Donnerstag, 31. Januar 2019

Das mythische Zeitalter geht nie vorüber.

aus spektrum.de, 28.01.2019

Die Macht der Geschichten
Geschichten helfen uns, Abstraktes erfahrbar zu machen. Das Problem: Was packend erzählt ist und sich gut in unser Weltbild einfügt, hinterfragen wir kaum. Hochstapler haben deshalb oft ein leichtes Spiel.

von Theodor Schaarschmidt

»Es ist einfacher, ein Flugzeug zu bauen oder ein wildes Pferd zu reiten, als eine Blutfehde zu schlichten.« Der Satz stammt von Jenva Bashi, einem knurrigen Mann mit Gummistiefeln und Wollpulli. Er engagiert sich im albanischen Shkodra gegen die Blutrache. Immer wieder besucht er die Familienklans und versucht, sie von der grausigen Tradition abzubringen und alte Konflikte auszusöhnen. Gerade kämpft er um das Leben eines 16-Jährigen, dem auf Grund eines alten Familienstreits ein Mordanschlag droht.

Die Arbeit des Mannes könnte der Ausgangspunkt für eine fesselnde Geschichte sein. Die Sache hat allerdings einen Haken: Offenbar gibt es Jenva Bashi überhaupt nicht. Seinen bislang einzigen Auftritt hatte er in einer Reportage, die 2012 in »Cicero« und der »NZZ am Sonntag« erschienen ist. Kürzlich fragte die Schweizer Zeitung beim Nationalen Versöhnungskomitee an, für das Jenva Bashi angeblich arbeiten sollte. Doch dort hat man seinen Namen noch nie gehört.

Der Autor des Artikels ist Claas Relotius, jener preisgekrönte »Spiegel«-Redakteur, der in den vergangenen Wochen einen handfesten Medienskandal ins Rollen brachte. Auch seine Reportage über die Blutrache steht unter Fälschungsverdacht. Stilistisch ist sie famos: Hier ein hinkender Truthahn, dort eine vom Esel gezogene Kutsche auf einer ungeteerten Straße – man kann das albanische Bergland beim Lesen förmlich riechen. Der Text wäre ein journalistisches Glanzstück – wenn er denn wahr wäre. Doch es scheint, als hätte Relotius Herrn Bashi schlicht erfunden. Und auch andere Details des Textes sind offenbar falsch oder zumindest ungenau.

Es ist beeindruckend, wie lange sich Relotius mit seinen Fake Stories an den Faktencheckern in der Redaktion vorbeimogeln konnte. Sicher, eine Reportage lässt sich nie restlos verifizieren, sie lebt von einem gewissen Vertrauensvorschuss gegenüber dem Reporter. Doch schon früher gab es Ungereimtheiten und Merkwürdigkeiten in seinen Texten, die ihm allerdings nie zum Verhängnis wurden. Selbst nachdem Relotius' Koautor Juan Moreno erdrückende Beweise gegen seinen Kollegen zusammentrug, wollte der »Spiegel« zunächst nicht an einen Betrugsfall glauben – und vermutete stattdessen, Moreno hätte selbst Böses im Sinn.

Wir glauben, was wir glauben wollen

Claas Relotius ist ein hervorragender Geschichtenerzähler. Gerade weil er von der Wahrheit abwich, konnte er seine Stories so fesselnd gestalten. Ein Detail fügte sich mühelos ins nächste, jede Nebensächlichkeit trug zum Sound der Reportage bei. Und wie zufällig lief am Ort des Geschehens stets der passende Song im Radio, der die jeweilige Pointe des Artikels unterstrich.

Gute Geschichten entfalten eine Sogwirkung, der wir uns nur schwer entziehen können. Manchmal lassen wir uns nur allzu gern von ihnen einlullen. Immer wieder fallen wir auf Hochstapler herein, wenn wir ihre Geschichte für stimmig halten: In der Fußgängerzone sammeln vermeintlich Gehörlose Geld für wohltätige Zwecke. Spam-Mails gaukeln vor, eine einsame Frau aus Osteuropa suche die Liebe ihres Lebens. Online-Werbebanner preisen »geheime Tricks« an, um über Nacht mit Aktiengeschäften reich zu werden. Und auf Facebook verbreiten sich immer wieder Fake News, die sich eigentlich mit ein paar Klicks mühelos widerlegen ließen. Warum sind wir nur so leichtgläubig?

Forscher befassen sich schon länger mit der Frage, wann wir einen Bericht für bare Münze nehmen – und wann wir Zweifel anmelden. Das hängt offenbar zum einen von relativ objektiven Fakten ab. So bevorzugen wir etwa namentlich genannte Quellen, während anonyme Aussagen uns misstrauisch stimmen. Konkrete Zahlen und Statistiken lassen einen Text ebenfalls plausibler wirken. Daneben spielen aber auch ganz persönliche Überzeugungen und Einstellungen eine große Rolle: Wir glauben nämlich vor allem das, was am besten in unser Weltbild passt.

Kyun Soo Kim und Yorgo Pasadeos von der University of Alabama konnten das nachweisen, indem sie knapp 250 Probanden einen längeren Artikel über die »Pille danach« präsentierten, den es in drei verschiedenen Ausführungen gab. Wer welche Fassung erhielt, wurde vor Beginn des Versuchs ausgelost. Die erste Version des Textes schlug sich auf die Seite der Abtreibungsgegner (»pro-life«), die die Abgabe des Medikaments einschränken wollen. Die zweite Variante unterstützte die liberale Position (»pro-choice«), nach der das Medikament ohne Rezept frei verfügbar sein sollte. Eine dritte, ausgewogene Fassung zählte schließlich die Argumente beider Seiten auf. Anschließend fragten die Forscher ihre Probanden, für wie glaubwürdig sie den Artikel hielten. Dabei zeigte sich: Wer dem Präparat vorher ohnehin schon skeptisch gegenüberstand, misstraute vor allem dem positiven Bericht. Die Befürworter der Pille danach zweifelten hingegen vor allem die negative Darstellung an. Doch auch der neutrale Text stieß auf Misstrauen: Beide Lager hielten ihm vor, er würde für die jeweils andere Seite Partei ergreifen.

Das Experiment zeigt, wie anfällig unser kritischer Blick ist: Misstrauisch werden wir oft erst, wenn eine Meldung mit unserem eigenen Wertesystem kollidiert. Was sich bequem in unser Weltbild einfügt, hinterfragen wir hingegen kaum. Vielleicht hat ebendieser Effekt dazu beigetragen, dass Relotius mit seinen frisierten Reportagen so lange durchkam: Sie waren bequem zu lesen und bedienten oft die Vorstellungen seines Publikums. So etwa seine Südosteuropa-Reportagen: »Krieg, 

Blutrache, patriarchale Geschlechterbilder – das sind genau die Klischeethemen, die viele mitteleuropäische Leser und Redakteure mit dem Balkan verbinden«, schreibt Krsto Lazarević im Onlinemagazin »Übermedien«. »Es sind Schauergeschichten über wilde Bergvölker im Südosten Europas, die sich allesamt untereinander töten.« Lazarević berichtet selbst häufig über die Region. Der Journalist hält Relotius' Geschichten nicht nur für unterkomplex und fehlerhaft, sondern auch für vorurteilsbeladen. So sei die Blutrache in Albanien längst nicht so stark verbreitet wie von Relotius behauptet. Im Gegenteil, das Land gilt als relativ sicher. Doch wie lässt sich daraus noch eine packende Geschichte konstruieren?

