aus nzz.ch, 9.6.2019
Zuerst den Menschen ändern, dann die Welt
Für Friedrich Schleiermacher ist Revolution ein religiöses Ereignis
Die Französische Revolution betrachtete er kritisch. Und vom Wesen der Freiheit hatte er seine eigene Vorstellung: Friedrich Schleiermachers Denken bewegt sich zwischen Liberalismus und Reaktion.
Es ist fast unbemerkt vorübergegangen, obwohl es auch ein Jubiläum des deutschen Protestantismus gewesen wäre: Im vergangenen Herbst jährte sich der Geburtstag des Philosophen, Theologen und Predigers Friedrich Schleiermacher (1768–1834) zum 250. Mal. Andreas Arndt, Professor für Philosophie an der theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und damit an der Wirkungsstätte Schleiermachers tätig, liefert nun das Buch zur verpassten Gelegenheit. Ein Buch, das keine einfache Darstellung von Leben und Werk geben will, sondern sich ein höheres Ziel setzt: Friedrich Schleiermacher als Reformator des 18. Jahrhunderts in den Kontext der Französischen Revolution zu stellen.
Der
Fokus ist geschickt gewählt. Einmal mehr werden so die Vorbehalte
deutlich, welche die deutschen Philosophen gegenüber dem
gesellschaftlichen Umsturz im Nachbarland hegten. Wie Kant zeigte
Schleiermacher grosse Sympathie für die Ideen von Freiheit, Gleichheit
und Brüderlichkeit. Doch er dachte in anderen Kategorien: Er wollte
nicht zuerst die Welt verändern und dann den Menschen. Er wollte beim
Menschen anfangen und bei dessen Denken. In Bezug auf die Revolution
blieb Schleiermacher Beobachter. Sein Ziel war es nicht, von der
punktuell möglichen denkerischen Freiheit auf die gewaltsame
gesellschaftliche Befreiung überzugehen.
Religion braucht Freiheit
Politisch
setzte Schleiermacher vielmehr auf Reformen, welche die obrigkeitliche
Verfassung des preussischen Staats nicht tangierten. Dies wohl vor allem
aus Furcht vor dem Terror, der sich mit einem gewaltsamen Umsturz
verbinden würde. Das Beispiel, das Frankreich in dieser Hinsicht gab,
war alles andere als ermutigend. Mit seinem Denken brachte
Schleiermacher dies problemlos in Einklang, denn in seiner
philosophischen Konzeption rangiert die religiöse Vergesellschaftung des
Individuums vor der politischen Teilhabe.
Andreas
Arndt führt den Leser an die Wurzeln des Denkens seines Protagonisten,
und die liegen im Herrnhuter Pietismus. Wohl befreite sich der junge
Prediger bald von dessen intellektueller Enge. Aber die für den
Pietismus charakteristische religiöse Gestimmtheit begleitete ihn ein
Leben lang. In gewissem Sinn blieb Schleiermacher ein «Herrnhuter
höherer Ordnung», dessen Denken nachhaltig vom Pietismus inspiriert war.
Das
zeigt sich auch in der vielleicht einzigen Schrift Schleiermachers, die
noch heute eine grössere Leserschaft findet: die Reden über die
Religion. Da verbindet er das Individuum nicht über Moral und Vernunft
mit der Gesellschaft, sondern über das Gefühl und die Anschauung. Diesem
Konzept liegt die Überzeugung zugrunde, dass im individuellen Fühlen
und Anschauen des Universums ein neben Moral und Vernunft eigenständiger
Zugang zum Weltganzen liege. So löst Schleiermacher die Religion aus
der von der Aufklärung begründeten ethischen und rationalen Zweckbindung
und hält ihr gerade dies zugute.
Fortschritt ohne Konflikte
Mit
seiner Überzeugung, dass sich Religion immer im einzelnen Menschen
manifestieren muss, liegt Schleiermacher ganz auf der Linie der
Reformatoren des 16. Jahrhunderts. Allerdings vermittelt sich für ihn
der soziale Aspekt religiösen Lebens nicht dogmatisch zwischen
Glaubenden, sondern assoziativ zwischen einer Art von religiösen
Virtuosen, die sich zu einer Menschheitskirche vereinigen.
