Freitag, 1. Januar 2016
Arbeit und der Sinn des Lebens.
Am gestrigen Silvestertag brachte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung unter dem Titel Erst die Arbeit macht uns zu Menschen ein Interwiew, das Inge Kloepfer mit dem Hirnforscher Gerald Hüther geführt hat.
Daraus einige Ausschnitte:
... Damals schlug das sogenannte Humangenomprojekt hohe Wellen, in dem es darum ging, das Erbgut des Menschen zu sequenzieren. Nur entpuppte sich dieses Projekt als der größte und wohl teuerste Flop, den wir wissenschaftsgeschichtlich je zustande gebracht haben. Am Ende hat sich nämlich gezeigt, dass der Mensch, anders als es die Genom-Forscher mit ihrem mechanistischen Weltbild erwartet hatten, nicht viel mehr Gene hat als ein Fadenwurm. Die These des genetischen Determinismus, dass also alles im Erbgut festgelegt ist, ließ sich schlicht nicht halten. Von Genen lässt sich nicht auf komplexe Merkmale oder gar Verhaltensmuster schließen.
... In unserem Gehirn ist ganz zu Beginn des Lebens sehr viel mehr angelegt, als gebraucht wird, sowohl an Zellen als auch an Vernetzungen. Alles vernetzt sich mit allem - fast wie ein Spiel. Das ist genetisch. Aber nicht alle diese Vernetzungen und Zellen werden gebraucht. Das, was sich als sinnvolle neuronale Vernetzung erweist, weil es in der Praxis nutzbar ist, bleibt stehen, der Rest wird wieder abgeräumt.
Vorgeburtlich sind das jene Vernetzungen, die für die Regulation des eigenen Körpers gebraucht werden. Das heißt, das Hirn lernt schon vor der Geburt, wie es sich anhand der aus dem eigenen Körper kommenden Signalmuster strukturieren muss. Deshalb sind die Menschen schon zum Zeitpunkt der Geburt alle verschieden und damit einzigartig. Es gibt ängstliche und weniger ängstliche Menschen, faule und fleißige. Die wiederum machen ganz unterschiedliche Erfahrungen. ...
Zunächst als Kind in der Familie, in die man hineingeboren wird. Aufgrund dieser Erfahrungen verfestigen sich bestimmte Netzwerkstrukturen im Gehirn. Wenn in einer Familie Arbeit immer nur als lästige Pflicht erfahren wird, verinnerlicht auch das Kind, dass Arbeit nichts Gutes ist. Schon die Schule wird dann als lästige Pflicht empfunden, entsprechend hoch sind die Lernwiderstände. ...
Mit Arbeit verbinden wir in erster Linie das Geldverdienen. Das bedeutet, dass wir unsere Haut für ein Entgelt zu Markte tragen. Dieses heute gängige Verständnis von Arbeit hat sich mit der Entstehung der großen Fabriken im 19. Jahrhundert herausgebildet. Das Bestreben, bloß nicht zu viel zu arbeiten, kommt aus der Lohnarbeit als Notwendigkeit, sich den Lebensunterhalt zu sichern.
...Arbeit hat mehrere Zwecke, nicht nur den, sein Auskommen zu sichern. Der Mensch, der in Gemeinschaften lebt, braucht immer etwas, das ihn mit diesen Gemeinschaften verbindet. Wir sind soziale Wesen. Unser Gehirn strukturiert sich ein Leben lang vor allem aufgrund der Erfahrungen mit anderen. Wir sind also so angelegt, dass wir immer nach Gelegenheiten suchen, mit anderen gemeinsam etwas zu tun.
Wir wollen verbunden sein und gleichzeitig zeigen, dass wir etwas drauf haben. Verbundenheit auf der einen Seite, Freiheit und Autonomie auf der anderen - das sind die zwei menschlichen Grundbedürfnisse. Und die lassen sich am besten durch Arbeit stillen. Gleichzeitig sind Sie durch Ihren Beitrag auch mit den anderen verbunden.Verbundenheit ist die Primärerfahrung eines jeden Menschen, weil er ganz am Anfang seiner Existenz ohne verbunden zu sein nicht hätte überleben können. Dieses Grundbedürfnis wird er nie wieder los.
Dann müssten Menschen unglücklich werden, wenn sie nicht arbeiten.
Das werden viele, auch wenn sie erst einmal froh sind, nicht mehr arbeiten zu müssen. Nach einiger Zeit merken sie, dass ihnen etwas fehlt, wenn sie nicht mehr arbeiten. Autonomie und Verbundenheit erlebbar zu machen in individualisierten Gemeinschaften ist entwicklungsgeschichtlich gesehen das Erfolgsmodell der Primaten. Wir bilden keine Herden, wir leben nicht im Ameisenstaat, sondern in individualisierten Gemeinschaften. Anders als im Ameisenstaat bringen hier Einzelne immer neue Ideen hervor, die jeder andere, wenn er sie für sinnvoll erachtet, nachahmen und übernehmen kann oder auch nicht.
Könnte man sagen, dass uns Arbeit erst zum Menschen macht?
Friedrich Engels überschrieb einen seiner Aufsätze mit dem hübschen Titel: „Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen.“ Da ist etwas dran, wenn man die Arbeit im weiteren Sinn als ein Tätigsein definiert. Darauf sind wir angewiesen, sonst könnten wir uns überhaupt nicht als autonome Wesen erleben. Man wüsste nicht, wer man ist, weil man sich selbst nicht vergleichen kann. Bisweilen verhalten wir uns in unserer hoch arbeitsteiligen Welt allerdings wie die Arbeiter im Ameisenstaat und wollen am liebsten nur noch Urlaub haben. Genau dann haben wir den Arbeitsbegriff auf die reine Lohnarbeit verengt. Und die macht uns nicht glücklich.
Weil wir dann allzu leicht zu Objekten gemacht werden, zu Objekten von Beurteilungen, Bewertungen und am Ende Maßnahmen des Arbeitgebers. Mit unserer angeborenen Entdeckerfreude und unserer Gestaltungslust machen wir in solchen Arbeitsverhältnissen sehr ungünstige Erfahrungen, die im wahrsten Sinne des Wortes schmerzhaft sind. ... Nach ähnlichem Muster machen schon Kinder in der Schule ungünstige Erfahrungen. Sie werden auf ihre Noten reduziert und versteifen sich, damit sie Schule überhaupt aushalten können, auf die Lösung: Schule ist doof. Auszubildenden geht es, um noch ein anderes Beispiel zu nennen, oft nicht besser. Sie erfahren sehr schnell, dass das, was sie einbringen möchten und könnten, überhaupt nicht gefragt ist. Der natürliche Drang, tätig zu werden, wird gebremst. Unser Hirn ist aber anders angelegt. Deshalb wollen wir Probleme lösen, dazu gehören gestalten, beitragen, permanent lernen. ...
Ich beobachte zwei große Trends: einmal die Automatisierung, die unangenehme, zeitaufwendige und stupide Arbeiten immer mehr den Robotern überlässt. Das sind genau die Arbeiten, bei denen man hofft, dass die Zeit schnell vergeht - Fließbandarbeit zum Beispiel. Roboter befreien uns zunehmend von diesen Tätigkeiten, die wir Arbeit nennen, aber für das Hirn gar keine gute Arbeit sind. Der zweite Trend ist, dass es die jungen Menschen einfach nicht mehr hinnehmen, dass sie ein Leben lang einen schlechten Job machen müssen, nur um Geld zu verdienen. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass die Arbeit Freude machen muss. Für die jungen, gut ausgebildeten Menschen ist Arbeit etwas anderes als das, was wir unter Lohnarbeit verstanden haben. ...
Gerald Hüther aus Göttingen ist einer der bekanntesten Neurobiologen in Deutschland. Er studierte Biologie in Leipzig und wurde dort auch promoviert. Ende der 70er Jahre floh er aus der DDR, forschte 1979 bis 1989 am Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin in Göttingen über Hirnentwicklungsstörungen. 1988 habilitierte er sich dort und erhielt eine Lehrerlaubnis. Bekannt wurde er vor allem durch seine populärwissenschaftlichen Bücher, zuletzt erschien sein Buch „Etwas mehr Hirn, bitte“.
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