Zu gut, um falsch zu sein

Relotius ist nicht der erste Hochstapler, der sich die Sogwirkung packender Geschichten zu Nutze machte. 1980 veröffentlichte die »Washington Post« eine ergreifende Reportage über einen heroinabhängigen Jungen, der gerade mal acht Jahre alt war. Die Autorin Janet Cooke erhielt für ihr Werk den Pulitzer-Preis. Erst danach stellte sich heraus: Den Jungen hat es nie gegeben. Und in Deutschland behauptete der Fälscher Konrad Kujau, in Besitz der originalen Tagebücher von Adolf Hitler zu sein. Der »Stern« fiel darauf herein und machte die »Hitler-Tagebücher« 1983 zum Titelthema – wenig später flog der Schwindel auf. In beiden Fällen ergaben sich schon früh Unstimmigkeiten, doch die Beteiligten schlugen die Zweifel in den Wind. Manche Stories sind wohl einfach zu gut, um falsch zu sein!

Erzählungen lassen uns komplexe Zusammenhänge verstehen und machen Abstraktes plötzlich greifbar; sie übersetzen eine unübersichtliche Realität in anschauliche, leicht verdauliche Bilder. Aus diesem Grund finden wir Reportagen oft spannender als nüchterne Zeitungsberichte, Dokumentarfilme reizvoller als die »Tagesschau«. »Ich probiere Geschichten an wie Kleider«, heißt es in Max Frischs Roman »Mein Name sei Gantenbein«. Das macht die Magie des Erzählens aus: Geschichten helfen uns dabei, für einen Moment in ein anderes Ich zu schlüpfen – und zu fabulieren, wie es sich anfühlen würde, eine Bomberpilotin, ein Hacker oder ein Pornostar zu sein.

Geschichten prägen die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen. Schon Kinder erwerben eine Art »Erzählgrammatik«, die ihre Wahrnehmung und ihr Gedächtnis prägt. In einer Studie von Nancy Stein und Christine Glenn aus dem Jahr 1975 sollten sich Erst- und Fünftklässler kurze Erzählungen einprägen – allerdings waren diese unvollständig. So fehlte beispielsweise der Anfang einer Geschichte, in der Fuchs und Bär gemeinsam ein Huhn fürs Abendessen töten wollen. Eine Woche später sollten die Kinder das Gelernte wiedergeben. Ohne danach gefragt worden zu sein, erfanden ein Drittel der Erstklässler und drei Viertel der Fünftklässler einen eigenen Anfang für die Geschichte, etwa: »Sie hatten seit Tagen nichts mehr gegessen und brauchten Nahrung.« Die Kinder passten den Bericht an, damit sich eine sinnvolle und abgerundete Geschichte ergab – auch wenn sie damit von ihrer eigentlichen Aufgabe abwichen.

Offenbar brauchen wir narrative Strukturen, um uns die Welt zu erschließen. Wo keine Geschichten zu finden sind, halluzinieren wir manchmal sogar welche herbei! Das zeigt eine Studie von Fritz Heider und Marianne Simmel aus dem Jahr 1944 – mittlerweile ein Klassiker der Gestaltpsychologie. Die Forscher zeigten ihren Teilnehmern einen kurzen Trickfilm, in dem sich zwei verschieden große Dreiecke und ein Kreis in komplexer Reihenfolge durch das Bild bewegten. Anschließend sollten die Probanden berichten, was sie soeben gesehen hatten. Trotz der nüchternen Darbietung vermenschlichten sie die geometrischen Figuren auf der Leinwand und erzählten regelrechte Dramen: Den Kreis und das kleinere Dreieck erklärte ein Zuschauer beispielsweise zum jungen Liebespaar, und aus dem großen Dreieck wurde plötzlich ein Schurke, »geblendet von Wut und Frustration«. Nur einer der 34 Probanden beschrieb den Film als geometrischen Prozess. Alle anderen tischten den Versuchsleitern packende Geschichten auf.

Findige Köpfe haben längst Mittel und Wege gefunden, um unsere Gier nach Geschichten zu Geld zu machen. »Corporate Storytelling« lautet ein Schlagwort aus der Werbebranche. Dabei hüllen Marken ihre Produkte in blumige Erzählungen und laden sie so emotional auf. Zwei alte Freunde bauen eine alte Tankstelle eigenhändig zu ihrer ersten Eisdiele um: So lautet der Gründungsmythos, mit dem »Ben & Jerry's« bis heute seine Eisbecher verkauft. Und auch im Netz machen sich so genannte Clickbaiting-Seiten klassische Erzählstrukturen zu Nutze. Portale wie »Upworthy« oder »Heftig« bauen schon in der Überschrift maximale Spannung auf: »Eigentlich filmte er nur ein bisschen den Strand. Dann traute er seinen Augen kaum.« Wer will da nicht wissen, wie es weitergeht?
»Wer in eine fesselnde Geschichtenwelt verfrachtet wird, hat womöglich nicht die kognitiven Ressourcen, um den Implikationen der Geschichte zu widersprechen«
(Melanie Green, Kommunikationsforscherin)
Andere versuchen, die Macht der Erzählungen für gute Zwecke zu nutzen – etwa, um Unfälle zu verhindern. Mitch Ricketts von der Kansas State University arbeitet gemeinsam mit seinem Team an der Frage, wie Warnhinweise mehr Wirkung entfalten können. Für seine Studie sollten Freiwillige eine Kinderschaukel aufbauen. Was Ricketts den Teilnehmern nicht verriet: Je nach Versuchsgruppe unterschieden sich die Sicherheitshinweise. Zwar warnte jede Montageanleitung vor herausstehenden Schrauben am Schaukelgerüst – schließlich könnten sich Kinder mit ihrem Schmuck daran verheddern. Doch bei einem Teil der Probanden ergänzte Ricketts den Hinweis um eine Horrorstory: Ein zweijähriges Mädchen habe sich beim Schaukeln mit ihrer eigenen Halskette erdrosselt, weil ein Bolzen zu weit aus dem Gestell herausragte. Als die Großmutter ihre Enkelin auffand, habe das Mädchen schon nicht mehr geatmet. Mit der abschreckenden Story in der Anleitung montierten die Teilnehmer messbar sicherere Schaukeln, bei denen seltener Schraubgewinde aus dem Gerüst ragten. Die kleine Intervention zeigte also offenbar große Wirkung. Andere, ähnlich aufgebaute Studien konnten diesen Geschichten-Effekt allerdings nicht immer bestätigen.

Die Wahrheit ist niemals rund

Doch warum ziehen uns ausgerechnet Erzählungen so leicht in ihren Bann? Damit befasst sich unter anderem die Kommunikationsforscherin Melanie Green von der University at Buffalo in New York. Ihr Fachgebiet heißt »Narrative Persuasion«, frei übersetzt: Überzeugen durch Erzählen. Gute Geschichten erzeugen eine Art mentale Simulation, vermutet Green. Sie saugen uns regelrecht in ihre Welt hinein, so dass wir unsere Außenwelt für einen Moment vergessen und uns als Teil der Fiktion wähnen. Deswegen schlägt unser Herz schneller, wenn die Romanheldin in Gefahr ist. Wird es allzu brenzlig, wollen wir ihr gar zurufen: »Pass auf, hinter dir!« Genau dieser Prozess mache Erzählungen so mächtig. Green schreibt: »Wer in eine fesselnde Geschichtenwelt verfrachtet wird, hat womöglich nicht die kognitiven Ressourcen, um den Implikationen der Geschichte zu widersprechen.« Viele wären schlichtweg nicht daran interessiert, ihre genussvolle Fantasiereise zu stören. Zudem würden wir uns oft derart mit den Figuren identifizieren, dass sich die Handlung beinahe wie eine persönliche Erfahrung anfühle.

Auch frei erfundene Geschichten können deshalb überzeugend wirken. In einem Experiment von Markus Appel von der Universität Würzburg mussten alle Probanden dieselbe Kurzgeschichte lesen. Sie handelte von einem Psychiatriepatienten, der in einem Einkaufszentrum ein junges Mädchen ersticht. Je nach Versuchsgruppe wurde die Geschichte allerdings unterschiedlich eingeordnet: Mal wurde sie als reales Ereignis, mal als Fiktion oder als Falschnachricht dargestellt. Hatten die Probanden ausgelesen, sollten sie angeben, für wie gefährlich sie psychisch kranke Menschen hielten – und ob man es Patienten erlauben sollte, tagsüber die Klinik zu verlassen. In allen drei Fällen schätzten die Teilnehmer Psychiatriepatienten nach der Lektüre als riskanter ein. Zwischen den drei Versuchsgruppen gab es dabei keine nennenswerten Unterschiede: Ob die Begebenheit überhaupt stimmte, schien für das Urteil der Teilnehmer kaum eine Rolle zu spielen.


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 Unsere Liebe zur Erzählform macht uns also anfällig für Manipulation. Geschichten geben die Realität nur ausschnittsweise wieder, pressen sie in ein Story-Raster. Deswegen sind Zweifel angebracht, wenn sie das Leben als allzu rund und pointiert darstellen. Denn die Wirklichkeit ist niemals rund. Sie ist verwirrend und widersprüchlich, hat Unebenheiten und Fransen.

Der Regisseur Werner Herzog ist dennoch ein vehementer Verteidiger der Zuspitzung. Er prägte den Begriff der »ekstatischen Wahrheit«. Herzog ist bekannt für seine cineastischen Inszenierungen, in der Realität und Fiktion fließend ineinander übergehen. »Ich habe Dokumentationen gedreht, in denen so gut wie jedes Detail erfunden ist und die genau deshalb viel mehr Wahrheit enthalten als viele andere, die sich buchhalterisch an Objektivismus klammern«, so Herzog in einem Interview mit dem »Tagesspiegel«. »Wenn ich die Welt so zeige, wie sie ist, oberflächlich also, dann stoße ich doch nie zu ihrer inneren Wahrheit vor.«

Das wäre eigentlich ein schönes Schlusswort. Bislang ist jedoch noch unklar, ob Herzog das jemals wirklich so gesagt hat. Das Interview führte Claas Relotius, und auch hier hat er, wie er es ausdrückt, »einige Passagen verdichtet«. Der »Tagesspiegel« prüft die Aussagen des Interviews deshalb derzeit – und behält sich vor, es unter Umständen wieder zu löschen.


Nota. - Es ist ein neuzeitlicher Mythos, dass etwas wahrer wäre, weil es aus abstrakten Begriffen zusammen- gesetzt ist, als wenn es in Bildern angeschaut würde. In unserm Privatleben meinen wir alle selbstverständlich, "was ich mit eigenen Augen gesehen habe, kann ja wohl nicht falsch sein", und: "Meinen Nachbarn kenne ich gut, was er mit eigenen Augen,.." usw..

Doch jeder wird zugeben: Wenn ich nicht selber dabei war, kann ich es schlecht beurteilen. Wo es aber ums Überprüfen der Nachricht geht, vertrauen wir doch eher der diskursiven Darstellung, die objektivierbare Begriffe miteinander in eine logische Verbindung bringt.

Mit der Wahrheit der einen oder der andern hat die Art ihrer Mitteilung aber nichts zu tun. Wissenschaft beruht darauf, dass Alles überprüfbar ist. Doch die Wissenschaft ist eine Instanz außerhalb unseres geschäftigen All- tags.Was von ihr in den Alltag Eingang findet, hängt von vielen Umständen ab; vom allgemeinen Bildungsstand zumal - und von der wirtschaftlichen Verwertbarkeit. Die Autorität, die sie in der Öffentlichkeit hat, auf der in repräsentativ verfassten Gemeinwesen politischer Wille beruht, muss sie sich als Instanz erwerben und erhalten. Da beißt sich die Katze in den Schwanz: Was erzählt wird, begründet, was erzählt und... was geglaubt wird.

Oder anders gesagt, die Eigentümlichkeit des Politischen ist und wird immer sein, dass es umkämpft ist. Da kommt es darauf an, stärker zu sein als die andern.

Das wussten Sie schon? Das Wissen reicht aber nicht. Man muss schon danach handeln.
JE

Dienstag, 29. Januar 2019

Der neue Aufbruch der natürlichen Intelligenz.

G. Richter
aus nzz.ch,

Viele fürchten, wegen künstlicher Intelligenz überflüssig zu werden.
Dabei hat KI ein fundamentales Problem: Sie macht keine Fehler 
Neue Roboter rasieren die gute alte Arbeit weg, und was bleibt, ist der arbeitslose Mensch? Ach was. Solche Prognosen sind höchst unwahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher ist, dass die menschliche Urteilskraft wertvoller sein wird denn je. 

von Reinhard K. Sprenger 

Die Furcht vor technologiebedingter Massenarbeitslosigkeit geht um. Sie ist alt. Tiberius hat, laut dem römischen Historiker Plinius dem Älteren, einen Erfinder von bruchsicherem Glas umbringen lassen – aus Sorge um das Glasmachergewerbe. Und aus dem Jahr 1935 stammt ein Zeitungsartikel, der vor Jobrisiken durch «denkende Maschinen» warnt.

Treppenwitze der Wirtschaftsgeschichte. Denn Historiker wissen: Bei wirtschaftlichen Umbrüchen entstanden schon mittelfristig viel mehr neue Stellen, als alte verschwanden. Immer kam mehr Wohlstand für alle dabei heraus. Interessanterweise waren vor allem Phasen der Vollbeschäftigung von Automatisierungsfurcht geprägt.