Religion,
so verstanden, kann nur in Freiheit gedeihen. Deshalb brauchen die
Religionsgesellschaften einen Freiraum, der von jeder politischen
Bevormundung und jeder religiös konnotierten Zwecksetzung frei ist. Doch
so grundlegend Freiheit für Schleiermacher ist: Individuelle religiöse
Freiheit entspricht in seinem Denken nicht notwendigerweise auch
politischer Autonomie. Er nimmt vielmehr den Staat dafür in Anspruch,
dem religiösen Individuum und den Religionsgesellschaften Freiheit
einzuräumen – die Freiheit, deren das religiöse Leben bedarf.
Gerade
die Freiheit von jeder Zweckbestimmung, das freie Miteinander der
religiösen Subjekte, liegt Schleiermachers Ansicht nach im Interesse des
Staates, weil in der religiösen Praxis Obrigkeit und Untertanen
gemeinsam unterwegs sind – hin zu einer Utopie, die im religiösen
Erleben bereits vorweggenommen wird. Die Gleichheit in der Religion
bringt den Unterschied zwischen Obrigkeit und Untertanen zum
Verschwinden und überbietet ihn geschichtlich. Damit hat die religiöse
Utopie in Schleiermachers Denken einen Fortschrittsglauben freigesetzt,
in dem Geschichte nicht durch Konflikte vorangebracht wird, wie Andreas
Arndt mehrfach kritisch anmerkt.
Vormoderne Kategorien
Fortschritt
ist für Schleiermacher im Grunde vorrangig eine Entwicklung hin zu
einem Weltganzen, in dem sich in der Anschauung jedes Einzelnen das
Universum selbst begegnet. Insofern denkt Schleiermacher ganz im
Naturbegriff des Idealismus. Auf den Weg zu diesem Ganzen führt
allerdings nicht die politische Emanzipation, sondern die kantische
«Revolution des Denkens», das sich dann in Reformen seinen Weg in die
endliche Realität sucht.
In
diesem Punkt trifft Schleiermachers Universalismus auf die Idee der
Universität als Bildungseinrichtung: Bildung, die das Ganze zum Ziel
hat, soll auch von diesem Ganzen her verstanden werden. Folglich ist sie
immer an den Grundlagen des Wissens orientiert, das sie produziert, und
bedarf für Forschung und Lehre der Freiheit von äusserer Zwecksetzung.
Wie
bei der Religion sieht Schleiermacher auch hier die Obrigkeit in der
Pflicht, den Freiraum zu garantieren, den eine solche Einrichtung
benötigt. Die geistige Freiheit, der Mut, sich seines eigenen Verstandes
zu bedienen, führt also nicht zu einer Selbstbehauptung der
Universität, sondern in einen obrigkeitlich gewährten Frei- und
Schonraum. Recht und Verfassung haben überhaupt in Schleiermachers
Denken weniger eine konstruktive, sondern vielmehr eine deskriptive
Bedeutung. Leitend für den gesellschaftlichen «Konsens» sind Sitte und
Gesinnung.
Genau in
diesen vormodernen Kategorien liegen laut Arndt die Gefahren, in die
Schleiermachers Denken führen kann und auch geführt hat. Zwar schützt
ihn seine universalistische Konzeption davor, sich nationalistisch
vereinnahmen zu lassen. Zugleich aber ist sein Denken manchmal sehr weit
von der gesellschaftlichen und politischen Realität entfernt. So weit,
dass individuelle Freiheit ganz auf der Strecke bleiben kann.
Andreas
Arndt: Die Reformation der Revolution. Friedrich Schleiermacher in
seiner Zeit. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2019. 336 S. Fr. 41.90.
Nota. - Statt Revolution innere Bekehrung. Auf English heißt Bekehrung reform. (Eine Anstalt für Schwererziehbare heißt Reform school.)
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