Samstag, 28. Dezember 2019

Eine Kulturgeschichte Italiens.

aus FAZ.NET,

Der Frevel des Petersdoms
Wie Vielfalt durch Wettbewerb in einer erst spät geeinten Nation entstand: Volker Reinhardt führt in seinem Buch „Die Macht der Schönheit“ auf eindrucksvolle Weise durch tausend Jahre italienische Kulturgeschichte. 

Von Andreas Rossmann

Wann beginnt Italien? Im März 1861, als in Turin das Königreich ausgerufen wird? Oder mit dem Risorgimento, in dem ab 1796 patriotische Gruppen unter dem Eindruck der ersten Französischen Republik zusammenfinden? Oder bereits im vierzehnten Jahrhundert, als eine gelehrte Eliteschicht das Konstrukt einer „italianità“ entwi- ckelt, an dem Francesco Petrarca wortführend beteiligt ist? Oder gar in der Antike, in der die nationale Geschichte, das ist im kollektiven Bewusstsein der Italiener heute kaum umstritten, den ersten Gipfel erreicht?

Die Frage ist von grundlegender Bedeutung für Volker Reinhardts titanisches Unterfangen, unter dem Titel „Die Macht der Schönheit“ die „Kulturgeschichte Italiens“ zu erzählen. Der vor allem als Renaissance-Kenner ausgewiesene Autor setzt an bei der überlegenen Zivilisation, als deren Lebensprinzip der Historiker Francesco Guicciardini (1483 bis 1540) die „italianità“ ausmacht: Ihre Triebfeder ist der fruchtbare Wettstreit zwischen Städten und Fürstenhöfen, der aus der territorialen Zersplitterung erwächst und eine einzigartige kulturelle Vielfalt hervorbringt. Das hat Folgen für die Darstellung: Reinhardt überblickt tausend Jahre, die sich aus Episoden und Stationen zum großen Bogen fügen.

Ravenna, Grabmal Theoderichs d. Gr.

Dieses Kultur-Italien beginnt auf Sizilien, mit der Cappella Palatina im Normannenpalast von Palermo. Ihr Bauherr, Roger II. (1095 bis 1154), versucht die Sainte-Chapelle zu übertrumpfen und den Papst zu provozieren, die Macht- und Prachtdemonstration eines Parvenüs, der zwischen Orient und Okzident und den verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen auf der Insel vermittelt. Eine Blütezeit, multikulturell und mehrsprachig, die der Staufer Friedrich II. (1194 bis 1250) vollendet.

Kulturelle Vielfalt auf den Punkt gebracht

Der Platz der Wunder mit Dom, Baptisterium, Glockenturm und Friedhof in Pisa, der für die bereits im elften Jahrhundert gewonnene Unabhängigkeit steht; die Gründung der ersten Universität 1088 in Bologna, die das römische Recht wiederbelebt; die 1245 begonnene gotische Kirche Santa Maria Novella in Florenz, mit der die Rivalin Pisa eingeholt und später übertroffen wird; der Dogenpalast in Venedig als Einladung an die Bürger und Bollwerk einer Freiheit, die auf Kommunikation und Konsens beruht: Reinhardt fokussiert auf herausragende Bau- und Kunstwerke, setzt sie in den historischen Kontext und analysiert sie als Repräsentationen ihrer Zeit. Vom Konkreten schließt er aufs Allgemeine, nie benötigt er mehr als zehn Seiten. Das macht die Stofffülle überschaubar, die Darstellung anschaulich.

 Santa Maria Novella; Kruzifix von Giotto 

Jeder Ort ist aufgeladen mit Bedeutungen und Botschaften. So nimmt Reinhardt das Fresko von Domenico di Michelino im Dom von Florenz (1465), das Dante Alighieri (1265 bis 1321) mit der „Divina Commedia“ zeigt und, das erlittene Unrecht unterschlagend, den verbannten Dichter in seine Heimatstadt heimholt, zum Ausgangspunkt, um dessen politische Idiosynkrasien und dessen wechselhaftes Nachleben zu erörtern. Als bloße Fördermaßnahme für die römische Wirtschaft dekuvriert er, wie auf dem Fresko in der Lateranbasilika Bonifaz VIII. von der Loggia aus allen, die im Heiligen Jahr 1300 in die Ewige Stadt pilgern, einen Generalablass anbietet. Das „bonum commune“, das die Stadtrepublik über alles stellt, ihre politischen Mechanismen und Methoden, Tugenden und Missachtungen handelt er an Ambrogio Lorenzettis Fresko (1339) im Palazzo Pubblico in Siena ab. So reiht er Fallstudien aneinander, von denen jede für sich stehen kann und die sich doch ergänzen und gegenseitig erhellen.

Donatello, David

Der junge Donatello läutet die Renaissance ein. Sein 1409 für den Dom geschaffener David wird in der Sala dei Signori aufgestellt, ein auch politischer Dreh, damit sich Florenz mit ihm gegen den Goliath Mailand identifiziert, sich Tatkraft gegen Gewalt durchsetzt. Das Verhältnis von Kunst und Macht untersucht Reinhardt am Beispiel der Medici, die die Republik zur „cosa nostra“ der Familie aushöhlen. König Alfonso von Aragon, der 1443 in Neapel Einzug hält, stellt die Eigenschaften der „italianità“ mustergültig unter Beweis: „Eine Sache der persönlichen Lebensführung“, zu der „Affektkontrolle, Rationalität, Sprachbeherrschung, Dignität im Auftreten, Ästhetik des Alltags, Wertschätzung von Kunst und Wissenschaft“ gehören. Das Triumphportal, das Alfonso zwischen zwei Türmen des Castelnuovo einfügen lässt, bildet es ab.

Der Petersdom als verunglückter Neubau?

Wie der Autor zeitgeschichtliche Einordnung und ideologiekritische Interpretation verschränkt, zeichnet sein Buch aus. Die Kultur des Feudalismus im Süden hat als pervertierte Anpassung an die Moderne die organisierte Kriminalität und ein Repertoire von Unterwerfungsriten hervorgebracht, das von einem Fresko Antoniazzo Romanos (1491) bis zu Francis Ford Coppolas Mafia-Saga „Der Pate“ reicht. Reinhardt erklärt, wie die östlich akzentuierte Bilderzählung von Piero della Francesca ins kleine Arezzo gelangt ist, lotet die Differenz von großem Palast und kleiner Stadt im Urbino des Federico da Montefeltro (1422 bis 1482) aus, bestimmt das Menschenbild von Leonardo da Vinci und stellt den „verunglückten Neubau“ von Sankt Peter als Frevel heraus: In zahlreiche Aspekte wird die Spitzenposition der Kulturnation aufgefächert, die in Michelangelo kulminiert. Franz I. von Frankreich, der 1515 Leonardo an seinen Hof lockt, leitet die Wende ein: Die Schule von Fontainebleau bildet einheimische Künstler aus, die eigene Wege gehen. Abgeben muss Italien die Führungsrolle um 1640, mit dem Tod von Galileo Galilei.

Piero della Francesca, Die Königin von Saba bei Salomo, Arezzo 

Die Abfolge der 69 Kapitel lässt ein Mosaik entstehen, das trotz Lücken – die stolze Seemacht Genua etwa kommt neben Pisa und Venedig nur kurz vor – die Dynamik von Vielfalt durch Wettbewerb ausweist: mit Palladios Villen im Veneto und den barocken Residenzen am Tiber, mit Palestrinas Kirchenmusik und Gesualdos Madrigalen, Tintorettos Gemäldezyklus für die „Scuola di San Rocco“ und Monteverdis Erfindung der Oper in Venedig, mit Machiavellis Staatstheorie und Campanellas „Sonnenstaat“. Dem Niedergang im achtzehnten Jahrhundert stehen das Schloss von Stupinigi bei Turin oder Vivaldis Klangexperimente und Casanovas Abenteuer in Venedig entgegen. Die Entdeckungen in Herculaneum und Pompeji stimulieren die Phantasie, Künstler suchen Aufträge im Ausland, und während Tiepolo in Würzburg triumphiert, fasst Karl VII. den Plan, in Caserta sein Versailles zu bauen.

Die gemeinsame Hochsprache wird zum einigenden Band der Nation. Alessandro Manzoni zieht 1827 von Mailand nach Florenz, um sein Idiom von Lombardismen zu reinigen: Die „toskanisierte“ Fassung seiner „Promessi sposi“ (1842) nimmt die politische Einigung sprachlich vorweg. Giuseppe Verdi erscheint im neunzehnten Jahrhundert als einsame Lichtgestalt der italienischen Kultur, auch wenn ihm die Rolle als Herold der Einheit nachträglich zugeschrieben wird. Zum Selbstverständnis des neuen Italien gehört die Gleichstellung der Juden, deren symbolische Bestätigung beim Bau der Synagoge in Turin am hochfliegenden Ehrgeiz des Architekten Alessandro Antonelli scheitert. Dabei sprengt er den Maßstab sehr viel prononcierter als das – erst 1911 eingeweihte und als „Schreibmaschine“ verspottete – Einheitsdenkmal, dem in Rom ein Stadtviertel weichen muss.

Palermo, Chiesa della Martorana

Sizilien ist der Schlüssel zu allem

De Chiricos „pittura metafisica“ und Marinettis „Futuristisches Manifest“, der Fiat-Firmensitz Lingotto, die faschistische Architektur zwischen Neoklassizismus eines Piacentini und der Moderne eines Terragni, der Neorealismo und der Siegeszug der Mode made in Milano: Im zwanzigsten Jahrhundert weitet sich der Kulturbegriff, auch der Fußball (und warum er „calcio“ heißt) wird zum Thema. Die italienische Studienreise endet, wo sie anfängt: auf Sizilien. Die Chronologie wird dafür sogar umgestellt, denn Fellinis Film „La dolce vita“ (1960) kam nach Tomasi di Lampedusas Roman „Il Gattopardo“ (1958) heraus. Prominent plaziert, steht er als „Leittext italienischer Geschichte und ihrer Bewältigung“, in dem „der Nationalstaat (...) mit Betrug beginnt“.

Reinhardt zitiert Goethes berühmtes Diktum nicht, aber er bestätigt es: „Italien ohne Sizilien macht gar kein Bild in der Seele, hier ist erst der Schlüssel zu allem.“ Im Epilog holt der Historiker, der sich mit Gegenwartsbezügen zurückhält, zum tagespolitischen Nachschlag aus: „2018 war für Italien das Jahr der Abstürze.“ Doch das Wort „Krise“ hat, so die dialektische Volte, eine umfassendere Bedeutung. Als schicksalhafte Wendung bestimmt sie die Geschichte des „bel paese“: „Die Fähigkeit zum kulturellen Aufbruch nach Krisen ist somit die knappste und aussagekräftigste Definition von ‚italianità‘ überhaupt.“ Eben davon erzählt dieses anregende, faktenreiche und kenntnisdichte Buch – und so sieht, wer es liest, Italien mit von Vorurteilen befreiten Augen.
Volker Reinhardt: „Die Macht der Schönheit.“ Kulturgeschichte Italiens. C. H. Beck Verlag, München 2019. 651 S., Abb., geb., 38 Euro.

Himmel der Cappella Palatina;  normannischer Palast in Palermo; 

Nota. - Kein Papst, kein Kirchenstaat? Keine Ostgoten, keine Langobarden? Ja, wenn sich alles um Sizilien drehen soll, muss er schon ein bissel was weglassen. Man kann doch aber die Geschichte und auch die Kultur- geschichte Italiens nicht schreiben, ohne von dem stählernen Riegel zu reden, der den europäischen Norden vom teils afrikanischen, teils asiatischen, teils griechisch-antiken Mezziogiorno trennt - bis heute nämlich, und der zur italianità wie die Faust aufs Auge passt; so exakt, dass man argwöhnt, sie sei dafür erfunden worden.  

Das allerdings beschädigt nicht, sondern bestätigt die zentrale Aussage: Die pp. Identität dieser Noch-immer-nicht-Nation liegt in dem Gegensatz ihrer Bestandteile, der nicht so heftig sein könnte, wie er ist, wenn die Bestandteile nicht so viele eigene Identitäten hätten entwickeln können.

Eine schöne Lehre für uns Deutsche, aber erst recht für uns Europäer. Welche Rolle die Schönheit dabei spielt, muss ich mir erst noch durch den Kopf gehen lassen.
JE

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