Auch heute fragen wieder viele: Was bleibt für uns Menschen noch zu tun? Sie fürchten eine Spirale digitaler Grausamkeiten, die nicht nur den eigenen Job bedroht, sondern Arbeit als wichtigste gesellschaftliche Integrationsmaschine grundsätzlich überflüssig macht.

Der Alarmismus basiert auf der sogenannten Oxford-Studie von 2013, die, wenn auch methodisch äusserst fragwürdig, knapp die Hälfe der amerikanischen Arbeitsplätze als «automatisierungswahrscheinlich» etikettiert. Die Medien steigen ein, der Beratungsbedarf explodiert – ein Milliardengeschäft. Hinzu kommen die Apokalyptiker der Techno-Szene wie der Kapitalismuskritik. Die haben schon immer die dunklen Wolken selbst gemalt. 

Immer mit der Ruhe
 
Kein Zweifel: Was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert werden. Es werden Arbeitsplätze vernichtet. Wird das schnell gehen? Nein. Kurzfristig – das heisst innerhalb der nächsten acht bis zehn Jahre – dürfte sich nicht viel ändern. Langfristig hingegen schon.

Dabei gibt es eine alte Erkenntnis im Umgang mit dem Neuen: Wirtschaftshistorisch wurden die kurzfristigen Auswirkungen technologischer Umbrüche immer überschätzt, die langfristigen unterschätzt.

Die gute Nachricht ist, dass es um viele der verschwindenden Jobs nicht sonderlich schade sein wird. Die Massenfertigung hatte ja dazu geführt, dass die Arbeitsplätze immer maschinenähnlicher wurden. Nun werden diese Jobs auch von Maschinen erledigt. Eintönigkeit verschleisst dann nur noch Maschinenteile, keine Menschen. Wird man in hundert Jahren irgendwelchen langweiligen Bürojobs oder aufreibenden Über-Kopf-Arbeiten eine Träne nachweinen?


Mehr noch: Neugeburten plus Zuwanderung kompensieren nicht die Sterblichkeit in Mitteleuropa. Die geburtenstarken fünfziger und sechziger Jahrgänge verlassen den Arbeitsmarkt. Geburtenschwache Jahrgänge kommen.

Es würden mehrere Millionen Arbeitskräfte fehlen, bliebe der Bedarf ähnlich hoch wie heute. Mithin ist der Fachkräftemangel als Treiber der Digitalisierung mindestens so wichtig wie technologische Innovation. Wenn wir diese Knappheit mit Menschen kompensieren wollten, hätten wir Zuwanderungsraten, die politisch gar nicht durchsetzbar wären. 

Maschinen? Experten!

Die Kassandren aber bleiben beharrlich: «Heute ist alles anders», lautet ihre Warnung. «Die künstliche Intelligenz ist der menschlichen bald überlegen und bedroht sogar hochqualifizierte Jobs.»
Halt. Maschinen, auch wenn sie sich künstlich intelligent nennen, sind zunächst nichts anderes als Metallkästen. Deshalb sollten wir auch von maschineller Intelligenz (MI) sprechen. Denn Algorithmen müssen von Menschenhand programmiert werden, bevor sie produktiv werden können; die Anfangslosigkeit der sich selbst zeichnenden Hände M. C. Eschers ist bis jetzt noch ein Technikertraum. Dann aber sind sie sehr produktiv. Es sind Expertensysteme, die jeweils eine Disziplin extrem gut beherrschen und darin jeden Menschen schlagen.


MI kann zudem extrem schnell optimieren: Muster erkennen, Aktienhandel und Anzeigenschaltung, Fleischqualität und Fahrstrecke, Krebsdiagnose und Knochenbruch, Düngermenge und Datenberge. MI kann sogar reparieren, mehr und mehr auch lernen.

Aber auch diese Lernfähigkeit ist von Menschen programmiert. Sie vergleicht immer nur Daten mit Voreinstellungen. Und selbst diese Voreinstellungen sind später kaum nachvollziehbar: Nach dem vierten Update weiss kein Experte mehr, wie MI zu diesem Ergebnis gekommen ist. Dabei gelten Netzwerke von einer Million Knoten schon als gross. Der Mensch verfügt in seinem Gehirn über 86 Milliarden Nervenzellen, zudem über ein chemisches System, das zusätzliche Verknüpfungen erlaubt. Er kann auf Fähigkeiten zurückgreifen, die über Äonen gespeichert wurden.

Allein das Wort «Hund» löst beim Menschen eine Unmenge an Assoziationen, Gefühlen, Erinnerungen aus. Wenn aber einer dieser Kästen die Bilder eines Wolfshundes von einem Wolf unterscheiden kann, dann kann er noch lange nicht ein Fernsehquiz gewinnen, das sich auf Wölfe bezieht. Es kann auch vorkommen, dass ein ernst schauender Mensch als solcher nicht erkannt wird, weil nur lächelnde Menschenfotos online gestellt werden. Oder dass ein Job-Bewerber, der von einem Computer mittels Videokamera ausgesucht wurde, in der Zusammenarbeit mit realen Menschen sich als Zombie herausstellt.

Und wenn der automatische Antwortgenerator auf verwirrende E-Mails «Ich liebe dich» antwortet, weil er weiss, dass das die richtige Antwort in verwirrenden Situationen ist, dann ist das allenfalls kurios. Gerade Ambiguität führt zu den absurdesten Klassifikationsfehlern, die schon zu manch schenkelklopfender Heiterkeit Anlass gaben. 

Der Vorteil des Menschen

Aber MI fehlt paradoxerweise eine fundamentale Fähigkeit: Sie ist nicht fehleranfällig. Das ist der Vorteil der menschlichen Intelligenz. Wir verrechnen uns oder übersehen bessere Lösungen. Und eben weil wir Fehler machen, haben wir als Spezies über Jahrmillionen überlebt.

Unser Denken und Handeln folgt keinem Algorithmus, sondern passt sich an, ist lernfähig, vorausschauend, macht dabei immer wieder kleine Fehler, die wir korrigieren. Deshalb sind wir schlecht ausrechenbar. Goethes zauberlehrlingshafter Besen kannte keine Kollateralschäden, da diese nicht programmiert wurden.

MI kann also intelligent sein im Sinne extrem schneller Datenverarbeitung. Aber sie wird nie intelligent im menschlichen Sinne sein. Es war zu keiner Zeit sonderlich intelligent, ein Wettrennen mit Maschinen zu laufen, das man nicht gewinnen kann. Maschinen sind immer schneller. Wir verlieren da alle Spiele – und sind dadurch die Gewinner.

In welchen Spielen? Da, wo es um Gefühl und Intuition geht, um praktische Tugenden wie Weisheit und Klugheit. Die unklare Wahrnehmung gehört dazu. Menschliche Intelligenz qualifiziert für das Kreative, das Individuelle, das Komplexe, das Besondere, das Abwägen, Spüren, Bewerten. Für das Soziale: Gespräche etwa, Zuwendung, Kontakt. Sie kann zu einer Stimmung beitragen, die das Arbeiten werthaltig macht.

