, darauf zu verzichten: Am Telefon hätten die ihre Kleinkariertheit noch weniger verstecken müssen als jetzt in der Öffentlichkeit.
Aber er legt einen Vorschlag nach, und der soll wohl - wird er es? - die Debatte auf eine andere Ebene heben: Die Unterscheidung zwischen asylberechtigten politischen und nicht asylberechtigten Wirtschaftsflüchtlingen hat allenfalls die pragmatische Rechtfertigung, in diesem Augenblick die Zahlen wenigstens ein kleines biss-chen drücken zu können. Aber auf weite Sicht ist sie unvernünftig und wird sich außerdem als nicht praktikabel erweisen.
Die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge überqueren auch nicht aus Fernweh mit ihren Kindern im Schlauchboot das Mittelmeer, sondern weil sie vor dem Elend fliehen. Wenn sie ihr und ihrer Kinder Leben riskieren - glaubt denn einer, dann werden sie sich von ein paar zusätzlichen bürokratischen Schikanen abschrecken lassen? Es werden immer mehr kommen. Das würde sich auch mit einem Ende der Bürgerkriege im Nahen Osten nicht ändern.
Syrien, der Irak und der IS haben die Sache akut gemacht. Aber die Aufgabe ist eine dauernde: ein Einwande-rungsland Europa zu schaffen. Das ist das Signal, das Frau Merkel gesetzt hat, und sie hat allen Grund, nicht locker zu lassen und in der Sache nicht einen Fußbreit preiszugeben. Wenn Deutschland nicht in Europa führt, tut es keiner, und Europa zerfällt. Vielleicht sollte Schröder sich gleich nochmal zu Wort melden und dies nachtragen: Wer jetzt der Merkel in den Rücken fällt, stellt sich gegen Europa und gegen Deutschland.
JE
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