Freitag, 22. Februar 2019

Der europäische Sonderweg.

oder
Asiatische Weisheit und westliche Vernunft.


In Politik und Kulturbetrieb, vor allem aber in Geistesgeschichte und Ethnologie, hieß seit den 50er Jahren als Maßstab aufgeklärter Gewissenhaftigkeit das erste Gebot: Schluss mit dem Eurozentris- mus! Im Gefolge kamen in den 60ern Bhagwan und Hare Krishna nach Europa, dann New Age, der Multikulturalismus und der Überdruss an der grauen seelenlosen Vernunft.

In den Vereinigten Staaten hat letzterer inzwischen das Weiße Haus erobert und sich im Kongress breitgemacht. Europa beginnt, sich über seinen Platz in der Welt Sorgen zu machen, und es ist ausgerechnet Deutschland, auf das hoffnungsvolle Blicke gerichtet werden.

Von uns wird - weil ein anderer sich's nicht zutraut - erwartet, Europa wieder stark zu machen. Und zwar indem wir, sollte man meinen, uns darauf besinnen, was historisch unsere Stärke ist. Just in dem Moment, wo das bei uns selber gar nicht mehr unumstritten ist.
JE

aus Telepolis, 22. Februar 2019


Ist die europäische Diskussionskultur schon Geschichte? 
Der fließende Übergang zwischen Fakt und Fiktion ist für manche asiatische Gesellschaft Tagesgeschäft

von  

Die klassische Diskussion soll das Gegenüber nicht zwingend vom eigenen Standpunkt überzeugen, sondern zu einem Kompromiss oder der beidseitigen Erkenntnis führen, dass unterschiedliche Meinungen herrschen, wobei man zumindest die Gelegenheit hatte, den anderen Standpunkt kennen zu lernen. Was in Westeuropa über lange Zeit allgemein gültig war, gilt mitnichten weltweit und scheint auch in Europa an Bedeutung zu verlieren.

Als ich Anfang der 1990er-Jahre meine ersten Schritte in Fernost unternahm, weil die Nachfrage nach Informationen zu Erneuerbaren Energien und Energieeffizienz soweit angestiegen war, dass es geboten schien, entsprechende Informationsangebote vor Ort bereitzustellen, war ich ziemlich verblüfft ob der Begründung, warum man sich für diese Themen interessierte.


Man hatte erfahren, dass dies in Deutschland ein Thema sei und wollte das im eigenen Land auch, weil Erneuerbare und Energieeffizienz offensichtlich ein Zeichen von Modernität waren. Energieeinsparung war zuvor in China durch staatliche Heizverbote geregelt worden. Zwischen dem 32. und 34. nördlichen Breitengrad verlief die Heizungsgrenze. Nördlich davon wurde zwischen dem 15. November bis zum 15. März geheizt.

Südlich davon war das Heizen seit den 1950er-Jahren verboten, was für viele Betroffene kaum noch mit den allgemeinen Moderinsierungsfortschritten des Landes vereinbar schien. Argumentiert wurde mit dem Vorbild der europäischen Länder. Sachliche Argumente tauchten in den Gesprächen nicht auf. Wenn es dann zu Sache ging, bestand die Kernfrage darin, wer für die Kosten aufkommt. China hatte den Vorteil, dass man als Entwicklungsland auf Unterstützung aus Europa hoffen konnte.

Kausalketten

Kausalketten werden zumeist nur dann akzeptiert, wenn sie offensichtlich sind. So gab es bis zu königlich verordneten Modernisierung Anfang des 20. Jahrhunderts in Thailand keine Familiennamen. Die Verwandtschaftsbeziehungen bestanden nur zwischen Müttern und Kindern sowie zwischen Geschwistern. Der Rest war nicht offensichtlich.

Noch heute werden kaum zu leugnende Zusammenhänge mit Vorliebe ignoriert. Traditionell wird der Klebreis im Dampfbad über dem offenen Feuer zubereitet. Das Feuer wird mittels Stücken aus alten Autoreifen angezündet, was dem Reis die entsprechende Farbe und den Rauchgeschmack verschafft. 

Dass Lungenkrebs bei Frauen, die das Essen so zubereiten, zu den Haupttodesursachen zählt, verwundert nur dann nicht, wenn Kausalketten auf eine direkte Auswirkung beschränkt sind. Umweltfreundlichere Anzündemöglichkeiten für das tägliche Feuer setzen sich nur dann durch, wenn sie billiger als alte Autoreifen sind.

Mit einer klassischen humanistischen Ausbildung ins Leben geschickt, war für mich das Zusammentreffen mit einem Umfeld, das sich durch das Fehlen jeglicher Argumentations- und Diskussionskultur auszeichnet, durchaus eine Art von Kulturschock.

Da war ich im Übrigen gar nicht so alleine. Entwicklungshilfeprojekte machten die fehlende Wirksamkeit fachlicher Argumente zumeist mit finanziellen Mitteln wett. Um die zuhause erwarteten Erfolge zu erzielen, musste man die lokalen Partner bezahlen und das möglichst so, dass es zuhause nicht als Korruption wahrgenommen wurde. Wenn man über ein ausreichendes Zeitbudget verfügt, kann man auch durch vorbildhaftes Verhalten einiges bewirken.

