Sonntag, 22. Dezember 2019

Ein tapferer Mann des Juste Milieu.


aus nzz.ch, 9.6.2019

Zuerst den Menschen ändern, dann die Welt
Für Friedrich Schleiermacher ist Revolution ein religiöses Ereignis 
Die Französische Revolution betrachtete er kritisch. Und vom Wesen der Freiheit hatte er seine eigene Vorstellung: Friedrich Schleiermachers Denken bewegt sich zwischen Liberalismus und Reaktion.

von Friedrich Seven 

Es ist fast unbemerkt vorübergegangen, obwohl es auch ein Jubiläum des deutschen Protestantismus gewesen wäre: Im vergangenen Herbst jährte sich der Geburtstag des Philosophen, Theologen und Predigers Friedrich Schleiermacher (1768–1834) zum 250. Mal. Andreas Arndt, Professor für Philosophie an der theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und damit an der Wirkungsstätte Schleiermachers tätig, liefert nun das Buch zur verpassten Gelegenheit. Ein Buch, das keine einfache Darstellung von Leben und Werk geben will, sondern sich ein höheres Ziel setzt: Friedrich Schleiermacher als Reformator des 18. Jahrhunderts in den Kontext der Französischen Revolution zu stellen.

Der Fokus ist geschickt gewählt. Einmal mehr werden so die Vorbehalte deutlich, welche die deutschen Philosophen gegenüber dem gesellschaftlichen Umsturz im Nachbarland hegten. Wie Kant zeigte Schleiermacher grosse Sympathie für die Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Doch er dachte in anderen Kategorien: Er wollte nicht zuerst die Welt verändern und dann den Menschen. Er wollte beim Menschen anfangen und bei dessen Denken. In Bezug auf die Revolution blieb Schleiermacher Beobachter. Sein Ziel war es nicht, von der punktuell möglichen denkerischen Freiheit auf die gewaltsame gesellschaftliche Befreiung überzugehen. 

Religion braucht Freiheit

Politisch setzte Schleiermacher vielmehr auf Reformen, welche die obrigkeitliche Verfassung des preussischen Staats nicht tangierten. Dies wohl vor allem aus Furcht vor dem Terror, der sich mit einem gewaltsamen Umsturz verbinden würde. Das Beispiel, das Frankreich in dieser Hinsicht gab, war alles andere als ermutigend. Mit seinem Denken brachte Schleiermacher dies problemlos in Einklang, denn in seiner philosophischen Konzeption rangiert die religiöse Vergesellschaftung des Individuums vor der politischen Teilhabe.

Andreas Arndt führt den Leser an die Wurzeln des Denkens seines Protagonisten, und die liegen im Herrnhuter Pietismus. Wohl befreite sich der junge Prediger bald von dessen intellektueller Enge. Aber die für den Pietismus charakteristische religiöse Gestimmtheit begleitete ihn ein Leben lang. In gewissem Sinn blieb Schleiermacher ein «Herrnhuter höherer Ordnung», dessen Denken nachhaltig vom Pietismus inspiriert war.

Das zeigt sich auch in der vielleicht einzigen Schrift Schleiermachers, die noch heute eine grössere Leserschaft findet: die Reden über die Religion. Da verbindet er das Individuum nicht über Moral und Vernunft mit der Gesellschaft, sondern über das Gefühl und die Anschauung. Diesem Konzept liegt die Überzeugung zugrunde, dass im individuellen Fühlen und Anschauen des Universums ein neben Moral und Vernunft eigenständiger Zugang zum Weltganzen liege. So löst Schleiermacher die Religion aus der von der Aufklärung begründeten ethischen und rationalen Zweckbindung und hält ihr gerade dies zugute. 

