Mittwoch, 2. Januar 2019

Philosophie als wirtschaftliche Ressource.

al-Chwarizmi, Erfinder des Algorithmus

Marc Neumann schreibt in den Neuen Zürcher vom 27. 12. 2018 über einen höchst bemerkens- werten Aufschwung der Philosophie in den Vereinigten Staaten. Zwar erleben auch dort die Geisteswissenschaften zur Zeit einen Einbruch - nicht zuletzt, weil die Frauen, die dort lange Zeit dominierten, inzwischen in die männlichen Fächer überwechseln... 

Es gibt jedoch eine Ausnahme von der Regel: die Philosophie – jedenfalls, wenn man Medien wie «Business Insider», «Wired» oder «Forbes» glauben darf. Im Silicon Valley, liest man dort, würden Chief Philosophy Officers und praxisorientierte Philosophen reihenweise angestellt. Das kritische Hinterfragen der Geschäftsstrategie, analytisches Denken in komplexen Systemen, die Fähigkeit, präzis zu formulieren und den Blick aufs Ganze zu bewahren, seien entscheidende Voraussetzungen für Innovation und Profit.

Als Kronzeugen dienen beispielsweise der Linkedin-Mitgründer Reid Hoffman oder der Flickr-Gründer Stewart Butterfield, die beide ihr Philosophiestudium als entscheidend für ihren unternehmerischen Erfolg bezeichnen. Butterfield studierte unter anderem in Cambridge Wissenschaftstheorie und Philosophie des Geistes, Hoffman erwarb einen Master in Philosophie am Wolfson College in Oxford. Auch Peter Thiel, Mitgründer von Paypal und Facebook-Investor der ersten Stunde, gehört zum Klub der reichen Philosophen. Dem anthropologischen Philosophen René Girard attestiert Thiel prägenden Einfluss auf seine Entwicklung als Unternehmer und libertärer Denker.

Gemäss dem Jobinformationsportal Payscale haben frischgebackene Absolventen eines Philosophie-Bachelors mit jährlich 44 700 Dollar das höchste Anfangsgehalt aller Universitätsabgänger. Philosophen auf Masterniveau fangen gar mit einem Jahreseinkommen von gut 75 000 Dollar an. Mit Berufserfahrung verdienen Philosophen im Mittel 84 000 Dollar. Das ist mehr als das vom US Bureau of Economic Analysis auf 56 200 Dollar veranschlagte nationale Mittel von Berufstätigen mit Bachelorabschlüssen und liegt weit über dem Medianeinkommen von Arbeitern (dieses lag 2016 bei rund 32 000 Dollar).

In Harvard beispielsweise haben sich die Neueinschreibungen in Philosophie beinahe verdoppelt.

Das beliebteste Gerät im Fitnessstudio des Geistes ist die angewandte Ethik. Gemäss Alison Simmons beschäftigen die Studierenden derzeit besonders die ethischen Implikationen der technologischen und wirtschaftlichen Durchdringung unserer Lebenswelt, aber auch aktuelle Themen wie Diskriminierung nach Rasse, Geschlecht, Gender bis hin zu #MeToo. Deshalb habe das Philosophieseminar von Harvard den Studiengang Embedded EthiCS lanciert, der ethisches Grundwissen interdisziplinär im technologieaffinen Studiengang Computer Sciences verankere.

Michael Stynes, selbst studierter Philosoph und CEO des New Yorker Think-Tanks Jain Family Institute, rekrutiert sie direkt ab Fabrik, in diesem Fall von der Harvard University. Das Jain Institute berät Verwaltungsstellen beim Einsatz von künstlicher Intelligenz in hochautomatisierten administrativen Programmen. Für die Bewertung dieser KI-Systeme aus ethischer Sicht braucht Stynes Fachleute in digitaler Ethik.

Als Beispiel nennt er Suchtbehandlung und -prävention in epidemiologischen Modellen. Der maschinell lernende Algorithmus eines solchen Programms kann beispielsweise zum Schluss kommen, dass Schwerstsüchtige im Dienste des Therapieerfolgs aller Patienten isoliert werden sollten – da Schwerstabhängige ohnehin die geringsten Erfolgsaussichten haben und zudem die Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie bald an ihrer Sucht sterben. Hier sind gemäss Stynes «Philosophen gefragt, die die ethischen Implikationen der automatisierten Verwaltung verstehen», die lebensweltliche Kontexte einbringen und als Korrektiv wirken.

Für Stynes ist die digitale Ethik eine neuere Form angewandter Moralphilosophie – ähnlich wie die Anfang des Jahrtausends entwickelte Bioethik, die unter anderem bei der Genforschung zum Tragen kommt. Angesichts der fortschreitenden Digitalisierung im Gesundheits- oder im Versicherungswesen sowie in anderen Dienstleistungsbereichen wird er sich über mangelnde Anwendungsmöglichkeiten nicht beklagen können.

Auch jenseits von Top-Seminaren und coolen Startups in Manhattan spürt die Philosophie Aufwind – nicht zuletzt dank dem Mäzenatentum erfolgreicher Absolventen. Anfang Jahr kündigte der Financier Bill Miller eine Schenkung von 75 Millionen Dollar an das philosophische Seminar seiner Alma Mater, der Johns Hopkins University in Baltimore, an. Der Seminarvorsteher Richard Bett will damit das Lehrpersonal der philosophischen Fakultät an der für medizinische Forschung und Lehre weltbekannten Privatuniversität beinahe verdoppeln, von 13 auf 22. Denn die naturwissenschaftlich interessierten Studienanfänger brächten oft keinerlei Vorkenntnisse über Philosophie mit, so Bett. Dank der Millionenspende aber könne ihnen das entsprechende Rüstzeug vermittelt werden. Das Modell Fitnessstudio Philosophie scheint Schule zu machen.


Nota. - Halten wir zunächst einmal fest: Es ist nicht die Philosophie, die das Sprungbrett zur Karriere bietet. Es sind vielmehr gewisse skills, die man sich während eines (amerikanischen) Philosophiestudiums aneignet. Bei der Lektüre obigen Artikels werden wir Kontinentalen daher die Augenbrauen hochziehen. Sekundärtugenden an Stelle der Sache selbst! Als ob nicht die Angelsachsen ohnehin schon reichlich Verheerungen in der Philo- sophie angerichtet hätten...

Aber es ist doch bedenkenswert, dass es gerade die Digitalisierung ist, die in der Wirtschaft einen Bedarf an philosophisch Gebildeten weckt. Der Algorithmus versteht gar nichts, der Algorithmus kann nicht denken, er verrechnet bloß Daten, doch was die bedeuten, weiß er nicht und will er nicht wissen.

Das spricht sich langsam rum.

Aber Entscheidungen müssen nunmal getroffen werden, wenn man nicht HAL 9000 sich selbst überlassen will. Das sind nun keine Ingenieure mehr, die die Maschinen optimal funktionieren machen, sondern Leute, die ihnen sagen, was gewollt wird; nämlich damit sie einem Zweck dienen, den sie selber gotttlob nicht wählen können.

Die erste industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts hat dahin geführt, den ausführenden, muskulärenTeil der Arbeit den Maschinen zu übertragen. Die digitale Revolution ist im Begriff, nun auch einen Anteil der lebendi- gen Intelligenz, nämlich das Kombinieren und Verwalten, als 'Programm' zu kodieren und den Apparaten zu überlassen. "Als Spezifikum der wirklichen lebendigen Arbeit, das schlechterdings nicht digitalisiert und kyber- netisiert werden kann, ist am Ende des Prozesses allein der inventive, konzipierende Anteil der Intelligenz übrig geblieben: das lebendige Einbildungs- und Urteilsvermögen", schrieb ich vor Jahr und Tag.  

Das ist keine Sache für Spezialisten. Dafür braucht es umfassend gebildete Generalisten. Dass man die unter studierten Philosophen zu finden hofft, ist ja nicht falsch. Wenn das an den Hochschulen zur Ausbildung eines Fachs 'Angewandte Philosophie' führt, ist das nur zu begrüßen - weil es die Seminare entlastet, in denen wirk- lich philohophiert wird. Um die Benennung muss man nicht streiten.
JE

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