Warum ist die Argumentations- und Diskussionskultur in Europa beheimatet?

Da muss man ein wenig in der Geschichte kramen und wird bei Platon fündig, von dem erste Ansätze einer Argumentationslehre überliefert sind. Eine erste ausgearbeitete Argumentationstheorie findet man dann in den Schriften seines Schülers und Kritikers Aristoteles. Mit einem gewaltigen Sprung auf der Zeitschiene landet man dann im Zeitalter der Aufklärung, das zumeist von 1650 bis 1800 angesetzt wird, als die Vernunft als universelle Urteilsinstanz zur Anwendung kommt.

Auf dieser Basis hat sich einerseits die Kultur der Diskussion und andererseits die der Debatte entwickelt, die heute vielfach synonym benutzt werden, sich jedoch in ihrer Charakteristik deutlich unterscheiden. Während die Diskussion auf einen Kompromiss zielt, dient die Debatte, wie sie in Parlamenten üblich ist, zur Präsentation der eigenen Ansichten, über welche dann abgestimmt werden kann.

Mit Hilfe der Vernunft und der Naturwissenschaften wurde in der Folge der Aufklärung die Welt neu betrachtet und sortiert und so manches Phänomen, welches zuvor dem Wirken eines höheren Wesens zugeschrieben worden war, erhielt eine rationale Erklärung. Dass sich nicht zuletzt die Kirchen gegen den zunehmenden Verlust ihrer Erklärkompetenz wehrten, ist durchaus nachvollziehbar.

Im Bildungsbürgertum konnten wissenschaftliche Erklärungen zunehmend Raum greifen. Dies galt zumindest, solange die neu gewonnenen Erkenntnisse dabei halfen, die kleine Welt um die Menschen herum zu verstehen. Mit der Globalisierung kam diese kleine Welt jedoch unter die Räder.

Kein "wahr" oder "unwahr", "richtig" oder "falsch"

Je komplexer die Erklärung der Welt wurde und je weniger sie für den Einzelnen nachvollziehbar wurde, desto stärker wurde auch im Westen wieder die Suche nach Vorbildern aufgenommen. Da Text für zahlreiche Zeitgenossen als leicht zu fälschendes Medium gilt und kaum noch jemand Texte auswendig lernen kann, um sie mit niedergeschriebenen Versionen zu vergleichen, wird auch in Europa als Quelle und Beleg für eine Aussage in zunehmender Weise auf Videos zurückgegriffen.
 

Dabei übersehen die meisten, dass Videos heute sehr professionell gerendert werden können und mittels der Lichtfeldtechnik ein fließender Übergang zwischen Fakt und Fiktion möglich ist, der praktisch nicht mehr zu erkennen ist. Aus Fake News werden so mit durchaus überschaubarem Aufwand Fake Videos.

Der fließende Übergang zwischen Fakt und Fiktion, an welchen sich die Bewohner der westlichen noch nicht gewöhnt haben, ist für manche asiatische Gesellschaft Tagesgeschäft und die jeweils spezifische Bewertung davon abhängig, wem eine bestimmte Äußerung zugeschrieben wird.

Es gibt in diesem Zusammenhang kein wahr oder unwahr, richtig oder falsch, sondern letztlich nur das Kriterium glaubhaft und das ist jeweils sehr subjektiv und situationsbezogen. So werden die zwei Kinder einer befreundeten Familie, für welche ich die Ausbildung bezahle, von Fall zu Fall als meine Kinder bezeichnet, die bei mir in Deutschland leben, obwohl sich beide dauerhaft in Fernost aufhalten.

Die europäische Forderung, dass Informationen objektiv und überprüfbar sein sollen, geht an der fernöstlichen Situation weitestgehend vorbei. Wer mit der Situation in Fernost vertraut ist, kann übrigens auch ganz gut mit der in Europa wachsenden Entwicklung umgehen, welche rein subjektive Aussagen als objektiv richtig und wahr bezeichnet, was einer rationalen Argumentation und somit jeglicher Diskussion den Boden entzieht.



Nota. - Auf 1650 datiert er den Anbruch des Vernunftzeitalters - in Europa. Man kann es sogar genauer sagen, denn es wurde darüber eine Akte angelegt: Das war der in Münster und Osnabrück besiegelte Westfälische Frieden, in dem der Grundstein des Völkerrechts gelegt und zum obersten Richter in allen irdischen Angelegenheiten die Vernunft eingesetzt wurde.

Damit fing sie erst an. Zuerst eine Sache von Diplomaten und Gelehrten, dann der gebildeten Klassen und ihrer Salons, dann der Literaten, und schließlich am 14. Juli 1789 eine Sache "des Volkes". Das war seither kein gerader breiter Weg, er hat Perepetien und Katastrophen gehabt, aber überstanden hat sie sie bislang doch alle und ist, das darf man staunend feststellen, stärker daraus hervorgegangen. An den paar übellaunigen Garten- zwergen und den ihnen kaum überlegenen politisch korrekten Flaumachern unserer Tage wird sie schon gar nicht zugrunde gehen. Aber ein paar Scharfmacher wird sie schon brauchen, so war es immer.
JE


 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen