Progressive Industriepolitik, gesellschaftliche Prinzipien
Wirtschaftsminister
Altmaier hat eine Debatte über Industriepolitik losgetreten. Welche
progressiven Alternativen gibt es? Ein Vorschlag der italienischen
Ökonomen Pianta, Lucchese und Nascia.
von Tom Strohschneider
Die Debatte über Peter Altmaiers Industriestrategie oszilliert zwischen ordnungspolitischer Abwehr und standortpolitischen Zielen. Die Frage, wie es um progressive Alternativen jenseits von »Lasst es den Markt richten« und »neuen Systemkonkurrenz mit China« bestellt ist, hatten wir hier schon kurz angesprochen. An dieser Stelle soll auf einen bereits vorliegenden Vorschlag eingegangen werden, den drei italienische Ökonomen vor gut zwei Jahren für das Brüsseler Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in einem 104-seitigen Papier formuliert haben.
Die Gedanken dazu gehen auf Skizzen von Mario Pianta zurück, die bei einer Konferenz in London 2013 vorgestellt wurden und sich auch im Abschnitt über Industriepolitik im EuroMemorandum-Bericht 2014 wiederfinden. Pianta ist Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität von Urbino, Matteo Lucchese war dort Lehrbeauftragter mit dem Forschungsschwerpunkt Industrie und Innovation und Leopoldo Nascia ist Mitarbeiter beim italienischen Statistikamt ISTAT in Rom. Die Frage, der sie nachgehen, ist europapolitisch zugespitzt: Welchen Spielraum bietet der aktuelle Rechtsrahmen der EU für eine progressive Industriepolitik?
Wer darüber schreibt, muss aber zunächst einmal die Grundzüge eines alternativen Ansatzes kennen. Außerdem sind alternative Ansätze, die gleich die europäische Ebene adressieren, sinnvoller, weil die nationalstaatliche Begrenztheit sozusagen gleich »überwunden« wird. Um die Grundzüge eines solchen Ansatzes dreht sich das zweite Kapitel in der Studie, das hier kurz vorgestellt wird.
Dekalog von Prinzipien
»Eine Rückkehr zu einer aktiveren Industriepolitik ist für Europa unverzichtbar. Aber wie soll diese aussehen?«, fragen Pianta, Lucchese und Nascia. »Eine schlichte Rückkehr zu der Politik und den institutionellen Arrangements der Nachkriegsjahrzehnte ist nicht möglich. Vielmehr ist eine neue Reihe von Grundsätzen, ökonomischen Argumenten und politischen Rechtfertigungen mit klar definierten Zielen und Instrumenten zur Umsetzung dieser Politik notwendig.«
Zu den Grundlogiken von Industriepolitik zählen die Autoren, »dass damit die wirtschaftliche Entwicklung auf Aktivitäten gelenkt werden kann, die ökonomisch wünschenswert sind (weil sie eine größere Leistungsfähigkeit mit sich bringen), in sozialer Hinsicht sinnvoll sind (weil sie Bedürfnisse adressieren und Ungleichheit abbauen helfen), aus ökologischer Perspektive zu begrüßen sind (weil sie Nachhaltigkeit und Klimaschutz fördern) und auch politisch zu befürworten sind (weil sie wichtige nationale und europäische Interessen schützen).«
Die Studie geht davon aus, dass »die wirtschaftlichen Leitgedanken, von denen Industriepolitik seit jeher bestimmt wurde«, alle mit dem Bestreben zu tun haben, »die Effizienz zu erhöhen«. Damit hätte man aber noch keine »andere« Industriepolitik – hier schlagen die Autoren »einen Dekalog von Prinzipien« vor, der Orientierung bieten soll, »in welche Richtung sich eine progressive europäische Industriepolitik in Zukunft entwickeln sollte«.