Eine schier endlose Reihung: Autonomie, Kontextsensibilität, Intuition, Analogiebildung, Gewissen, Sterblichkeit, Sorge, Liebe, Schönheit, Zauber, Ehrfurcht, Frömmigkeit, Neugierde, Unternehmertum, Sympathie, auch Verstehen in einem starken Sinne – alles nicht programmierbar. Vor allem aber der Widerspruch! Die Fähigkeit, sich selbst zu widersprechen, sie wird wohl immer dem Menschen vorbehalten bleiben. Das ist sein höchster Adel. 

Bildung ist die Lösung

Wir begegnen also der MI mit einer eigenartigen Mischung aus Misstrauen und Vertrauen – Misstrauen gegenüber dem Jobkiller, Vertrauen gegenüber dem Wahrsager. In beiden Funktionen wird MI überschätzt.

Das betrifft auch den Vorwurf, unser Bildungssystem qualifiziere vorrangig für wegfallende Berufsbilder. Das ist unwahrscheinlich. Wir erleben ja gerade die Abkehr von der Maschinenlogik der Unternehmensführung, von Reibungslosigkeit und Konsenszwang. Der Mensch ist nicht mehr die grösste Fehlerquelle für Routinen, sondern die Lösungsquelle für Nicht-Routinen.


Bildung kann Menschen auf genau jene Situationen vorbereiten, die von Algorithmen nicht zu entscheiden sind. Bildung, die auf Nicht-Wissen zielt, auf das Nicht-Rationale, auf Intuition und Besonderheit. Wir brauchen nicht das Trennende der 0/1-Operation, sondern das Verbindende, nicht das Abgelagerte, sondern das Vorausdenkende. Wir müssen uns auf das konzentrieren, was Alexa noch nicht weiss.

Diese Bildung im humboldtschen Sinne ist die Basis der Urteilskraft. Denn Informationen sind das eine. Die Qualität der Informationen ist das andere. Ihre Beurteilung und Bedeutung ist etwas Drittes. Dieses Dritte wird uns Menschen vorbehalten bleiben. Denn selbst Datenberge bergen nichts. Nichts, wenn nicht ein Mensch hinzukommt.

Also, Kopf hoch! Wir müssen nicht technofatalistisch abdanken. Die Digitalisierung ist kein Grund zur stummen Unterwerfung unter das unendliche Rauschen der Daten und ihrer Verarbeitungsmaschinen. Vielmehr wird sie menschliche Anlage und Begabung neu und höher bewerten. Maschinelle Intelligenz bietet dafür realistische Chancen.


Reinhard K. Sprenger ist Philosoph, Unternehmensberater und Autor u. a. von «Radikal digital: Weil der Mensch den Unterschied macht» (2018) und «Das anständige Unternehmen» (2016). Seine Bücher erscheinen bei Campus und DVA.


Nota. - Das brauch' ich nicht zu kommentieren. Es ist fast so gut, als hätte er bei mir abgeschrieben.
JE 


 

Montag, 28. Januar 2019

Ostler? Doch nicht wir!

Ein Grenzpfosten im thüringischen Geisa nahe Hessen. Im deutschen Westen herrschen bis heute viele Missverständnisse über die ostdeutschen Länder
aus welt.de, 27. 1. 2019

Allensbach-Umfrage
Ostdeutsche – unwillig, den Pluralismus zu ertragen



Ich dachte, wie übrigens drei Viertel der Westdeutschen, der Unterschied zwischen Ost und West spiele keine Rolle mehr. Doch nun das: In einer Umfrage zweifeln die Ostdeutschen mehrheitlich an der Demo- kratie.

Menschen haben offenbar manchmal die Neigung, sich selbst zu stigmatisieren. Wer sich zum Beispiel auf seltsamste Weise in Nase und Lippen piercen oder sich bis über die Augenbrauen tätowieren lässt, hat dazu natürlich in einer freien Gesellschaft jedes erdenkliche Recht. Ebenso dürfen aber die Ungepiercten, Untäto- wierten das unerfreulich oder abstoßend finden. Pluralismus braucht Toleranz, klar, aber das bedeutet nicht: Anspruch auf uneingeschränkte Zustimmung.


In einer aktuellen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach haben sich nun – natürlich auf rein reprä- sentative Weise – die Ostdeutschen selbst stigmatisiert. Und zwar, indem sie nur zu 40 Prozent der Aussage zustimmen mochten, dass die Demokratie, wie wir sie in Deutschland haben, die beste Staatsform sei. Nur die Hälfte von ihnen hält die Meinungsfreiheit in unserem Land für wirksam geschützt.

Das heißt im Umkehrschluss: Etwa 60 Prozent der Ostdeutschen finden irgendeine andere Staatsform besser. Man wüsste wirklich wahnsinnig gern, welche das sein sollte. Der selbst erlebte, authentische DDR-Stasi-Staat ja wohl nicht ernsthaft. Irgendeine andere Art von Sozialismus? Die Räterepublik? Oder noch eine alternative Staatsform mit schönem, klarem Führungsprinzip?

Pluralismus ist schwer zu ertragen 

Und durch was, um Himmels willen, sieht die Hälfte dieser Mitbürgergruppe die Meinungsfreiheit bedroht? Jeder sagt in diesem Land von morgens bis abends seine Meinung, das ganze Internet besteht überwiegend aus Meinung, und praktisch niemand kommt dafür ins Gefängnis – es sei denn, er bedroht exzessiv und glaubwürdig seine Mitmenschen.

Aber dann geht es ja auch gar nicht mehr um Meinung, dann geht es um Straftatbestände. Aus der ostdeutschen Sorge um die Meinungsfreiheit spricht, meiner Meinung nach, die Unfähigkeit oder Unwilligkeit, den Plura- lismus zu ertragen: Wenn mir nicht 100 Prozent der anderen zustimmen, dann – wäh! – ist natürlich mein Grundrecht bedroht. 

Ich hätte wirklich gedacht, wir wären weiter. Ich dachte, wie übrigens drei Viertel der Westdeutschen, der Unterschied zwischen Ost und West spiele keine Rolle mehr. Und ja, ja, ja, mich nervt es auch, dass ich die „Tagesthemen“ gar nicht anzuschalten brauche, um zu wissen, dass die da für ein Tempolimit sind. Aber darüber darf man sich im Pluralismus eben streiten.

Mich erinnert die anscheinend massenhaft vorhandene ostdeutsche Haltung an eine alte Gedichtzeile des Sati- rikers Robert Gernhardt: „Meine Meinung – ja, die lässt sich hören!/ Deine Deinung könnte da nur stören.“ Aber Gernhardt hatte ja auch so einen wahnsinnig wessimäßigen Humor.

Sonntag, 27. Januar 2019

Nennt ihr das Politische Ökonomie?


Warum Ökonomen immer wieder daneben liegen
Ob es ums Wirtschaftswachstum geht oder um die Folgen des Brexits: Die Prognosen der Ökonomen sind oft ungenau. Dafür gibt es eine Erklärung. 

 von
Timo Wollmershäuser hat einen nahezu unmöglichen Job. Er soll den Deutschen die Zukunft vorhersagen. Dabei ist er kein Hellseher. Wollmershäuser ist Ökonom. Genauer gesagt Konjunkturchef am Münchner Ifo-Institut. Vier Mal im Jahr suchen er und seine Kollegen eine Antwort auf diese eine Frage: Wie geht es mit der deutschen Wirtschaft weiter? Heraus kommt dabei eine Zahl wie diese: 1,1 Prozent. So gering fällt nach Berechnungen des Ifo-Instituts das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr aus.

Für Unternehmer und Politiker, selbst für Lobbyisten, ist diese Zahl wichtig. Firmen etwa hilft sie abzuschätzen, wie viele Mitarbeiter sie brauchen. Für den Wirtschaftsminister kann die Zahl ein Signal sein, sich Gedanken über ein Konjunkturprogramm zu machen. Verbände wiederum nutzen die Zahl, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Selbst Verbrauchern gibt die Zahl Orientierung: Wächst die Wirtschaft, machen sie sich weniger Sorgen um ihren Job und geben mehr Geld aus.

Wenn Ökonomen irren

Nur was passiert, wenn Wollmershäuser und seine Kollegen mit ihrer Prognose daneben liegen? Wenn ihre Vorhersage eben nicht eintritt? So wie zuletzt. Mit einem Wachstum von 2,6 Prozent hatten sie vor gut einem Jahr für 2018 gerechnet. Tatsächlich waren es am Ende aber nur 1,5 Prozent. Wie das Ifo-Institut lagen auch die Experten der anderen Wirtschaftsforschungsinstitute daneben, vom Berliner DIW bis zum Kölner IW. Sie alle hatten mit einem Boom gerechnet – tatsächlich schrammte die Wirtschaft aber nur knapp an der Rezession vorbei.

Damit versagen die Ökonomen ausgerechnet jetzt, da der Wunsch nach Orientierung besonders groß ist. Der Brexit, Donald Trump, die neue China-Schwäche: All das verunsichert Unternehmer und Politiker – aber auch Ökonomen. Wollmershäuser sagt: „Wir sind eben keine Propheten.“

Der Job ist schwieriger geworden

Um zu verstehen, warum die Wirtschaft sich anders entwickelt, als die Forscher es vorhergesagt haben, muss man wissen, wie sie arbeiten. Wollmershäuser erklärt das so: „Wir beschreiben den Ist-Zustand der deutschen Wirtschaft und versuchen daraus Prognosen für die Zukunft abzuleiten.“ Die Ökonomen schauen sich also an: Wie hoch ist die Arbeitslosigkeit? Wie voll sind die Auftragsbücher der Firmen? Wie stark ist die Wirtschaft zuletzt gewachsen? Aus dem Bild, das so entsteht, ziehen sie Rückschlüsse auf die künftige Entwicklung.

Das hört sich einfach an, ist es aber nicht. „Der Job des Prognostikers ist schwieriger geworden“, sagt Ulrich Fritsche. „Die politischen Unwägbarkeiten haben stark zugenommen.“ Fritsche hat bis 2005 für das DIW Konjunkturprognosen erstellt – heute erforscht er an der Universität Hamburg, wie treffsicher die Prognosen der anderen Ökonomen sind. „Wie der Kurs einer Währung sich verändert, kann man auf Basis historischer Werte mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorhersagen“, sagt er. „Ob aber ein US-Präsident Strafzölle einführt oder welche Folgen der harte Brexit hat, dazu gibt es keine Erfahrungswerte aus der Vergangenheit.“

Die Folgen des Brexits sind schwer vorherzusagen

Deshalb gehen auch die Schätzungen darüber so weit auseinander, was passieren würde, wenn es tatsächlich zum harten Brexit kommen sollte. Die OECD zum Beispiel rechnet in diesem Fall für Großbritannien bis 2020 mit 3,3 Prozent weniger Wirtschaftswachstum, während die britische Regierung ein Minus von bis zu elf Prozent prognostiziert. Für 2030 wiederum sagt die Beratungsfirma PwC einen Rückgang von 3,5 Prozent voraus, während der Internationale Währungsfonds (IWF) von einem Minus von acht Prozent ausgeht. Mit anderen Worten: Nichts genaues weiß man.

Fritsche wundert dieses Durcheinander bei den Brexitprognosen nicht. Schließlich muss man dafür Annahmen treffen: Welche Zölle fallen an der Grenze an? Wie schlimm wird der Lkw-Stau in Dover? Dürfen EU-Bürger weiterhin zum Arbeiten auf die Insel ziehen? Wie viele Firmen werden ihren britischen Produktionsstandort verkleinern oder in die EU verlagern? Je nachdem, wie man diese Fragen beantwortet, kommt eine andere Zahl heraus. So sucht sich jeder Verband, jede Partei die Einschätzung heraus, die am ehesten zu ihrer Argumentation passt.

Nur ein halbes Jahr im Voraus ist die Prognose verlässlich

Dabei ist es ohnehin schwer, so weit in die Zukunft zu schauen. „Einigermaßen verlässlich vorhersagen kann man die wirtschaftliche Entwicklung lediglich etwa ein halbes Jahr im Voraus“, sagt Jörg Döpke, Wirtschaftsforscher an der Hochschule Merseburg. Zusammen mit Fritsche hat er kürzlich Fragebögen an 200 deutsche Konjunkturforscher verschickt. Sie wollten von ihnen wissen, wie die Ökonomen selbst ihre Prognosefehler erklären. Über 45 Prozent nannten als Gründe unerwartete Ereignisse wie Naturkatastrophen und unerwartete politische Maßnahmen.

Das Team um Wollmershäuser berücksichtigt für die Ifo-Prognose zum Beispiel, was die Bundesregierung laut Koalitionsvertrag vor hat. Das heißt aber nicht, dass die Politik all das sofort umsetzt oder nicht in der Zwischenzeit etwas ganz anderes plant. Und auch die Unternehmen handeln längst nicht immer so wie erwartet. Im vergangenen Jahr waren es vor allem die deutschen Autobauer, die den Ökonomen einen Strich durch ihre Prognose gemacht haben. „Wer konnte schon ahnen, dass die Konzerne es nicht rechtzeitig schaffen, ihre Autos nach dem neuen Standard zu zertifizieren?“, fragt Wollmershäuser. Die Branche war im Sommer mit der Umstellung auf das neue Testverfahren WLTP nicht hinterher gekommen – mit der Folge, dass die Produktion einzelner Modelle zeitweise eingestellt werden musste. Weil der Autosektor für die deutsche Wirtschaft aber extrem wichtig ist, hat das das Wachstum gedrückt.

Unklar ist, wie sich die Nachfrage nach Autos entwickelt

Wie es nun weitergeht, ist zu einem gewissen Grad eine Glaubensfrage. So rechnet das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) damit, dass die Autobauer jetzt, da die Zertifizierung durch ist, wieder gute Geschäfte machen werden. Wollmershäuser vom Ifo-Institut dagegen vermutet, dass die Nachfrage nach deutschen Autos niedrig bleibt, weil der wichtige Markt China schwächelt. Auch deshalb fallen ihre Prognosen unterschiedlich aus. Statt der 1,1 Prozent Wachstum, die das Ifo-Institut vorhersagt, rechnen die Kieler mit 1,8 Prozent.

Am Ende kann es angesichts von Brexit und Trump aber ohnehin auch ganz anders kommen. Ökonomen müssen mit dieser Unsicherheit und der Schelte für verfehlte Prognosen leben. Der britische Ökonom John Maynard Keynes hatte damit kein Problem. Er soll gesagt haben: „Wenn die Tatsachen sich ändern, ändere ich meine Meinung. Was tun Sie, Sir?“


Nota. - Politische Ökonomie sagt schon niemand mehr, Nationalökonomie auch kaum. Heute heißt es Volks- wirtschaftslehre, schamhaft VWL abgekürzt, weil selbst das noch hochgestapelt klingt.

Die Politische Ökonomie war zu ihrer Zeit eine Wissenschaft vom Aufbau und den Entwicklungen der bürger- lichen Gesellschaft. Zunächst verherrlichte sie ganz unbefangen die wirtschaftlichen und politischen Errungen- schaften des Kapitalismus, doch die wurden schon bald vom Arbeiterelend in den Schatten gestellt, und je wissenschaftlicher sie blieb, umso kritischer wurde sie auch - allerdings in einer rasch schwindenden Minder- heit. Mit der Marx'schen Kritik war sie als Wissenschaft schließlich erledigt, sie überdauerte als reine Apolo- getik.

John Maynard Keynes formte sie gründlich um zu einer bloßen Wirtschaftspolitologie mit sozialdemokratischer Tendenz: die Ordnung stabilisieren durch Abmildern der Gegensätze; zuerst ausprobiert in Roosevelts New Deal - und in Hjalmar Schachts nationalsozialistischer Volks-Wirtschaft. Das ging gut, weil es der Vorbereitung auf den Wltkrieg diente. Und nachher diente es der Kompensation und Überkompensation seiner Verluste, und schließlich dem Wettbewerb der Systeme.

Der ist seit drei Jahrzehnten vorüber. Übrig bleibt seither VWL als Lesen im Kaffeegrund. 
JE

Freitag, 25. Januar 2019

Ein allererster Weltkrieg.

GERMANY - CIRCA 2002: Gustav II Adolf of Sweden at the battle of Breitenfeld in 1631, painting by Jean Jacques Walter. Thirty Years' War, Germany, 17th century. (Photo by DeAgostini/Getty Images)
aus welt.de, 24.01.2019                                                  Gustav II. Adolf (1594-1632) machte Schweden zur Großmacht

Mit diesem Vertrag begann die Verwüstung Deutschlands 
Nur wenige Monate nach seiner Landung auf Usedom 1630 war Gustav II. Adolf von Schweden pleite. Da rettete ihn Kardinal Richelieu mit einem Bündnisangebot – mit entsetzlichen Folgen für das Reich.

 

Spätestens im Januar 1631 hörte der Dreißigjährige Krieg auf, ein Religionskrieg zu sein. In Bärwalde in Westpommern (heute: Mieszkowice) schlossen die Abgesandten Frankreichs und Schwedens einen Pakt. Darin verpflichteten sich der katholische Kardinal Richelieu und der protestantische König Gustav II. Adolf, den Krieg gemeinsam „für die Verteidigung ihrer beiderseitigen, respective gemeinsamen Freunde“ fortzuführen, deren wichtigster Feind niemand anderes als der katholische Kaiser Ferdinand II. war. Damit begann die Verwüstung Deutschlands.

Im Juli 1630 war Gustav Adolf mit einer Armee von rund 12.000 Mann auf Usedom gelandet. Seine Intervention begründete er damit, die „teutsche Libertät“ retten zu wollen, zumal die seiner protestantischen Glaubensgenossen. Schließlich hatte der Habsburger, ein glühender Anhänger der Gegenreformation, nach dem Sieg seines Feldherrn Wallenstein über Dänemark 1629 erstmals seine Macht bis an die Küsten von Nord- und Ostsee ausdehnen können. Das trieb den Protestantismus im Heiligen Römischen Reich an den Rand einer Katastrophe.

Wallenstein, Figur aus dem Drama "Wallenstein" von Friedrich Schiller, Stahlstich aus "Schiller-Galerie", 1869, Deutschland, Europa | Verwendung weltweit, Keine Weitergabe an Wiederverkäufer. 
Albrecht Wenzel Eusebius von Waldstein genannt Wallenstein (1583-1634) unterwarf für den Kaiser ganz Norddeutschland
Aber die schwedischen Verlautbarungen verschleierten nur die wahren Motive. Gewiss, Gustav Adolf verstand sich als Vorkämpfer des Protestantismus. Zugleich aber hatte er seit seiner Thronbesteigung 1611 den Aufbau der schwedischen Großmacht zur Leitlinie seiner Politik gemacht. In diesem Sinn führte er Kriege gegen Dänemark, Polen und Russland. Das eigentliche Motiv für seine Intervention in Deutschland war es daher, den Kaiser aus seiner neuen Machtposition in Norddeutschland zu vertreiben.

Ein weiteres war Satisfaktion, oder besser: Belohnung für die edlen Bemühungen, die sich in Form von Eroberungen am Südrand der Ostsee niederschlagen sollten, ob auf Kosten des Kaisers oder der Protestanten war dabei einerlei, zumal diese sich beharrlich weigerten, Gustav Adolfs Eingreifen mit Hilferufen zu legitimieren.

Es ging um materielle Gewinne, mit denen der König ein anderes Problem in den Griff bekommen wollte. Die Armee, die er für seine Großmachtpolitik aufgebaut hatte, wollte unterhalten werden, und das war ohne zusätzliche Einnahmequellen nicht möglich. Der Krieg sollte also auf Kosten Deutschlands geführt werden, schreibt der britische Historiker Peter H. Wilson. Denn, wie ein Mitglied des Reichstages bemerkte: „Es ist besser, die Ziege am Gatter des Nachbarn festzubinden als am eigenen.“

In diesem Sinn fand Schweden in Frankreich einen Partner, der ganz ähnlich dachte. Auch Armand-Jean du Plessis, 1er Duc de Richelieu, seit 1622 Kardinal und 1624 Erster Minister Ludwigs XIII. von Frankreich, war durch die Siege des Kaisers und seiner spanischen Verwandten in Madrid alarmiert worden. Um die neuerliche Umklammerung Frankreichs zu verhindern, suchte er dringend potente Partner im Reich.

Cardinal Richelieu by Philippe de Champaigne c. 1633-1640. - Armand Jean du Plessis de Richelieu. 1st Chief Minister of the French King. 9 September 1585 ? 4 December 1642. (Photo by Culture Club/Getty Images) Getty ImagesGetty Images  
Kardinal Armand Jean du Plessis de Richelieu (1585-1642)  

Die fand er zunächst im protestantischen Dänemark, das Richelieu als Gegengewicht aufzubauen suchte. Nach dessen Niederlage umgarnte der Kardinal Herzog Maximilian I. von Bayern als Haupt der katholischen Liga. Der hatte sich mit seiner Armee als wichtigster Helfer des Kaisers etabliert und zum Dank die Kurwürde seiner reformierten Vettern aus der Pfalz erhalten, die mit ihrer Niederlage am Weißen Berge bei Prag 1620 zu heimatlosen Flüchtlingen geworden waren.

Aber Maximilian widerstand Richelieus Avancen, obwohl der ihn mit der Kaiserkrone lockte. Vermutlich war er sich der Begrenztheit seiner Machtmittel wohl bewusst. Also rückte Schweden in den Pariser Fokus. Für Gustav Adolf verhandelte Gustaf Graf Horn, Richelieu schickte Hercule de Charnacé nach Bärenwalde, wo am 23. Januar 1631 der Vertrag unterzeichnet wurde.

Um die „unterdrückten Stände des Römischen Reiches“ und die „ Befestigungen und Bollwerke ... an den Gestaden beider Meere“ wieder „in den Stand“ zu bringen, „in dem sie vor dem Kriege gewesen sind“, sollte Schweden ein Heer von 30.000 Infanteristen und 6000 Reitern in Deutschland aufstellen. Zu dessen Unterhalt würde der König von Frankreich pro Jahr 400.000 Reichstaler aufbringen.

Das war eine gewaltige Summe, die gleichwohl ein Strukturproblem frühneuzeitlicher Armeen nur verschleierte: Sie waren hoffnungslos unterfinanziert. Daran änderte sich auch in diesem Fall nichts. Man hat errechnet, dass allein der schwedische Feldzug zwischen Mai 1631 und April 1632 2.200.000 Reichstaler verschlungen hat. Die trostlose Leere seiner Kriegskasse war daher für Gustav Adolf ein kräftiges Argument, sich zum Degen Frankreichs zu machen.

Jacques Callot (French, 1592 - 1635). L'Enrolment des Troupes, 1633. From The Large Miseries of War (Les Grandes Misères de la Guerre). Etching. Second state. | Verwendung weltweit 
Ein typisches Heerlager des Dreißigjährigen Krieges
Wenn man bedenkt, dass ein einziges Infanterieregiment allein an Sold rund 7000 Reichstaler im Monat kostete, also 84.000 im Jahr, wird deutlich, dass die französischen Subsidien allenfalls einen kleinen Teil der Kosten des Krieges deckten. Sie reichten aus, um das schwedische Heer vor dem Auseinanderfallen zu bewahren. Den stolzen Rest musste es sich aus dem Land holen, durch das es zog.

Nicht umsonst lässt der schwedische Historiker Peter Englund die Verwüstung Deutschlands mit dem französisch-schwedischen Bündnis beginnen. Mit ihm verließ der Konflikt die konfessionelle Frontlage des Reiches und wurde zu einem Ringen, in dem es um die Hegemonie in Europa ging. Dieser große Krieg wurde von Staaten geführt, die sich nicht mehr von dem rechten Glauben an Gott, sondern von ihrem Vorteil leiten ließen, der Staatsräson.


The Miseries of War, No. 11. The Hanging, 1633. Found in the collection of Wallraf-Richartz-Museum, Cologne. | Verwendung weltweit, Keine Weitergabe an Wiederverkäufer. Callot, Galgenbaum.
Nach 30 Jahren Krieg ist Deutschland 1648 ruiniert. Rund 40 Prozent der Bevölkerung sind Krieg, Hunger und Seuchen zum Opfer gefallen.

Selbst der Passus, der auf Wunsch Richelieus in den Vertrag von Bärwalde eingefügt worden war, folgte dieser Linie. Danach sollte „in den Gegenden, in denen sich die Übung der römischen katholischen Religion vorfindet, ... sie unangetastet bleiben“. Damit wollte der Kardinal vor allem verhindern, dass Schweden seinerseits eine hegemoniale Position in Deutschland aufbaute. Seine katholischen Glaubensgenossen kümmerten den Kardinal weniger.

So standen dem Pakt, der da in Bärwalde geschlossen wurde, zunächst Kalkül und Misstrauen Pate. Schweden wollte seine Handlungsfreiheit so wenig wie möglich einschränken lassen, Frankreich fürchtete, sein neuer Partner werde nun mit aller Macht über Deutschland herfallen. Doch bald erkannten beide Parteien, wie gut sie mit ihrem Bündnis fuhren. Obwohl auf fünf Jahre befristet, wurde es bereits 1633 in Heilbronn verlängert.

1635, als die protestantischen Reichsstände ihren Frieden mit dem Kaiser machten, trat Frankreich sogar offiziell an der Seite Schwedens in den Krieg ein, der nun endgültig Deutschland ruinierte. Im Westfälischen Frieden traten beide Mächte als Sieger auf. Auch in den folgenden Jahrzehnten verband Frankreich und Schweden das Ziel, ihre Gewinne im Reich zu halten. Als der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg wiederholt über schwedische Heere triumphierte, verhinderte Ludwig XIV. von Frankreich, dass ihm seine Siege größere Gewinne eintrugen.
Erst als Schweden in den Großen Nordischen Krieg (1700-1721) und Frankreich in den Spanischen Erbfolgekrieg (1701-1714) zogen, endete die Partnerschaft. Zu unterschiedlich waren die Kriegsziele. Ihr Bündnis passte nicht mehr zur Staatsräson.


Nota. - Wenn Historiker vom deutschen Sonderweg reden, meinen sie. grob gesagt, den Umstand, dass Deutsch- land sich anschickte, eine Nation überhaupt erst zu werden, als die europäischen Nachbarn sich längst zu nationalen Großmächten ausgebildet hatten. Deutschland kam also "zu spät" und musste in ein längst verteiltes Europa nachträglich hineindrängeln: was seine Entwicklung im Innern nachhaltig deformiert habe. 

Die Ursache war, man kann es gar nicht oft genug wiederholen, der Dreißigjährige Krieg. 

Der war aber auch nicht vom Himmel gefallen:

'Eigentlich hätte der Gegensatz zwischen Kaiser und Papst ein Hebel zur Ausbildung einer deutschen Nation sein müssen; wenn es nämlich nur um den Investiturstreit gegangen wäre. Es ging aber viel mehr um die Präsenz des Reichs in Italien, um derentwillen jeder Reichsfürst, der sich gegen den Kaiser stellte, auf einen mächtigen ultramontanen Verbündeten zählen konnte. 

Auf die Spitze getrieben wurde die Sache durch die Reformation, die den habsburgischen Kaiser zum Anführer der katholischen Partei und Gefolgsmann des Papstes machte. Der förderte die faktische Erblichkeit der Kaiserwürde, die aber nicht dem Reich, sondern Österreich zugute kam. Der Kaiser selbst wurde zum Ersten Reichsfeind.

Der Schlusspunkt war der Dreißigjährige Krieg. Die Protestanten holten den Schwedenkönig ins Land, und Habsburg konnte an einem deutschen Cromwell in Gestalt des Militärdiktators Wallenstein kein Interesse haben, so katholisch er sein mochte. Er wurde beseitigt. Im Ergebnis war Deutschland "nur noch ein geographischer Begriff".'