Dienstag, 31. Dezember 2019
Montag, 30. Dezember 2019
Abendland heißt Aufklärung.
aus nzz.ch,
29.12.2019 Galileis Astrolab
Das Mittelalter war nicht einfach dunkel, und die Aufklärung begann schon in der Antike:
Das helle Mittelalter
Die Welt als göttliche Schöpfung und, wie die Bibel lehrte, den Menschen als Ebenbild Gottes zu verstehen, bedeutete aber auch ein Zweites: Die Welt ist für den menschlichen Geist erkennbar. Hier trafen griechische Wissenschaft und christlicher Schöpfungsglaube aufeinander. Denn für die christliche Theologie ist der menschliche Geist dem göttlichen Geist, der die Natur gedacht und sein Denken in sie hineingelegt hat, nachgebildet. Somit kann der Mensch ihre Geheimnisse entschlüsseln.
Erbe der griechischen Wissenschaften Mathematik, Physik und Biologie war vor allem das christliche Mittelalter. Gemäss der islamischen Auffassung von göttlicher Allmacht konnte die Schöpfung nicht einer gesetzmässigen Ordnung gemäss strukturiert sein – es widerspräche der Freiheit Gottes. Deshalb verbannte der Islam die griechischen Wissenschaften, insbesondere die Physik, zunehmend aus seinen Schulen.
Astronomie betrieb man vor allem, um die rituellen Gebetszeiten genauer berechnen zu können. Der bedeutende syrische Astronom Ibn al-Shatir (1304–1375) etwa war als muwaqquit – Zeitnehmer – in einer Moschee von Damaskus angestellt. Seine christlichen Kollegen hingegen lehrten an Universitäten und rezipierten die Lehren des muslimischen Aristoteles-Kommentators Averroes (Ibn Rushd), der als «Rationalist» von seinen Glaubensbrüdern verfolgt wurde.
Die mittelalterlichen Universitäten waren körperschaftlich organisierte Freiräume für wissenschaftliches Arbeiten und Disputieren, in der auch die von Aristoteles geprägte Physik als Naturphilosophie eine bedeutende Stellung innehatte. Ihre Verankerung im universitären Curriculum bildete die institutionelle Voraussetzung für das Entstehen der modernen Naturwissenschaft.
Die anthropozentrische Wende
Auch Galilei entstammte dieser akademischen Tradition, stellte sich aber als erster ihrer aristotelischen Prägung entgegen – mit nicht weniger Entschiedenheit, wie vor ihm Kopernikus gegen die bloss Rechenmodelle, aber keine Wahrheitserkenntnis produzierende ptolemäische Astronomie polemisiert hatte. Das taten sie beide als Christen: Galilei, weil er überzeugt war, dass die Natur von ihrem Schöpfer in mathematischer Schrift geschrieben wurde, die dem Menschen verständlich sei. Kopernikus, weil er die ptolemäische Überzeugung der erkenntnismässigen Unzugänglichkeit der wahren Himmelsbewegungen aufgab, um sich nun, wie er in der Einleitung zu seinem Hauptwerk schrieb, der wirklichkeitsgetreuen Erkenntnis der Bewegungen der Weltmaschine zuzuwenden, «die um unseretwillen vom besten und genausten aller Werkmeister gebaut ist».
Entlarvt wird damit auch die Legende von der «Kränkung», die der Heliozentrismus dem noch dem Mittelalter verhafteten Menschen angeblich zugefügt habe. Die «kopernikanische Wende» war das genaue Gegenteil jener angeblichen Entthronung der menschlichen Fähigkeit, die «Wahrheit der Dinge» zu erkennen, wie sie Kant in der Vorrede zu seiner «Kritik der reinen Vernunft» beschrieb.
Sie war in Wirklichkeit schöpfungstheologisch begründete Anthropozentrik: Weil der Mensch am schöpferischen Intellekt Gottes teilhat, ist das ganze Universum seiner Erkenntnis auch zugänglich. Der gottebenbildliche Mensch sieht sich nun gerade wegen seiner Erkenntnisfähigkeit in den Mittelpunkt des «um unseretwillen» so erschaffenen Universums gestellt – dass er dabei um die Sonne kreist und sie nicht um ihn, vermag ihn nicht zu kränken.
In Wirklichkeit war die seit der Antike diskutierte Heliozentrik für das christliche Mittelalter nie ein grundsätzliches Problem gewesen. Nikolaus von Oresme etwa, Bischof von Lisieux (gestorben 1382), machte sich, wenngleich mit unzulänglichen Argumenten, im 14. Jahrhundert dafür stark. Auch Thomas von Aquin hatte darin eine denkbare Möglichkeit gesehen, denn «was als Bewegung erscheint, wird entweder durch die Bewegung des Beobachteten oder durch die Bewegung des Beobachters verursacht». Doch hielt er die physikalischen Argumente des Aristoteles zugunsten der Mittelstellung der Erde für die besseren.
Wie schon Kopernikus hatte auch Galilei keine physikalischen Beweise für das Kreisen der Erde um die Sonne. Galilei verhöhnte stattdessen öffentlich seine Gegner als Anhänger des ptolemäischen Systems, obwohl sie bereits das geozentrische Modell des Tycho Brahe verfochten, das rein mathematisch dem kopernikanischen äquivalent war. Galileis Hauptgegner in der Kurie, Kardinal Bellarmin, meinte, falls man Beweise für die Erdbewegung um die Sonne finde, müsse man die Interpretation der Heiligen Schrift entsprechend anpassen.
Das Problem war: Es gab keine. Dass die kirchlichen Gegner Galileis wissenschaftliche Beweise verlangten, zeigt, dass auch sie sich der Logik des seit Jahrhunderten fortschreitenden Prozesses der «Entzauberung der Welt» nicht zu entziehen vermochten.
Auch Darwin war ein Christ
Max Weber vertrat in seinem Vortrag von 1919 die Ansicht, erst durch den Einfluss des Protestantismus habe man die Struktur des Universums als Ausdruck der Vorsehung Gottes verstanden und damit «in den exakten Naturwissenschaften (. . .), wo man seine Werke physisch greifen konnte» zu hoffen begonnen, «seinen Absichten mit der Welt auf die Spur zu kommen». Das zeugt von Unkenntnis der mittelalterlichen Schöpfungsmetaphysik, auf deren Boden Kopernikus und Galilei standen. Ihr gemäss hatte Gott eine Natur erschaffen, der er den Plan seiner Vorsehung als eigenständige Kausalität – sogenannte «Sekundärursa- chen» – eingegeben hat, «so wie wenn ein Schiffsbauer einem Stück Holz die Fähigkeit verliehen hätte, sich selbst zu einem Schiff zu entwickeln» (Thomas v. Aquin).
Noch Charles Darwin argumentierte in seinem Hauptwerk «The Origins of Species» gegen jene, die – nicht im Sinne des Mittelalters, sondern gemäss protestantischem Biblizismus – an der unmittelbaren Erschaffung jeder Spezies durch Gott festhalten wollten. Ihm scheine es, so schrieb er, «aufgrund dessen, was wir über die Gesetze wissen, die der Schöpfer der Materie eingegeben hat», plausibler, den Prozess der Evolution der Wirksamkeit von «secondary causes» zuzuschreiben.
Damit stand Darwin zum Zeitpunkt seiner grossen Entdeckung noch ganz auf dem Boden des christlich-mittelalterlichen Naturbegriffs. Um die Natur als System von Sekundärursachen zu entschlüsseln, bedurfte es lediglich neuer wissenschaftlicher Methoden, wie sie erst die Naturwissenschaften der Neuzeit zu entwickeln begannen.
Das war sehr wohl eine neue Etappe im Prozess der Entzauberung der Welt, nicht aber dessen Beginn. Die wissenschaftliche Vernunft der Neuzeit gegen das «finstere Mittelalter» auszuspielen, zeugt von Unwissenheit, die eines aufgeklärten Geistes nicht würdig ist.
Martin Rhonheimer ist Professor für Ethik und politische Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom. Er ist Gründungspräsident des Austrian Institute of Economics and Social Philosophy in Wien, wo er gegenwärtig lebt. Als Letztes ist von ihm das Buch «Homo sapiens: die Krone der Schöpfung. Herausforderungen der Evolutionstheorie und die Antwort der Philosophie» (Springer-Verlag 2016) erschienen.
Nota.
- Die Legende vom finsteren Mittelalter hat sich erst im 19.
Jahrhundert recht durchsetzen können, als Gegenstück zum Mythos vom
unwiderstehlchen Fortschritt der neuen, positiven Wissenschaft: Nur wem die Gegenwart leuchtet, kann die Vergangenheit dunkel scheinen. Den gebildeten Ständen mag ihre Zeit stets etwas heller vorgekommen sein als den armen Ungebildeten. Das eigentlich Besondere an der abendländischen Auf- klärungsgeschichte ist, dass sie schließlich die Massen erfasst hat, die eo ipso ungebildet nicht blieben - und nicht ewig arm. Was beides Voraussetzung ist für ihre Dauer; Nachhaltigkeit, sagt der Zeitgenosse.
Das macht die Sonderstellung des Abendlands unter den Kulturen der Welt aus. Dies zu verstehen fällt schwe- rer, wenn man die Bildungsgeschichte des Abendland nicht als einen kontinuierlichen und sich verallgemeinern- den Prozess auffasst, sondern als unterbrochen, zurückgeworfen durch das schwarze Loch einer barbarischen Zwischenepoche.
Rhonheimer hat Recht, wenn er die Verdienste der christlichen Mönchsorden nicht nur um die geistliche, son- dern auch um die technisch-wissenschaftliche Bildung ihrer Zeit hervorhebt - und die Ausbildung eines Arbeits- ethos insbesonders. Aber das Mönchtum war nur eine Facette der katholischen Religiosität. Der Machtapprat des irdischen Leibs Christi war eine andere, längst nicht so dynamische; wenn auch ohne deren Rivalität mit den weltlichen Mächten die Ausbildung der spezifisch westlichen, repräsentativen Staatlichkeit kaum stattgehabt hätte.