Fortschritt ohne Konflikte

Mit seiner Überzeugung, dass sich Religion immer im einzelnen Menschen manifestieren muss, liegt Schleiermacher ganz auf der Linie der Reformatoren des 16. Jahrhunderts. Allerdings vermittelt sich für ihn der soziale Aspekt religiösen Lebens nicht dogmatisch zwischen Glaubenden, sondern assoziativ zwischen einer Art von religiösen Virtuosen, die sich zu einer Menschheitskirche vereinigen.

Religion, so verstanden, kann nur in Freiheit gedeihen. Deshalb brauchen die Religionsgesellschaften einen Freiraum, der von jeder politischen Bevormundung und jeder religiös konnotierten Zwecksetzung frei ist. Doch so grundlegend Freiheit für Schleiermacher ist: Individuelle religiöse Freiheit entspricht in seinem Denken nicht notwendigerweise auch politischer Autonomie. Er nimmt vielmehr den Staat dafür in Anspruch, dem religiösen Individuum und den Religionsgesellschaften Freiheit einzuräumen – die Freiheit, deren das religiöse Leben bedarf.

Gerade die Freiheit von jeder Zweckbestimmung, das freie Miteinander der religiösen Subjekte, liegt Schleiermachers Ansicht nach im Interesse des Staates, weil in der religiösen Praxis Obrigkeit und Untertanen gemeinsam unterwegs sind – hin zu einer Utopie, die im religiösen Erleben bereits vorweggenommen wird. Die Gleichheit in der Religion bringt den Unterschied zwischen Obrigkeit und Untertanen zum Verschwinden und überbietet ihn geschichtlich. Damit hat die religiöse Utopie in Schleiermachers Denken einen Fortschrittsglauben freigesetzt, in dem Geschichte nicht durch Konflikte vorangebracht wird, wie Andreas Arndt mehrfach kritisch anmerkt. 

Vormoderne Kategorien

Fortschritt ist für Schleiermacher im Grunde vorrangig eine Entwicklung hin zu einem Weltganzen, in dem sich in der Anschauung jedes Einzelnen das Universum selbst begegnet. Insofern denkt Schleiermacher ganz im Naturbegriff des Idealismus. Auf den Weg zu diesem Ganzen führt allerdings nicht die politische Emanzipation, sondern die kantische «Revolution des Denkens», das sich dann in Reformen seinen Weg in die endliche Realität sucht.

In diesem Punkt trifft Schleiermachers Universalismus auf die Idee der Universität als Bildungseinrichtung: Bildung, die das Ganze zum Ziel hat, soll auch von diesem Ganzen her verstanden werden. Folglich ist sie immer an den Grundlagen des Wissens orientiert, das sie produziert, und bedarf für Forschung und Lehre der Freiheit von äusserer Zwecksetzung.

Wie bei der Religion sieht Schleiermacher auch hier die Obrigkeit in der Pflicht, den Freiraum zu garantieren, den eine solche Einrichtung benötigt. Die geistige Freiheit, der Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, führt also nicht zu einer Selbstbehauptung der Universität, sondern in einen obrigkeitlich gewährten Frei- und Schonraum. Recht und Verfassung haben überhaupt in Schleiermachers Denken weniger eine konstruktive, sondern vielmehr eine deskriptive Bedeutung. Leitend für den gesellschaftlichen «Konsens» sind Sitte und Gesinnung.

Genau in diesen vormodernen Kategorien liegen laut Arndt die Gefahren, in die Schleiermachers Denken führen kann und auch geführt hat. Zwar schützt ihn seine universalistische Konzeption davor, sich nationalistisch vereinnahmen zu lassen. Zugleich aber ist sein Denken manchmal sehr weit von der gesellschaftlichen und politischen Realität entfernt. So weit, dass individuelle Freiheit ganz auf der Strecke bleiben kann.

Andreas Arndt: Die Reformation der Revolution. Friedrich Schleiermacher in seiner Zeit. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2019. 336 S. Fr. 41.90.


Nota. - Statt Revolution innere Bekehrung. Auf English heißt Bekehrung reform. (Eine Anstalt für Schwererziehbare heißt Reform school.)
JE

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