Und nicht alle Orden waren auf den selben Feldern profiliert. Rhonheimer spricht für seine Kirche, da zieht er - zeitgemäß - die werktätigen und weltzugewandten Bruderschaften vor. Doch nicht minder bedeutend für die Ausbildung des Westens waren die scholastischen, spekulativen Dominikaner und Franziskaner; die einen als Bewahrer der frühchristlichen platonischen Überlieferung, die andern als ihre aristotelischen Opponenten. Deren Scharmützel betrafen wirklich nur eine hauchdünne Schicht, aber die prägte eben die Bildung der herrschenden Stände. Allein schon, dass es eine Theo-Logie überhaupt geben kann, unterscheidet die christlichen Religionen von allen andern: ein menschliches Wissen von Gott - mit all der Paradoxie, die das mit sich bringt und die min- destens der Islam mit seiner Leugnung menschlicher Wissensfähigkeit einfach aus sich ausscheidet (und die allenfalls bei den auch heute wieder verfolgten Mystikern ein unsicheres Unterkommen hat).
Überhaupt ist es der Umstand, dass die römische Kirche kein Monolith mit einem Big Brother an der Spitze war, sondern selber ein Abbild der vielfach gebrochenen, zersplitterten und verfehdeten Feudalwelt, die eher als en- demischer Bürgerkrieg erscheint denn eine als geregelte Ordnung - der ihr erlaubt hat, die westliche Mentalität bis heute zu prägen. Ein allgemeines Gegeneinander, in dem sich wie in darwinscher Auslese und Anpassung stets ein Lebendiges erhält, das nicht wie in anderen Kulturen immer wieder vom Aussterben bedroht ist. Das war der Humus, aus dem eine bürgerliche Gesellschaft entstehen konnte.
JE
Das Mittelalter war nicht einfach dunkel, und die Aufklärung begann schon in der Antike:
Über ein paar moderne Missverständnisse
Wir
Modernen neigen dazu, die eigene Zeit zu überhöhen. Aber wir sind gar
nicht so aufgeklärt, wie wir gerne denken. Dafür waren unsere Ahnen
moderner, als wir dies wahrhaben wollen – zum Beispiel die Mönche.
von Martin Rhonheimer
von Martin Rhonheimer
Im
Mittelalter glaubten Theologen und andere Gebildete, die Erde sei eine
flache Scheibe. Wer sich zu weit aufs Meer hinauswage, riskiere deshalb,
in einen Abgrund zu stürzen.
Wie der österreichische Historiker Roland Bernhard nachgewiesen hat, dominiert diese Legende auch heute noch vor allem deutschsprachige Schulbücher. Sie wird zuweilen auch in seriösen Medien verbreitet und lässt sich ungestraft im Smalltalk zum Besten geben, um auf die intellektuelle Unbedarftheit des Mittelalters hinzuweisen.
Doch aufgepasst. Die Mär von einem mittelalterlichen Glauben an die Scheibengestalt der Erde stammt aus dem 19. Jahrhundert. Man wollte dem finsteren und abergläubischen Mittelalter den wissenschaftlichen Glanz der Aufklärung entgegenstellen, deren spezifische Leistung heute oft mit der von Max Weber in seinem Vortrag «Wissenschaft als Beruf» (1919) geprägten Metapher «Entzauberung der Welt» charakterisiert wird – zu Unrecht. Den Beginn dieser «Entzauberung» verortete Weber nämlich selbst in der griechischen Antike.
Das rationale Handeln der Mönche
Und in der Tat: Seit Platon und Aristoteles hielt man die Erde für kugelförmig – auch die Gebildeten des Mittelalters, Naturphilosophen und Theologen, waren von der Kugelgestalt der Erde überzeugt. Kolumbus brauchte keine Angst zu haben, bei seiner Fahrt Richtung Westen in einen Abgrund zu stürzen. Die Kugelgestalt der Erde, schon seit Jahrhunderten durch Berechnungen erhärtet, war für ihn und seine Zeitgenossen eine Selbstverständlichkeit.
«Entzauberung der Welt» war für Max Weber der «in der okzidentalen Kultur durch Jahrtausende» sich fortsetzende Prozess der «zunehmenden Intellektualisierung und Rationalisierung». Dies bedeute vor allem: «Nicht mehr wie der Wilde», für den es «geheimnisvolle, unberechenbare Mächte» gab, «muss man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das.»
Exakt darin bestand etwa die zivilisatorische Leistung des frühmittelalterlichen Mönchtums, in dessen Rahmen der «Abt als Agrarfachmann und Ingenieur» (Dieter Hägermann) den im heidnischen Aberglauben gefangenen Bauern die Angst vor Fluss- und Baumgeistern nahm und sie produktive Ackerbautechniken lehrte. Die zahlreichen technischen Innovationen des Mittelalters wie drehbare Vorderachsen, Bremsen und Kummet, die das Transportwesen revolutionierten, Wasser- und Windmühlen, die Nockenwelle, Räderpflug und Hufeisen, Dreifelderwirtschaft, Glockenguss und Drahtziehen, Spinnrad und Tretwebstuhl, Farbenherstellung und ‑mischung, mechanische Uhren, optische Linsen und Brillen und vieles mehr sind Folge eines neuen Arbeitsethos.
Wer sich nicht um Technik kümmere, sei töricht, schrieb 1122/23 der Benediktinermönch Theophylus Presbyter in seiner «Schedula de diversis artibus». Und der Theologe Hugo von St. Victor, gestorben 1141, fügte in einem Lehrbuch den bekannten sieben «Freien Künsten» sieben «Künste der Mechanik» hinzu.
Das frühmittelalterliche Mönchtum hatte die negative Einschätzung der Arbeit, wie sie in der Antike dominierte, in radikaler Weise verändert. «Arbeit» wurde schon von Augustinus als der ursprüngliche Schöpfungsauftrag an den Menschen reflektiert, nach dem Sündenfall zwar beschwerlich, aber weiterhin der Weg, um den ursprünglichen Auftrag «Macht euch die Erde untertan!» zu erfüllen. Mit dem Glauben des «Wilden» an «geheimnisvolle, unberechenbare Mächte» war das nicht vereinbar.
Wie der österreichische Historiker Roland Bernhard nachgewiesen hat, dominiert diese Legende auch heute noch vor allem deutschsprachige Schulbücher. Sie wird zuweilen auch in seriösen Medien verbreitet und lässt sich ungestraft im Smalltalk zum Besten geben, um auf die intellektuelle Unbedarftheit des Mittelalters hinzuweisen.
Doch aufgepasst. Die Mär von einem mittelalterlichen Glauben an die Scheibengestalt der Erde stammt aus dem 19. Jahrhundert. Man wollte dem finsteren und abergläubischen Mittelalter den wissenschaftlichen Glanz der Aufklärung entgegenstellen, deren spezifische Leistung heute oft mit der von Max Weber in seinem Vortrag «Wissenschaft als Beruf» (1919) geprägten Metapher «Entzauberung der Welt» charakterisiert wird – zu Unrecht. Den Beginn dieser «Entzauberung» verortete Weber nämlich selbst in der griechischen Antike.
Das rationale Handeln der Mönche
Und in der Tat: Seit Platon und Aristoteles hielt man die Erde für kugelförmig – auch die Gebildeten des Mittelalters, Naturphilosophen und Theologen, waren von der Kugelgestalt der Erde überzeugt. Kolumbus brauchte keine Angst zu haben, bei seiner Fahrt Richtung Westen in einen Abgrund zu stürzen. Die Kugelgestalt der Erde, schon seit Jahrhunderten durch Berechnungen erhärtet, war für ihn und seine Zeitgenossen eine Selbstverständlichkeit.
«Entzauberung der Welt» war für Max Weber der «in der okzidentalen Kultur durch Jahrtausende» sich fortsetzende Prozess der «zunehmenden Intellektualisierung und Rationalisierung». Dies bedeute vor allem: «Nicht mehr wie der Wilde», für den es «geheimnisvolle, unberechenbare Mächte» gab, «muss man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das.»
- Der wichtigste Beitrag des Christentums zum Abendland.
- Der Beitrag des Christentums zum Abendland...
Exakt darin bestand etwa die zivilisatorische Leistung des frühmittelalterlichen Mönchtums, in dessen Rahmen der «Abt als Agrarfachmann und Ingenieur» (Dieter Hägermann) den im heidnischen Aberglauben gefangenen Bauern die Angst vor Fluss- und Baumgeistern nahm und sie produktive Ackerbautechniken lehrte. Die zahlreichen technischen Innovationen des Mittelalters wie drehbare Vorderachsen, Bremsen und Kummet, die das Transportwesen revolutionierten, Wasser- und Windmühlen, die Nockenwelle, Räderpflug und Hufeisen, Dreifelderwirtschaft, Glockenguss und Drahtziehen, Spinnrad und Tretwebstuhl, Farbenherstellung und ‑mischung, mechanische Uhren, optische Linsen und Brillen und vieles mehr sind Folge eines neuen Arbeitsethos.
Wer sich nicht um Technik kümmere, sei töricht, schrieb 1122/23 der Benediktinermönch Theophylus Presbyter in seiner «Schedula de diversis artibus». Und der Theologe Hugo von St. Victor, gestorben 1141, fügte in einem Lehrbuch den bekannten sieben «Freien Künsten» sieben «Künste der Mechanik» hinzu.
Das frühmittelalterliche Mönchtum hatte die negative Einschätzung der Arbeit, wie sie in der Antike dominierte, in radikaler Weise verändert. «Arbeit» wurde schon von Augustinus als der ursprüngliche Schöpfungsauftrag an den Menschen reflektiert, nach dem Sündenfall zwar beschwerlich, aber weiterhin der Weg, um den ursprünglichen Auftrag «Macht euch die Erde untertan!» zu erfüllen. Mit dem Glauben des «Wilden» an «geheimnisvolle, unberechenbare Mächte» war das nicht vereinbar.
Das helle Mittelalter
Die Welt als göttliche Schöpfung und, wie die Bibel lehrte, den Menschen als Ebenbild Gottes zu verstehen, bedeutete aber auch ein Zweites: Die Welt ist für den menschlichen Geist erkennbar. Hier trafen griechische Wissenschaft und christlicher Schöpfungsglaube aufeinander. Denn für die christliche Theologie ist der menschliche Geist dem göttlichen Geist, der die Natur gedacht und sein Denken in sie hineingelegt hat, nachgebildet. Somit kann der Mensch ihre Geheimnisse entschlüsseln.
Erbe der griechischen Wissenschaften Mathematik, Physik und Biologie war vor allem das christliche Mittelalter. Gemäss der islamischen Auffassung von göttlicher Allmacht konnte die Schöpfung nicht einer gesetzmässigen Ordnung gemäss strukturiert sein – es widerspräche der Freiheit Gottes. Deshalb verbannte der Islam die griechischen Wissenschaften, insbesondere die Physik, zunehmend aus seinen Schulen.
Astronomie betrieb man vor allem, um die rituellen Gebetszeiten genauer berechnen zu können. Der bedeutende syrische Astronom Ibn al-Shatir (1304–1375) etwa war als muwaqquit – Zeitnehmer – in einer Moschee von Damaskus angestellt. Seine christlichen Kollegen hingegen lehrten an Universitäten und rezipierten die Lehren des muslimischen Aristoteles-Kommentators Averroes (Ibn Rushd), der als «Rationalist» von seinen Glaubensbrüdern verfolgt wurde.
Die mittelalterlichen Universitäten waren körperschaftlich organisierte Freiräume für wissenschaftliches Arbeiten und Disputieren, in der auch die von Aristoteles geprägte Physik als Naturphilosophie eine bedeutende Stellung innehatte. Ihre Verankerung im universitären Curriculum bildete die institutionelle Voraussetzung für das Entstehen der modernen Naturwissenschaft.
Die anthropozentrische Wende
Auch Galilei entstammte dieser akademischen Tradition, stellte sich aber als erster ihrer aristotelischen Prägung entgegen – mit nicht weniger Entschiedenheit, wie vor ihm Kopernikus gegen die bloss Rechenmodelle, aber keine Wahrheitserkenntnis produzierende ptolemäische Astronomie polemisiert hatte. Das taten sie beide als Christen: Galilei, weil er überzeugt war, dass die Natur von ihrem Schöpfer in mathematischer Schrift geschrieben wurde, die dem Menschen verständlich sei. Kopernikus, weil er die ptolemäische Überzeugung der erkenntnismässigen Unzugänglichkeit der wahren Himmelsbewegungen aufgab, um sich nun, wie er in der Einleitung zu seinem Hauptwerk schrieb, der wirklichkeitsgetreuen Erkenntnis der Bewegungen der Weltmaschine zuzuwenden, «die um unseretwillen vom besten und genausten aller Werkmeister gebaut ist».
Entlarvt wird damit auch die Legende von der «Kränkung», die der Heliozentrismus dem noch dem Mittelalter verhafteten Menschen angeblich zugefügt habe. Die «kopernikanische Wende» war das genaue Gegenteil jener angeblichen Entthronung der menschlichen Fähigkeit, die «Wahrheit der Dinge» zu erkennen, wie sie Kant in der Vorrede zu seiner «Kritik der reinen Vernunft» beschrieb.
Sie war in Wirklichkeit schöpfungstheologisch begründete Anthropozentrik: Weil der Mensch am schöpferischen Intellekt Gottes teilhat, ist das ganze Universum seiner Erkenntnis auch zugänglich. Der gottebenbildliche Mensch sieht sich nun gerade wegen seiner Erkenntnisfähigkeit in den Mittelpunkt des «um unseretwillen» so erschaffenen Universums gestellt – dass er dabei um die Sonne kreist und sie nicht um ihn, vermag ihn nicht zu kränken.
In Wirklichkeit war die seit der Antike diskutierte Heliozentrik für das christliche Mittelalter nie ein grundsätzliches Problem gewesen. Nikolaus von Oresme etwa, Bischof von Lisieux (gestorben 1382), machte sich, wenngleich mit unzulänglichen Argumenten, im 14. Jahrhundert dafür stark. Auch Thomas von Aquin hatte darin eine denkbare Möglichkeit gesehen, denn «was als Bewegung erscheint, wird entweder durch die Bewegung des Beobachteten oder durch die Bewegung des Beobachters verursacht». Doch hielt er die physikalischen Argumente des Aristoteles zugunsten der Mittelstellung der Erde für die besseren.
Wie schon Kopernikus hatte auch Galilei keine physikalischen Beweise für das Kreisen der Erde um die Sonne. Galilei verhöhnte stattdessen öffentlich seine Gegner als Anhänger des ptolemäischen Systems, obwohl sie bereits das geozentrische Modell des Tycho Brahe verfochten, das rein mathematisch dem kopernikanischen äquivalent war. Galileis Hauptgegner in der Kurie, Kardinal Bellarmin, meinte, falls man Beweise für die Erdbewegung um die Sonne finde, müsse man die Interpretation der Heiligen Schrift entsprechend anpassen.
Das Problem war: Es gab keine. Dass die kirchlichen Gegner Galileis wissenschaftliche Beweise verlangten, zeigt, dass auch sie sich der Logik des seit Jahrhunderten fortschreitenden Prozesses der «Entzauberung der Welt» nicht zu entziehen vermochten.
Auch Darwin war ein Christ
Max Weber vertrat in seinem Vortrag von 1919 die Ansicht, erst durch den Einfluss des Protestantismus habe man die Struktur des Universums als Ausdruck der Vorsehung Gottes verstanden und damit «in den exakten Naturwissenschaften (. . .), wo man seine Werke physisch greifen konnte» zu hoffen begonnen, «seinen Absichten mit der Welt auf die Spur zu kommen». Das zeugt von Unkenntnis der mittelalterlichen Schöpfungsmetaphysik, auf deren Boden Kopernikus und Galilei standen. Ihr gemäss hatte Gott eine Natur erschaffen, der er den Plan seiner Vorsehung als eigenständige Kausalität – sogenannte «Sekundärursa- chen» – eingegeben hat, «so wie wenn ein Schiffsbauer einem Stück Holz die Fähigkeit verliehen hätte, sich selbst zu einem Schiff zu entwickeln» (Thomas v. Aquin).
Noch Charles Darwin argumentierte in seinem Hauptwerk «The Origins of Species» gegen jene, die – nicht im Sinne des Mittelalters, sondern gemäss protestantischem Biblizismus – an der unmittelbaren Erschaffung jeder Spezies durch Gott festhalten wollten. Ihm scheine es, so schrieb er, «aufgrund dessen, was wir über die Gesetze wissen, die der Schöpfer der Materie eingegeben hat», plausibler, den Prozess der Evolution der Wirksamkeit von «secondary causes» zuzuschreiben.
Damit stand Darwin zum Zeitpunkt seiner grossen Entdeckung noch ganz auf dem Boden des christlich-mittelalterlichen Naturbegriffs. Um die Natur als System von Sekundärursachen zu entschlüsseln, bedurfte es lediglich neuer wissenschaftlicher Methoden, wie sie erst die Naturwissenschaften der Neuzeit zu entwickeln begannen.
Das war sehr wohl eine neue Etappe im Prozess der Entzauberung der Welt, nicht aber dessen Beginn. Die wissenschaftliche Vernunft der Neuzeit gegen das «finstere Mittelalter» auszuspielen, zeugt von Unwissenheit, die eines aufgeklärten Geistes nicht würdig ist.
Martin Rhonheimer ist Professor für Ethik und politische Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom. Er ist Gründungspräsident des Austrian Institute of Economics and Social Philosophy in Wien, wo er gegenwärtig lebt. Als Letztes ist von ihm das Buch «Homo sapiens: die Krone der Schöpfung. Herausforderungen der Evolutionstheorie und die Antwort der Philosophie» (Springer-Verlag 2016) erschienen.
Das macht die Sonderstellung des Abendlands unter den Kulturen der Welt aus. Dies zu verstehen fällt schwe- rer, wenn man die Bildungsgeschichte des Abendland nicht als einen kontinuierlichen und sich verallgemeinern- den Prozess auffasst, sondern als unterbrochen, zurückgeworfen durch das schwarze Loch einer barbarischen Zwischenepoche.
Rhonheimer hat Recht, wenn er die Verdienste der christlichen Mönchsorden nicht nur um die geistliche, son- dern auch um die technisch-wissenschaftliche Bildung ihrer Zeit hervorhebt - und die Ausbildung eines Arbeits- ethos insbesonders. Aber das Mönchtum war nur eine Facette der katholischen Religiosität. Der Machtapprat des irdischen Leibs Christi war eine andere, längst nicht so dynamische; wenn auch ohne deren Rivalität mit den weltlichen Mächten die Ausbildung der spezifisch westlichen, repräsentativen Staatlichkeit kaum stattgehabt hätte.
Und nicht alle Orden waren auf den selben Feldern profiliert. Rhonheimer spricht für seine Kirche, da zieht er - zeitgemäß - die werktätigen und weltzugewandten Bruderschaften vor. Doch nicht minder bedeutend für die Ausbildung des Westens waren die scholastischen, spekulativen Dominikaner und Franziskaner; die einen als Bewahrer der frühchristlichen platonischen Überlieferung, die andern als ihre aristotelischen Opponenten. Deren Scharmützel betrafen wirklich nur eine hauchdünne Schicht, aber die prägte eben die Bildung der herrschenden Stände. Allein schon, dass es eine Theo-Logie überhaupt geben kann, unterscheidet die christlichen Religionen von allen andern: ein menschliches Wissen von Gott - mit all der Paradoxie, die das mit sich bringt und die min- destens der Islam mit seiner Leugnung menschlicher Wissensfähigkeit einfach aus sich ausscheidet (und die allenfalls bei den auch heute wieder verfolgten Mystikern ein unsicheres Unterkommen hat).
Überhaupt ist es der Umstand, dass die römische Kirche kein Monolith mit einem Big Brother an der Spitze war, sondern selber ein Abbild der vielfach gebrochenen, zersplitterten und verfehdeten Feudalwelt, die eher als en- demischer Bürgerkrieg erscheint denn eine als geregelte Ordnung - der ihr erlaubt hat, die westliche Mentalität bis heute zu prägen. Ein allgemeines Gegeneinander, in dem sich wie in darwinscher Auslese und Anpassung stets ein Lebendiges erhält, das nicht wie in anderen Kulturen immer wieder vom Aussterben bedroht ist. Das war der Humus, aus dem eine bürgerliche Gesellschaft entstehen konnte.
JE
Samstag, 28. Dezember 2019
Eine Kulturgeschichte Italiens.
Der Frevel des Petersdoms
Wie Vielfalt durch Wettbewerb in einer erst spät geeinten Nation entstand: Volker Reinhardt führt in seinem Buch „Die Macht der Schönheit“ auf eindrucksvolle Weise durch tausend Jahre italienische Kulturgeschichte.
Von Andreas Rossmann
Wann beginnt Italien? Im März 1861, als in Turin das Königreich ausgerufen wird? Oder mit dem Risorgimento, in dem ab 1796 patriotische Gruppen unter dem Eindruck der ersten Französischen Republik zusammenfinden? Oder bereits im vierzehnten Jahrhundert, als eine gelehrte Eliteschicht das Konstrukt einer „italianità“ entwi- ckelt, an dem Francesco Petrarca wortführend beteiligt ist? Oder gar in der Antike, in der die nationale Geschichte, das ist im kollektiven Bewusstsein der Italiener heute kaum umstritten, den ersten Gipfel erreicht?
Die Frage ist von grundlegender Bedeutung für Volker Reinhardts titanisches Unterfangen, unter dem Titel „Die Macht der Schönheit“ die „Kulturgeschichte Italiens“ zu erzählen. Der vor allem als Renaissance-Kenner ausgewiesene Autor setzt an bei der überlegenen Zivilisation, als deren Lebensprinzip der Historiker Francesco Guicciardini (1483 bis 1540) die „italianità“ ausmacht: Ihre Triebfeder ist der fruchtbare Wettstreit zwischen Städten und Fürstenhöfen, der aus der territorialen Zersplitterung erwächst und eine einzigartige kulturelle Vielfalt hervorbringt. Das hat Folgen für die Darstellung: Reinhardt überblickt tausend Jahre, die sich aus Episoden und Stationen zum großen Bogen fügen.
Ravenna, Grabmal Theoderichs d. Gr.
Dieses
Kultur-Italien beginnt auf Sizilien, mit der Cappella Palatina im
Normannenpalast von Palermo. Ihr Bauherr, Roger II. (1095 bis 1154),
versucht die Sainte-Chapelle zu übertrumpfen und den Papst zu
provozieren, die Macht- und Prachtdemonstration eines Parvenüs, der
zwischen Orient und Okzident und den verschiedenen ethnischen und
religiösen Gruppen auf der Insel vermittelt. Eine Blütezeit,
multikulturell und mehrsprachig, die der Staufer Friedrich II. (1194 bis 1250) vollendet.
Kulturelle Vielfalt auf den Punkt gebracht
Der Platz der Wunder mit Dom, Baptisterium,
Glockenturm und Friedhof in Pisa, der für die bereits im elften
Jahrhundert gewonnene Unabhängigkeit steht; die Gründung der ersten
Universität 1088 in Bologna, die das römische Recht wiederbelebt; die
1245 begonnene gotische Kirche
Santa Maria Novella in Florenz, mit der die Rivalin Pisa eingeholt und
später übertroffen wird; der Dogenpalast in Venedig als Einladung an die
Bürger und Bollwerk einer Freiheit, die auf Kommunikation und Konsens
beruht: Reinhardt fokussiert auf herausragende Bau- und Kunstwerke,
setzt sie in den historischen Kontext und analysiert sie als
Repräsentationen ihrer Zeit. Vom Konkreten schließt er aufs Allgemeine,
nie benötigt er mehr als zehn Seiten. Das macht die Stofffülle
überschaubar, die Darstellung anschaulich.
Santa Maria Novella; Kruzifix von Giotto
Jeder Ort ist aufgeladen mit Bedeutungen und Botschaften. So nimmt Reinhardt das Fresko von Domenico di Michelino im Dom von Florenz (1465), das Dante Alighieri (1265 bis 1321) mit der „Divina Commedia“ zeigt und, das erlittene Unrecht unterschlagend, den verbannten Dichter in seine Heimatstadt heimholt, zum Ausgangspunkt, um dessen politische Idiosynkrasien und dessen wechselhaftes Nachleben zu erörtern. Als bloße Fördermaßnahme für die römische Wirtschaft dekuvriert er, wie auf dem Fresko in der Lateranbasilika Bonifaz VIII. von der Loggia aus allen, die im Heiligen Jahr 1300 in die Ewige Stadt pilgern, einen Generalablass anbietet. Das „bonum commune“, das die Stadtrepublik über alles stellt, ihre politischen Mechanismen und Methoden, Tugenden und Missachtungen handelt er an Ambrogio Lorenzettis Fresko (1339) im Palazzo Pubblico in Siena ab. So reiht er Fallstudien aneinander, von denen jede für sich stehen kann und die sich doch ergänzen und gegenseitig erhellen.
Santa Maria Novella; Kruzifix von Giotto
Jeder Ort ist aufgeladen mit Bedeutungen und Botschaften. So nimmt Reinhardt das Fresko von Domenico di Michelino im Dom von Florenz (1465), das Dante Alighieri (1265 bis 1321) mit der „Divina Commedia“ zeigt und, das erlittene Unrecht unterschlagend, den verbannten Dichter in seine Heimatstadt heimholt, zum Ausgangspunkt, um dessen politische Idiosynkrasien und dessen wechselhaftes Nachleben zu erörtern. Als bloße Fördermaßnahme für die römische Wirtschaft dekuvriert er, wie auf dem Fresko in der Lateranbasilika Bonifaz VIII. von der Loggia aus allen, die im Heiligen Jahr 1300 in die Ewige Stadt pilgern, einen Generalablass anbietet. Das „bonum commune“, das die Stadtrepublik über alles stellt, ihre politischen Mechanismen und Methoden, Tugenden und Missachtungen handelt er an Ambrogio Lorenzettis Fresko (1339) im Palazzo Pubblico in Siena ab. So reiht er Fallstudien aneinander, von denen jede für sich stehen kann und die sich doch ergänzen und gegenseitig erhellen.
Donatello, David
Der junge
Donatello läutet die Renaissance ein. Sein 1409 für den Dom geschaffener
David wird in der Sala dei Signori aufgestellt, ein auch politischer
Dreh, damit sich Florenz mit ihm gegen den Goliath Mailand
identifiziert, sich Tatkraft gegen Gewalt durchsetzt. Das Verhältnis von
Kunst und Macht untersucht Reinhardt am Beispiel der Medici, die die
Republik zur „cosa nostra“ der Familie aushöhlen. König Alfonso von
Aragon, der 1443 in Neapel Einzug hält, stellt die Eigenschaften der
„italianità“ mustergültig unter Beweis: „Eine Sache der persönlichen
Lebensführung“, zu der „Affektkontrolle, Rationalität,
Sprachbeherrschung, Dignität im Auftreten, Ästhetik des Alltags,
Wertschätzung von Kunst und Wissenschaft“ gehören. Das Triumphportal,
das Alfonso zwischen zwei Türmen des Castelnuovo einfügen lässt, bildet
es ab.
Der Petersdom als verunglückter Neubau?
Wie der Autor zeitgeschichtliche Einordnung
und ideologiekritische Interpretation verschränkt, zeichnet sein Buch
aus. Die Kultur des Feudalismus im Süden hat als pervertierte Anpassung
an die Moderne die organisierte Kriminalität und ein Repertoire von
Unterwerfungsriten hervorgebracht, das von einem Fresko Antoniazzo
Romanos (1491) bis zu Francis Ford Coppolas
Mafia-Saga „Der Pate“ reicht. Reinhardt erklärt, wie die östlich
akzentuierte Bilderzählung von Piero della Francesca ins kleine Arezzo
gelangt ist, lotet die Differenz von großem Palast und kleiner Stadt im
Urbino des Federico da Montefeltro (1422 bis 1482) aus, bestimmt das
Menschenbild von Leonardo da Vinci und stellt den „verunglückten Neubau“
von Sankt Peter als Frevel heraus: In zahlreiche Aspekte wird die
Spitzenposition der Kulturnation aufgefächert, die in Michelangelo
kulminiert. Franz I. von Frankreich, der 1515 Leonardo an seinen Hof
lockt, leitet die Wende ein: Die Schule von Fontainebleau bildet
einheimische Künstler aus, die eigene Wege gehen. Abgeben muss Italien
die Führungsrolle um 1640, mit dem Tod von Galileo Galilei.
Piero della Francesca, Die Königin von Saba bei Salomo, Arezzo
Piero della Francesca, Die Königin von Saba bei Salomo, Arezzo
Die Abfolge der
69 Kapitel lässt ein Mosaik entstehen, das trotz Lücken – die stolze
Seemacht Genua etwa kommt neben Pisa und Venedig nur kurz vor – die
Dynamik von Vielfalt durch Wettbewerb ausweist: mit Palladios Villen im
Veneto und den barocken Residenzen am Tiber, mit Palestrinas
Kirchenmusik und Gesualdos Madrigalen, Tintorettos Gemäldezyklus für die
„Scuola di San Rocco“ und Monteverdis Erfindung der Oper in Venedig,
mit Machiavellis Staatstheorie und Campanellas „Sonnenstaat“. Dem
Niedergang im achtzehnten Jahrhundert stehen das Schloss von Stupinigi
bei Turin oder Vivaldis Klangexperimente und Casanovas Abenteuer in
Venedig entgegen. Die Entdeckungen in Herculaneum und Pompeji
stimulieren die Phantasie, Künstler suchen Aufträge im Ausland, und
während Tiepolo in Würzburg triumphiert, fasst Karl VII. den Plan, in
Caserta sein Versailles zu bauen.
Die gemeinsame
Hochsprache wird zum einigenden Band der Nation. Alessandro Manzoni
zieht 1827 von Mailand nach Florenz, um sein Idiom von Lombardismen zu
reinigen: Die „toskanisierte“ Fassung seiner „Promessi sposi“ (1842)
nimmt die politische Einigung sprachlich vorweg. Giuseppe Verdi
erscheint im neunzehnten Jahrhundert als einsame Lichtgestalt der
italienischen Kultur, auch wenn ihm die Rolle als Herold der Einheit
nachträglich zugeschrieben wird. Zum Selbstverständnis des neuen Italien
gehört die Gleichstellung der Juden, deren symbolische Bestätigung beim
Bau der Synagoge in Turin am hochfliegenden Ehrgeiz des Architekten
Alessandro Antonelli scheitert. Dabei sprengt er den Maßstab sehr viel
prononcierter als das – erst 1911 eingeweihte und als „Schreibmaschine“
verspottete – Einheitsdenkmal, dem in Rom ein Stadtviertel weichen muss.
Palermo, Chiesa della Martorana
Palermo, Chiesa della Martorana
Sizilien ist der Schlüssel zu allem
De Chiricos „pittura metafisica“ und
Marinettis „Futuristisches Manifest“, der Fiat-Firmensitz Lingotto, die
faschistische Architektur zwischen Neoklassizismus eines Piacentini und
der Moderne eines Terragni, der Neorealismo und der Siegeszug der Mode
made in Milano: Im zwanzigsten Jahrhundert weitet sich der
Kulturbegriff, auch der Fußball (und warum er „calcio“ heißt) wird zum
Thema. Die italienische Studienreise endet, wo sie anfängt: auf
Sizilien. Die Chronologie wird dafür sogar umgestellt, denn Fellinis
Film „La dolce vita“ (1960) kam nach Tomasi di Lampedusas Roman „Il
Gattopardo“ (1958) heraus. Prominent plaziert, steht er als „Leittext
italienischer Geschichte und ihrer Bewältigung“, in dem „der
Nationalstaat (...) mit Betrug beginnt“.
Reinhardt zitiert Goethes berühmtes Diktum nicht, aber er bestätigt es: „Italien ohne Sizilien macht gar kein Bild in der Seele, hier ist erst der Schlüssel zu allem.“ Im Epilog holt der Historiker, der sich mit Gegenwartsbezügen zurückhält, zum tagespolitischen Nachschlag aus: „2018 war für Italien das Jahr der Abstürze.“ Doch das Wort „Krise“ hat, so die dialektische Volte, eine umfassendere Bedeutung. Als schicksalhafte Wendung bestimmt sie die Geschichte des „bel paese“: „Die Fähigkeit zum kulturellen Aufbruch nach Krisen ist somit die knappste und aussagekräftigste Definition von ‚italianità‘ überhaupt.“ Eben davon erzählt dieses anregende, faktenreiche und kenntnisdichte Buch – und so sieht, wer es liest, Italien mit von Vorurteilen befreiten Augen.
Reinhardt zitiert Goethes berühmtes Diktum nicht, aber er bestätigt es: „Italien ohne Sizilien macht gar kein Bild in der Seele, hier ist erst der Schlüssel zu allem.“ Im Epilog holt der Historiker, der sich mit Gegenwartsbezügen zurückhält, zum tagespolitischen Nachschlag aus: „2018 war für Italien das Jahr der Abstürze.“ Doch das Wort „Krise“ hat, so die dialektische Volte, eine umfassendere Bedeutung. Als schicksalhafte Wendung bestimmt sie die Geschichte des „bel paese“: „Die Fähigkeit zum kulturellen Aufbruch nach Krisen ist somit die knappste und aussagekräftigste Definition von ‚italianità‘ überhaupt.“ Eben davon erzählt dieses anregende, faktenreiche und kenntnisdichte Buch – und so sieht, wer es liest, Italien mit von Vorurteilen befreiten Augen.
Nota. - Kein Papst, kein Kirchenstaat? Keine Ostgoten, keine Langobarden? Ja, wenn sich alles um Sizilien drehen soll, muss er schon ein bissel was weglassen. Man kann doch aber die Geschichte und auch die Kultur- geschichte Italiens nicht schreiben, ohne von dem stählernen Riegel zu reden, der den europäischen Norden vom teils afrikanischen, teils asiatischen, teils griechisch-antiken Mezziogiorno trennt - bis heute nämlich, und der zur italianità wie die Faust aufs Auge passt; so exakt, dass man argwöhnt, sie sei dafür erfunden worden.
Das allerdings beschädigt nicht, sondern bestätigt die zentrale Aussage: Die pp. Identität dieser Noch-immer-nicht-Nation liegt in dem Gegensatz ihrer Bestandteile, der nicht so heftig sein könnte, wie er ist, wenn die Bestandteile nicht so viele eigene Identitäten hätten entwickeln können.
Eine schöne Lehre für uns Deutsche, aber erst recht für uns Europäer. Welche Rolle die Schönheit dabei spielt, muss ich mir erst noch durch den Kopf gehen lassen.
JE
Es gibt eine Ostzone.
Von den heutigen Bewohnern des Territoriums der ehemaligen SBZ betrachten sich zwei Drittel als Bürger Deutschlands und stimmen bei Wahlen dem entsprechend ab. Das andere Drittel betrachtet sich als Bevölkerung der Ostzone - und schämt sich dessen; darum behauptet es das Gegenteil, und dem entsprechend stimmt es ab.
Zwei Drittel von denen wählen schon AfD, ein Drittel wählt immer noch PDS.
Ja ja, ich weiß. Thüringen ist ein Sonderfall. Da wählt mancher Bundesbürger Ramelow, der ist ein Lutherischer aus dem Westen.
Dienstag, 24. Dezember 2019
Er hat ja so recht.
Was von ihnen übrig ist, sollte sich besser dahin verkrauchen, wo sie über das, was gewesen ist, sowieso nicht reden.
Sonntag, 22. Dezember 2019
Ein tapferer Mann des Juste Milieu.
aus nzz.ch, 9.6.2019
Zuerst den Menschen ändern, dann die Welt
Für Friedrich Schleiermacher ist Revolution ein religiöses Ereignis
Die Französische Revolution betrachtete er kritisch. Und vom Wesen der Freiheit hatte er seine eigene Vorstellung: Friedrich Schleiermachers Denken bewegt sich zwischen Liberalismus und Reaktion.
von Friedrich Seven
Es ist fast unbemerkt vorübergegangen, obwohl es auch ein Jubiläum des deutschen Protestantismus gewesen wäre: Im vergangenen Herbst jährte sich der Geburtstag des Philosophen, Theologen und Predigers Friedrich Schleiermacher (1768–1834) zum 250. Mal. Andreas Arndt, Professor für Philosophie an der theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und damit an der Wirkungsstätte Schleiermachers tätig, liefert nun das Buch zur verpassten Gelegenheit. Ein Buch, das keine einfache Darstellung von Leben und Werk geben will, sondern sich ein höheres Ziel setzt: Friedrich Schleiermacher als Reformator des 18. Jahrhunderts in den Kontext der Französischen Revolution zu stellen.
Der
Fokus ist geschickt gewählt. Einmal mehr werden so die Vorbehalte
deutlich, welche die deutschen Philosophen gegenüber dem
gesellschaftlichen Umsturz im Nachbarland hegten. Wie Kant zeigte
Schleiermacher grosse Sympathie für die Ideen von Freiheit, Gleichheit
und Brüderlichkeit. Doch er dachte in anderen Kategorien: Er wollte
nicht zuerst die Welt verändern und dann den Menschen. Er wollte beim
Menschen anfangen und bei dessen Denken. In Bezug auf die Revolution
blieb Schleiermacher Beobachter. Sein Ziel war es nicht, von der
punktuell möglichen denkerischen Freiheit auf die gewaltsame
gesellschaftliche Befreiung überzugehen.
Religion braucht Freiheit
Politisch
setzte Schleiermacher vielmehr auf Reformen, welche die obrigkeitliche
Verfassung des preussischen Staats nicht tangierten. Dies wohl vor allem
aus Furcht vor dem Terror, der sich mit einem gewaltsamen Umsturz
verbinden würde. Das Beispiel, das Frankreich in dieser Hinsicht gab,
war alles andere als ermutigend. Mit seinem Denken brachte
Schleiermacher dies problemlos in Einklang, denn in seiner
philosophischen Konzeption rangiert die religiöse Vergesellschaftung des
Individuums vor der politischen Teilhabe.
Andreas
Arndt führt den Leser an die Wurzeln des Denkens seines Protagonisten,
und die liegen im Herrnhuter Pietismus. Wohl befreite sich der junge
Prediger bald von dessen intellektueller Enge. Aber die für den
Pietismus charakteristische religiöse Gestimmtheit begleitete ihn ein
Leben lang. In gewissem Sinn blieb Schleiermacher ein «Herrnhuter
höherer Ordnung», dessen Denken nachhaltig vom Pietismus inspiriert war.
Das
zeigt sich auch in der vielleicht einzigen Schrift Schleiermachers, die
noch heute eine grössere Leserschaft findet: die Reden über die
Religion. Da verbindet er das Individuum nicht über Moral und Vernunft
mit der Gesellschaft, sondern über das Gefühl und die Anschauung. Diesem
Konzept liegt die Überzeugung zugrunde, dass im individuellen Fühlen
und Anschauen des Universums ein neben Moral und Vernunft eigenständiger
Zugang zum Weltganzen liege. So löst Schleiermacher die Religion aus
der von der Aufklärung begründeten ethischen und rationalen Zweckbindung
und hält ihr gerade dies zugute.
Fortschritt ohne Konflikte
Mit
seiner Überzeugung, dass sich Religion immer im einzelnen Menschen
manifestieren muss, liegt Schleiermacher ganz auf der Linie der
Reformatoren des 16. Jahrhunderts. Allerdings vermittelt sich für ihn
der soziale Aspekt religiösen Lebens nicht dogmatisch zwischen
Glaubenden, sondern assoziativ zwischen einer Art von religiösen
Virtuosen, die sich zu einer Menschheitskirche vereinigen.
Religion,
so verstanden, kann nur in Freiheit gedeihen. Deshalb brauchen die
Religionsgesellschaften einen Freiraum, der von jeder politischen
Bevormundung und jeder religiös konnotierten Zwecksetzung frei ist. Doch
so grundlegend Freiheit für Schleiermacher ist: Individuelle religiöse
Freiheit entspricht in seinem Denken nicht notwendigerweise auch
politischer Autonomie. Er nimmt vielmehr den Staat dafür in Anspruch,
dem religiösen Individuum und den Religionsgesellschaften Freiheit
einzuräumen – die Freiheit, deren das religiöse Leben bedarf.
Gerade
die Freiheit von jeder Zweckbestimmung, das freie Miteinander der
religiösen Subjekte, liegt Schleiermachers Ansicht nach im Interesse des
Staates, weil in der religiösen Praxis Obrigkeit und Untertanen
gemeinsam unterwegs sind – hin zu einer Utopie, die im religiösen
Erleben bereits vorweggenommen wird. Die Gleichheit in der Religion
bringt den Unterschied zwischen Obrigkeit und Untertanen zum
Verschwinden und überbietet ihn geschichtlich. Damit hat die religiöse
Utopie in Schleiermachers Denken einen Fortschrittsglauben freigesetzt,
in dem Geschichte nicht durch Konflikte vorangebracht wird, wie Andreas
Arndt mehrfach kritisch anmerkt.
Vormoderne Kategorien
Fortschritt
ist für Schleiermacher im Grunde vorrangig eine Entwicklung hin zu
einem Weltganzen, in dem sich in der Anschauung jedes Einzelnen das
Universum selbst begegnet. Insofern denkt Schleiermacher ganz im
Naturbegriff des Idealismus. Auf den Weg zu diesem Ganzen führt
allerdings nicht die politische Emanzipation, sondern die kantische
«Revolution des Denkens», das sich dann in Reformen seinen Weg in die
endliche Realität sucht.
In
diesem Punkt trifft Schleiermachers Universalismus auf die Idee der
Universität als Bildungseinrichtung: Bildung, die das Ganze zum Ziel
hat, soll auch von diesem Ganzen her verstanden werden. Folglich ist sie
immer an den Grundlagen des Wissens orientiert, das sie produziert, und
bedarf für Forschung und Lehre der Freiheit von äusserer Zwecksetzung.
Wie
bei der Religion sieht Schleiermacher auch hier die Obrigkeit in der
Pflicht, den Freiraum zu garantieren, den eine solche Einrichtung
benötigt. Die geistige Freiheit, der Mut, sich seines eigenen Verstandes
zu bedienen, führt also nicht zu einer Selbstbehauptung der
Universität, sondern in einen obrigkeitlich gewährten Frei- und
Schonraum. Recht und Verfassung haben überhaupt in Schleiermachers
Denken weniger eine konstruktive, sondern vielmehr eine deskriptive
Bedeutung. Leitend für den gesellschaftlichen «Konsens» sind Sitte und
Gesinnung.
Genau in
diesen vormodernen Kategorien liegen laut Arndt die Gefahren, in die
Schleiermachers Denken führen kann und auch geführt hat. Zwar schützt
ihn seine universalistische Konzeption davor, sich nationalistisch
vereinnahmen zu lassen. Zugleich aber ist sein Denken manchmal sehr weit
von der gesellschaftlichen und politischen Realität entfernt. So weit,
dass individuelle Freiheit ganz auf der Strecke bleiben kann.
Andreas
Arndt: Die Reformation der Revolution. Friedrich Schleiermacher in
seiner Zeit. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2019. 336 S. Fr. 41.90.
Nota. - Statt Revolution innere Bekehrung. Auf English heißt Bekehrung reform. (Eine Anstalt für Schwererziehbare heißt Reform school.)
JE
JE
Samstag, 21. Dezember 2019
Die Kleine Eiszeit und das Ende des Mittelalters.
aus derStandard.at, 21. Dezember 2019 Brueghel d. Ä., Anbetung der Könige im Schnee
Wie die Mächte des Mittelalters von "ihrem" Klimawandel getroffen wurden
Wiener Historiker untersuchten gesellschaftliche Entwicklungen während der Kleinen Eiszeit
Wien – Wann die sogenannte Kleine Eiszeit begann, darüber
gehen die Meinungen unter Historikern auseinander. Teilweise wird der
Beginn dieser Abkühlung des Weltklimas auf das frühe 13. Jahrhundert
angesetzt, teilweise auch erst auf das 15. Der Wiener Historiker
Johannes Preiser-Kapeller spricht von der "größten klimatischen
Veränderung der letzten 1.000 Jahre vor der derzeitigen Erwärmung", die
sich zwischen 1200 und 1350 in Gang gesetzt habe. Zu Ende gegangen ist
diese Periode erst im 19. Jahrhundert.
Der Befund
Preiser-Kapeller und seine Kollegin Ekaterini Mitsiou vom Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) haben an einem Sammelband mit dem Titel "The Crisis of the 14th Century" mitgearbeitet. Für ihren Beitrag griffen sie auf historische Quellen und naturwissenschaftliche Daten zurück, um Temperaturen und Niederschlagsmengen zu rekonstruieren.
Sie stellten fest, dass sich die Berichte von Zeitgenossen und naturwissenschaftliche Daten aus der Analyse von Baum-Jahresringen oder Tropfsteinen sehr gut decken. "Es kam damals in manchen Regionen zu einer Abkühlung der Durchschnittstemperaturen um bis zu 1,5 Grad Celsius und die Frequenz von drastischen Wetterereignissen in den Berichten nahm entsprechend zu", so Preiser-Kapeller.
Die Folgen und die Folgen der Folgen
Der Klimawandel wirkte sich laut den Forschern regional unterschiedlich aus: "Wir sehen im östlichen Mittelmeerraum ab Mitte des 13. Jahrhunderts vermehrt längere und ausgeprägte Dürreperioden. Auch im Niltal kam es durch Veränderung der Niederschlagsmuster im Quellgebiet des Nils in Ostafrika zu Hungersnöten, weil die Höhe der Nilfluten zu niedrig oder zu stark ausfiel", so Preiser-Kapeller. Auch in Zentralasien wurde es feuchter und kühler. Damit konnten sich dort die Nagetiere stark vermehren, die über Flöhe die Pest übertrugen. Entlang der Handelswege breitete sich die Seuche dann in den 1340er-Jahren in Europa aus.
Machtpolitische Folgen konnten da nicht ausbleiben: So gelang es dem Osmanischen Reich ab 1350, auf Kosten von Byzanz expandieren. "Das byzantinische Reich war eine etablierte Macht und hatte einen entsprechend großen Apparat und damit Eliten, die versorgt werden mussten. Als es dann durch die Pest und die klimatischen Bedingungen zu einem Bevölkerungsrückgang kam, haben diese Eliten weiter versucht, dasselbe Ausmaß an Abgaben aus einer kleiner werdenden Bevölkerung herauszudrücken", sagt Preiser-Kapeller. Das habe zu Unruhen geführt und zum Teil auch zu einer größeren Bereitschaft, sich anderen Mächten anzuschließen.
Der Faktor Flexibilität
"Die Osmanen konnten davon profitieren", so der Historiker. Ganze Dörfer seien übergelaufen, "weil die Osmanen ein besseres Angebot hatten, mit einer geringeren Steuerlast". Dieses relativ neue Staatsgebilde sei noch nicht so stark abhängig von über lange Zeit entwickelten Strukturen und Verfahren gewesen und "konnte sich wohl leichter an die Veränderungen anpassen".
Doch es dauerte gerade einmal rund 250 Jahre, bis der Höhepunkt der Kleinen Eiszeit die Boomzeit des Osmanischen Reichs beendet hat. Wie Preiser-Kapeller im Vorjahr in einer Publikation gezeigt hat, traf nach extremen Kälte- und Dürreperioden "die Osmanen das, was zuvor die Byzantiner getroffen hat: da war das Osmanische Reich eine etablierte Großmacht mit einem entsprechenden Apparat und nicht mehr so flexibel – sie gerieten dadurch in eine schwere Krise", so der Historiker.
Für Preiser-Kapeller ist klar, dass vom Klimawandel ausgelöste lang anhaltende Krisen Gesellschaften verändern. "Sie tun es entweder freiwillig, indem sie sich anpassen, oder unfreiwillig, weil es zu sozialen Unruhen kommt und gesellschaftlichen Umwälzungen eintreten." (APA, red,)
Der Befund
Preiser-Kapeller und seine Kollegin Ekaterini Mitsiou vom Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) haben an einem Sammelband mit dem Titel "The Crisis of the 14th Century" mitgearbeitet. Für ihren Beitrag griffen sie auf historische Quellen und naturwissenschaftliche Daten zurück, um Temperaturen und Niederschlagsmengen zu rekonstruieren.
Sie stellten fest, dass sich die Berichte von Zeitgenossen und naturwissenschaftliche Daten aus der Analyse von Baum-Jahresringen oder Tropfsteinen sehr gut decken. "Es kam damals in manchen Regionen zu einer Abkühlung der Durchschnittstemperaturen um bis zu 1,5 Grad Celsius und die Frequenz von drastischen Wetterereignissen in den Berichten nahm entsprechend zu", so Preiser-Kapeller.
Die Folgen und die Folgen der Folgen
Der Klimawandel wirkte sich laut den Forschern regional unterschiedlich aus: "Wir sehen im östlichen Mittelmeerraum ab Mitte des 13. Jahrhunderts vermehrt längere und ausgeprägte Dürreperioden. Auch im Niltal kam es durch Veränderung der Niederschlagsmuster im Quellgebiet des Nils in Ostafrika zu Hungersnöten, weil die Höhe der Nilfluten zu niedrig oder zu stark ausfiel", so Preiser-Kapeller. Auch in Zentralasien wurde es feuchter und kühler. Damit konnten sich dort die Nagetiere stark vermehren, die über Flöhe die Pest übertrugen. Entlang der Handelswege breitete sich die Seuche dann in den 1340er-Jahren in Europa aus.
Machtpolitische Folgen konnten da nicht ausbleiben: So gelang es dem Osmanischen Reich ab 1350, auf Kosten von Byzanz expandieren. "Das byzantinische Reich war eine etablierte Macht und hatte einen entsprechend großen Apparat und damit Eliten, die versorgt werden mussten. Als es dann durch die Pest und die klimatischen Bedingungen zu einem Bevölkerungsrückgang kam, haben diese Eliten weiter versucht, dasselbe Ausmaß an Abgaben aus einer kleiner werdenden Bevölkerung herauszudrücken", sagt Preiser-Kapeller. Das habe zu Unruhen geführt und zum Teil auch zu einer größeren Bereitschaft, sich anderen Mächten anzuschließen.
Der Faktor Flexibilität
"Die Osmanen konnten davon profitieren", so der Historiker. Ganze Dörfer seien übergelaufen, "weil die Osmanen ein besseres Angebot hatten, mit einer geringeren Steuerlast". Dieses relativ neue Staatsgebilde sei noch nicht so stark abhängig von über lange Zeit entwickelten Strukturen und Verfahren gewesen und "konnte sich wohl leichter an die Veränderungen anpassen".
Doch es dauerte gerade einmal rund 250 Jahre, bis der Höhepunkt der Kleinen Eiszeit die Boomzeit des Osmanischen Reichs beendet hat. Wie Preiser-Kapeller im Vorjahr in einer Publikation gezeigt hat, traf nach extremen Kälte- und Dürreperioden "die Osmanen das, was zuvor die Byzantiner getroffen hat: da war das Osmanische Reich eine etablierte Großmacht mit einem entsprechenden Apparat und nicht mehr so flexibel – sie gerieten dadurch in eine schwere Krise", so der Historiker.
Für Preiser-Kapeller ist klar, dass vom Klimawandel ausgelöste lang anhaltende Krisen Gesellschaften verändern. "Sie tun es entweder freiwillig, indem sie sich anpassen, oder unfreiwillig, weil es zu sozialen Unruhen kommt und gesellschaftlichen Umwälzungen eintreten." (APA, red,)
Dienstag, 17. Dezember 2019
Das Geld in der Vierten Industriellen Revolution.
Geldpolitik in der Vierten Industriellen Revolution
Künstliche Intelligenz, Big Data und maschinelles Lernen verändern Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltig. Aus den drei Industriellen Revolutionen der Vergangenheit lässt sich erahnen, was auf uns zukommt – auch für die Geldpolitik.
von Gerald Braunberger
In einem sehr interessanten Vortrag hat Stephen Poloz, der Gouverneur der Bank of Canada, die drei früheren sowie die in Gang gekommene Vierte Industrielle Revolution auf Muster untersucht. Nicht nur für die Geld- politik, aber auch für sie stellen Phasen starken technischen Wandels eine Herausforderung dar.
Seine Ausführungen weisen weit in die Zukunft und stellen einen willkommenen Kontrapunkt zu der kuriosen Debatte über eine vermeintliche „Zombifizierung“ der Wirtschaft dar, die einige Ökonomen in Deutschland derzeit führen – so, als hätten sie bis heute nicht mitbekommen, wie stark die primär technologisch motivierten Umwälzungsprozesse die Wirtschaft verändern.
Erscheinungsformen der Industriellen Revolutionen
Poloz unterscheidet realwirtschaftliche und finanzwirtschaftliche Begleiterscheinungen Industrieller Revolu- tionen, die natürlich miteinander verbunden sind. Zu den realwirtschaftlichen Effekten zählen:
- Neue Technologien zerstören existierende Berufsbilder und Arbeitsplätze. Das sorgt für Unruhe unter den Menschen, die davon unmittelbar betroffen sind und bei jenen, die sich bedroht fühlen.
- Mit den neuen Technologien entstehen neue Berufsbilder und Arbeitsplätze. Dieser Prozess benötigt allerdings häufig Zeit und ist zu Beginn nicht erkennbar.
- Die neuen Technologien führen längerfristig zu einem deutlichen Anstieg der Produktivität und, ceteris paribus, zu einem zunehmenden Potentialwachstum. Auch dies ist am Anfang einer Industriellen Revolution häufig noch nicht erkennbar.
- Stattdessen profitieren von neuen Technologien zunächst nicht selten nur wenige Unternehmen, die eine hohe Marktmacht erlangen. In dieser Phase ist technischer Fortschritt erkennbar, aber er schlägt sich noch nicht in gesamtwirtschaftlichen Kennziffern nieder, weil sich der Fortschritt erst in der Wirtschaft ausbreiten muss. Es kommt zum sogenannten „Produktivitätsparadoxon.“
Auf die Dauer bewirkt der technologische Fortschritt aber sinkende Preise für viele Güter und Dienstleistungen. Dies drückt die Inflationsrate und kann sogar zu einer Deflation führen.
Das führt uns zu den finanzwirtschaftlichen Effekten:
- Starker technischer Fortschritt sorgt für Euphorie an den Aktienmärkten, an denen die Kurse kräftig steigen. Es entsteht die Gefahr eines finanziellen Exzesses, der zum Börsenkrach führen kann. Dies ist unabhängig von der Geldordnung.
- Eine Deflation steigert die reale Last der Schulden. Das kann nach einem Börsenkrach in einer anschließenden Rezession die Krise verschärfen.
Industrielle Revolutionen
Wirtschaftshistoriker unterscheiden mehrere Industrielle Revolutionen.
Die Erste Industrielle Revolution begann mit der Erfindung der Dampfmaschine und erstreckte sich vom Ende des 18. Jahrhunderts bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Die Mechanisierung veränderte die Welt nachhaltig, hatte aber auch negative Begleiterscheinungen, zum Beispiel Börsencrashs nach 1870 und eine längere Phase der Deflation („Viktorianische Deflation“). Das war in der Zeit der Goldwährung.
Mit der Zweiten Industriellen Revolution, die vom Ende des 19. Jahrhunderts bis etwa zum Jahre 1970 währte, verbinden sich die Elektrifizierung und die industrielle Herstellung von Gütern für die breite Masse wie Kühlschränke und Autos. In dieser Zeit nahmen Produktivität und wirtschaftlicher Wohlstand insgesamt deutlich zu, aber nach dem Börsenkrach von 1929 war eine längere Phase der Rezession und der Deflation zu überwinden. Damals erlangte der mit dem Namen John Maynard Keynes verbundene Gedanke, mit aktiver Geld- und Finanzpolitik gegen Krisen vorzugehen, große Popularität.
Mit der Dritten Revolution, die sich auf die Zeit von der Mitte der siebziger Jahre bis kurz nach der Jahrtausendwende veranschlagen lässt, verbinden sich Begriffe wie Speicherchips, Informationstechnologie sowie die Entstehung globaler Lieferketten in einer sich integrierenden Weltwirtschaft, in der Asien eine zunehmend wichtige Rolle spielt. Zwar kam es um das Jahr 2000 wieder zu einem Boom und einem anschließenden Krach an der Börse, aber eine lange währende und schwere Depression blieb auch nach der Finanzkrise des Jahres 2008 aus. „Die Politik war dieses Mal deutlich besser“, schreibt Poloz. Die Geldpolitik und die Finanzpolitik (einschließlich der sozialen Netze) hätten dieses Mal für eine raschere Erholung aus der Krise gesorgt.
Die lange Zeit expansive Geldpolitik hält Poloz so lange für richtig, wie die Inflationsrate niedrig bleibt und die Geldpolitik ein auf steigender Produktivität gestütztes Wirtschaftswachstum finanziert. Das ist die Gegenthese zur Ansicht der „Zombifizierungs“-Adepten: Großzügige Geldversorgung erleichtert Schumpeters schöpferische Zerstörung. (Wer Schumpeter gelesen hat, weiß, dass auch bei ihm monetäre Expansion den schöpferischen Zerstörungsprozess begleitet.)
Doch muss die nach Ansicht Poloz‘ Geldpolitik aufpassen, nicht zu lange zu expansiv zu bleiben: „Als der Technologieschock reif wurde und die Geldpolitik locker blieb, stellten sich allerdings unvorhergesehene Nebenwirkungen ein: Finanzielle Ungleichgewichte bauten sich auf, die zur globalen Finanzkrise und zur Rezession führten. Im Ergebnis wurden regulatorische und geldpolitische Rahmenwerke entwickelt, um solche Risiken künftig im Griff zu behalten. Wiederum lernen Politiker aus Fehlern der Vergangenheit.“
In die Vierte Industrielle Revolution
Was heißt dies für die Zukunft? „In der Vierten Industriellen Revolution geht es um die Digitalisierung der Weltwirtschaft“, schreibt Poloz. „Im Kern handelt es sich um maschinelles Lernen, Big Data und um Künstliche Intelligenz, die alle das Potential besitzen, die Leistungsfähigkeit in allen Wirtschaftszweigen zu steigern.“
Für die Geldpolitik bedeutet dies: „Die besonders aus der Dritten Industriellen Revolution gewonnenen Lehren deuten auf eine Notwendigkeit, durch eine lockere Geldpolitik das angebotsgetriebene Wachstum der Wirtschaft zu unterstützen, indem Inflationsziele die Geldpolitik verankern und makroprudentielle Instrumente den Aufbau von finanziellen Ungleichgewichten in Schach halten.“ Mit anderen Worten: Angesichts künftiger nachhaltiger Produktionszuwächse aus dem technischen Fortschritt wäre die aktuelle Geldpolitik gar nicht so falsch.
In der Praxis ist es allerdings nicht so einfach, wie Poloz einräumt. Denn von den deutlichen Zuwächsen der Produktivität ist noch nichts zu sehen, wohl aber von den Schwierigkeiten, die am Beginn einer Industriellen Revolution stehen: Viele Menschen sehen ihre Jobs bedroht, sie misstrauen dem Wandel und die frühen Gewinner aus dem Einsatz neuer Technologien bauen starke Marktpositionen auf, die Wettbewerbshüter auf den Plan rufen müssten. (Wachsende Marktmacht in den Vereinigten Staaten ist das Thema eines ausgezeichneten Buchs des Ökonomen Thomas Phillipon: „The Great Reversal“.)
Und so lange das so ist, gerät expansive Geldpolitik unter Rechtfertigungszwang: „Versicherungen, dass eine durch technische Veränderungen getriebenes Wirtschaftswachstum disinflationär wirkt, so dass die Zinsen unverändert bleiben können oder gar sinken können, wird man erst lange nach dem Eintritt des höheren Wirtschaftswachstums nachweisen können.“ Geldpolitik findet in einer solchen Situation in einem durch hohes Unsicherheit geprägten Umfeld statt, weil auch Zentralbanken Schwierigkeiten haben, auf technologischen Revolutionen beruhende Veränderungen der Wirtschaft richtig einzuschätzen – nicht zuletzt, weil die Messung von Produktivitätsänderungen schwierig ist.
Mehr zum Produktivitätsparadoxon
Diese Schwierigkeiten thematisiert ausführlich das aktuelle Jahresgutachten des deutschen Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage. Darin heißt es: „Der weltweite Rückgang des Produktivi- tätswachstums scheint im Widerspruch zu der Hoffnung zu stehen, die in die produktivitätssteigernden Wirkungen der zunehmenden Computerisierung sowie die Entwicklung neuer Anwendungen der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), wie Cloud Computing, Maschinelles Lernen oder Künstliche Intelligenz, gesetzt wird. Zwar waren IKT-intensive Industrien für die zeitweise Beschleunigung des Produktivitätswachstums in den USA im Zeitraum von 1995 bis 2005 verantwortlich. Angesichts des weiteren Fortschritts in den IKT über die vergangenen Jahre erscheint die derzeitige schwache Entwicklung allerdings als Produktivitätsparadoxon.“
Als mögliche Ursachen für das Paradoxon werden in dem Gutachten genannt:
- Adaptionsverzögerungen: Die Ausbreitung von Innovationen in der Wirtschaft kann sich verzögern, wenn sie Humankapitalbildung oder veränderte betriebliche Organisationen voraussetzt. „Beispielsweise dauerte es über 40 Jahre ab der Erfindung des elektrischen Antriebs, bis 25 Prozent der Leistung in amerikanischen Fabriken elektrisch erzeugt wurden und sich dies in höheren Produktivitätsgewinnen zeigte.“
- Eine Überschätzung des Innovationspotentials. Vielleicht ist mit neuen Informationstechnologien ein geringeres Wachstumspotential für die Produktivität verbunden als erwartet.
- Messprobleme: Möglicherweise erfassen die offiziellen Statistiken nur einen Teil der mit der Vierten Industriellen Revolution verbundenen Wandlungsprozesse.
Nota. - Von Geldpolitik verstehe ich nichts, von Wirtschaftspolitik kaum mehr. Aber ich habe mich lange mit der Kritik der Politischen Ökonomie beschäftigt, die eine Geschichts- und gesellschaftswissenschaftliche Dis- ziplin ist. Wer unter welchen Bedingungen mit welchen Tricks den besten Schnitt macht, spielt dort gar keine Rolle, nicht einmal die Frage, wie alle am besten versorgt werden Könnten. Sie untersucht die Regeln, nach denen sich unter gegebenen gesellschaftlichen Vorausssetzungen die Weltwirtschaft entwickeln muss, und die Hindernisse, auf die sie stößt.
Ihr Erklärungsgrund ist - wie für die Klassische Politische Ökonomie, die sie kritisiert - das Wertgesetz; dass nämlich im statistischen Längs- und Querschnitt die Wirtschaftsgüter gegen einander nach dem Maß der zu ihrer Produktion gesellschaftlich notwendigen Arbeit getauscht werden. Bestimmender Grund des wirschaftlichen Geschehens ist daher die Verfügung über die erforderliche Arbeitskraft. Sie regelt erstens die Produktion; sie entscheidet aber zugleich über die Verteilung des Arbeitsprodukts unter die Produzenten.
Das setzt freilich voraus, dass erstens die für den Lebensunterhalt der Gesellschaft erforderlichen Güter typi- scherweise knapp sind; und dass sie zweitens grundsätzlich durch Arbeit vermehrbar sind.
Was aber hält das System des Wirtschaftens in Bewegung? Es ist natürlich dies, dass ein Teil der Wirtschafts- subjekte aus diesem System einen Gewinn zieht. Und der entsteht dadurch, dass es ein Wirtschaftsgut gibt, für das mehr eingenommen wird, als ausgegeben wurde, Und das ist - die Arbeit selbst. Sie kostet das, was nötig war, um die Arbeitskraft instand zu setzen, die (vom Markt) erforderte Leistung zu erbringen. Die erbrachte Leistung selber ist dagegen mehr wert, als die Herstellung der Arbeitskraft gekostet hat. Die Arbeitskraft ist produktiv, sofern sie verausgabt werden kann. Ob oder ob nicht, hängt freilich von spezischen Bedingungen ab.
Indessen geht in die zu veranschlagenden Kosten nicht nur der Preis ein, der für die in diesem Moment gege- bene Arbeitskraft zu zahlen ist. Ein gehen auch die Kosten, die die Herstellung der Arbeitsinstrumente verur- sacht hat, die die aktuelle Produktivität der lebendigen Arbeitskräfte möglich macht. Mit andern Worten, die Kosten, die im gegebenen Maschinenpark vergegenständlicht sind.
Eine solche Betrachtungsweise hat solange einen Sinn, wie die Kosten der lebendigen Arbeitskraft und der Wert der im Arbeitsinstrument geronnenen Arbeit früherer Generationen kommensurabel bleiben. Vom Einzelen zum Doppelten, zum Zehnfachen, zum Tausendfachen...
Sobald der Wert der lebendigen Arbeit im Vergleich zur in der Machinerie akkumulierten Arbeit zu einer ver- schwindenden Größe wird, ist eine Relation mathematisch immer noch möglich; aber sie hat in der wirtschaft- lichen Wirklichkeit keinen Sinn mehr.
Und dies, während zugleich Güter knapp werden, die lebenswichtig, aber nicht durch Arbeit vermehrbar sind. Einen ökonomischen Wert haben sie nicht. Wieviel sie gelten sollen, muss politisch bestimmt werden.
*
Der Wert der Produkte - der neugeschaffenen wie der in der Maschinerie konservierten - war gleich dem Wert der in ihnen vergegenständlichten Arbeit. Zu diesem Wert waren sie jeweils austauschbar. Es war ihr Tausch- wert. In der Wirklichkeit der bürgerlichen Produktionsweise ist der Tauschwert dargestellt im Geld. Tauschwert=
=Geld ist Verfügung über Arbeitskraft.
Wir gehen in eine Entwicklung, wo der Wert der lebendigen Arbeit gegenüber dem Wert ihres Produkts ver- schwindet und im wirklichen Prozess keine zu beachtende Größe mehr darstellt. Im Wert der ausgetauschten Produkte ist nicht länger 'Mehrwert enthalten', sondern sie sind Mehrwert an sich - mit einer zu vernachlässi- genden Verunreinigung durch Arbeits wert.
Doch Gewinne werden immer noch gemacht, womöglich größere denn je. Es wird ja immer noch mit Geld gezahlt. Was aber ist Geld, wenn es nicht länger Tauschwert ist? Nicht länger über lebendige, sondern immer mehr über in der Maschine vergegenständlichte tote Arbeitskraft verfügt? Und wie kommt es, dass die einen mehr Geld einstreichen und die andern weniger?
Die Kritik der Politischen Ökonomie hatte das Mysterium des Geldes gelichtet. Es hat sich gerächt und ist voll wieder da.
JE
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