Industriepolitik hat grob gesprochen zwei Ziele: Erstens »statische Effizienz: Ein zentrales Anliegen von Wirtschaftspolitik ist – in kurzfristiger Perspektive – die möglichst effiziente Nutzung vorhandener Ressourcen. Dies bedeutet, dass Kapital und Arbeitskräfte nicht unbeschäftigt bleiben, sondern auf möglichst produktive Aktivitäten ausgerichtet werden sollten, und dass die inländischen Produktionskapazitäten stärker auf die zu erwartende Nachfrage abzustimmen sind.«
Zweitens: »Dynamische Effizienz«. Dieser Punkt läuft darauf hinaus, dass »Industriepolitik wesensgemäß auf wirtschaftliche Tätigkeiten« abzielt, »die man weiterentwickeln und ausbauen will«. Hierzu wiederum ist eine Vorstellung von den gesellschaftlichen Zielen nötig, zu deren Erreichen diese Weiterentwicklung sinnvoll ist. Die Studie betont hier, dass konzentrierte Maßnahmen jenen bisher dominierenden Ansatz ersetzen müssten, »der die Entscheidungsmacht über die Entwicklung der europäischen Wirtschaft weitgehend dem Markt überlassen hat (das heißt den mächtigsten Unternehmen)«.
Pianta, Lucchese und Nascia weiter: »Wenn wir über eine progressive Industriepolitik sprechen, müssen wir zusätzlich zu den beiden oben skizzierten Effizienzkriterien die Prinzipien benennen, die eine solche Politik anleiten sollen. Wir halten acht weitere Kriterien für grundlegend.« Diese Kriterien basieren allesamt auf dem Grundgedanken des gesellschaftlichen Interesses (im Unterschied zu einer dem Markt überlassenen oder das private Aneignungsinteresse stützenden Entwicklung wie bisher).
Zugrunde liegt die »Überlegung, dass Wirtschaftsbereiche und -tätigkeiten nur dann förderungswürdig sind, wenn sie sich durch eine besondere ›gesellschaftliche Qualität‹ auszeichnen, womit gemeint ist, dass sie Teil eines neuen demokratischen politischen Prozesses sind und dass die von ihnen entwickelten und angewandten Technologien sich positiv auf die Art der Produktion, die Arbeitsplätze und die Umwelt auswirken und dazu beitragen, dass Gewinne gerechter verteilt werden«.
Damit ist der Rahmen schon gezogen, die weitere Liste der Prinzipien entspricht dieser Grundidee: »Erweiterung der Demokratie, Begrenzung privater ökonomischer Macht: Ein zentrales Element progressiver Industriepolitik sind demzufolge Interventionen der öffentlichen Hand, die neue Räume für demokratische Praxen eröffnen… Die Institutionen der neuen Industriepolitik, ihre Verwaltungs- und Kontrollstrukturen sowie die von ihnen angewendeten Verfahren, an denen verschiedene gesellschaftliche Kräfte beteiligt sein sollten, müssen demokratischen Grundprinzipien wie Partizipation, Repräsentativität und Diffusion von Macht genügen.«
»Entwicklung angemessener Technologien: Gesellschaftlich schädliche Auswirkungen dieses Technologiewandels müssen zurückgedrängt werden, und eine progressive Industriepolitik sollte nur den Ausbau solcher Technologien befördern, die mit all den hier aufgeführten Prinzipien in Einklang stehen. Vor allem ist auf ökologische Nachhaltigkeit zu achten und darauf, welche Auswirkungen sie auf die Beschäftigten haben.« Das heißt auch, so Pianta, Lucchese und Nascia, den Technologiewandel derart zu »lenken, dass damit sowohl kommerzielle als auch nicht kommerzielle Tätigkeiten von größerem öffentlichen Interesse« gefördert werden, und zwar nicht zuletzt in den Bereichen, in denen »nicht marktförmige Ansätze und Praxen« schon zu finden sind, etwa des freien Wissensaustausches, Open-Source-Software, Peer-to-Peer-Verfahren etc.
Nächstes Prinzip: »Mehr ökologische Nachhaltigkeit«. Eine progressive Industriepolitik müsste »der Verbesserung der ökologischen Nachhaltigkeit oberste Priorität einräumen. Das bedeutet, dass sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite erhebliche Veränderungen stattfinden müssen. Die VerbraucherInnen müssen bescheidener werden, mehr Verantwortung übernehmen und ihre Konsummuster an den Zielen ökologischer Nachhaltigkeit und Stärkung lokaler Produktions- und Distributionsstrukturen ausrichten.«
Dazu braucht es aber auch sozialer, materieller Voraussetzungen, weshalb das nächste Prinzip das der »Gerechteren Gewinnverteilung« ist: »Zu den Vorzügen einer aktiven Industriepolitik zählt auch die Möglichkeit, niedrigere Preise für die neuen Produkte und Dienstleistungen für all diejenigen BürgerInnen, VerbraucherInnen und Unternehmen zu verlangen, die diese als Zwischengüter oder Vorleistungen für ihre eigene Produktion oder Wirtschaftstätigkeit erwerben müssen. Industriepolitische Programme sollten auch diese Dimensionen berücksichtigen«, so Pianta, Lucchese und Nascia.
Als »Machtbegrenzung des Finanzwesens« wird das nächste Prinzip überschrieben: »Eine neue Industriepolitik sollte Teil eines umfassenderen Regel- und Kontrollwerks sein, mit dem der Einfluss des Finanzsektors eingeschränkt werden könnte und eine Umorientierung der Geschäftspraktiken verbunden wäre. Priorität sollten Investitionen in die Produktion erhalten, während Finanzspekulationen, eine extrem hohe Vergütung von Topmanagern und eine ausgesprochen ungleiche Lohnverteilung negativ zu sanktionieren sind.«
»Abrüstung der Wirtschaft« ist ein weiteres der skizzierten Prinzipien, es gehe darum, »die Abhängigkeit der europäischen Volkswirtschaften von der Rüstungsindustrie zu verringern. Die Umstellung der Waffenproduktion auf die Herstellung ziviler Güter sollte ein wichtiges Ziel von industriepolitischen Programmen in Europa sein.« Ebenso: »Beschäftigungsförderung: Industriepolitik muss derart gestaltet sein, dass sie sich positiv auf die Beschäftigungsentwicklung auswirkt.« Und als nächstes: »Förderung einer ausgewogenen Entwicklung in Europa«. Hier geht es darum, den Ergebnissen von Marktprozessen zu begegnen, die »eine zunehmende Polarisierung zwischen ›Zentrum‹ und ›Peripherie‹, zwischen Regionen, in der sich Wirtschaftskraft konzentriert, und marginalisierten, im Niedergang begriffenen Gebieten« bewirken. Dazu wäre eine Industriepolitik nötig, die für »eine ausgewogenere ökonomische Entwicklung in den europäischen Ländern und Regionen und für eine Angleichung der ökonomischen, sozialen und ökologischen Bedingungen innerhalb der EU« sorgt.
Mit der Formulierung solcher Prinzipien belassen es Pianta, Lucchese und Nascia aber nicht, sie schlagen auch Schwerpunkte einer progressiven Industriepolitik vor: Umwelt und Energie, Gesundheit und Soziales, Wissen sowie Informations- und Kommunikationstechnologien. Außerdem geht es in ihrem Vorschlag auch um mögliche Instrumente einer progressiven Industriepolitik, die »unter Berücksichtigung von Theorie und Praxis der Industriepolitik und konkreten Erfahrungen in den Nachkriegsjahrzehnten« als »besonders wichtig und geeignet zu sein« scheinen.
Hier nennen Pianta, Lucchese und Nascia als erstes »öffentliche Unternehmen und Organisationen«. Es müsse »gewährleistet sein, dass dieser Sektor vor zu starker politischer Einflussnahme und wirtschaftlichen Partikularinteressen geschützt ist. Zweitens sollten die Entscheidungsprozesse auf ein klares politisches Mandat gestützt sein. Das heißt, es bedarf umfangreicher parlamentarischer Auseinandersetzungen über die Kontroll- und Verwaltungsstrukturen.« Und »drittens ist eine umfassende Transparenz aller gesellschaftlich relevanten Operationen dieser Unternehmen anzustreben, sodass sich die Öffentlichkeit etwa mithilfe von Open-Data-Mechanismen von deren Aufgabenerfüllung ein Bild machen und Rückmeldungen geben kann.« Viertens müssten »verstärkt Vorkehrungen getroffen werden, um Korruption zu verhindern«.
Als zweites Instrument werden »öffentliche Investitionsbanken« genannt, die »Schlüsselinstitutionen« für eine progressive Industriepolitik seien. Sie seien »dazu da, um Anteile an den von der Industriepolitik geförderten neuen Betriebe zu übernehmen und um private Unternehmen, die in diesen Initiativen eine wichtige Rolle spielen, mit benötigten Krediten zu versorgen. Eine europaweite Bank für öffentliche Investitionen und ähnliche nationale Institutionen könnten Kapital und langfristige Kredite zur Verfügung stellen und sich an solchen Unternehmen beteiligen, die ein überzeugendes Konzept zur Produktions- und Beschäftigungsentwicklung in besonders förderungswürdigen Bereichen und Regionen vorlegen.«
Ein drittes Instrument: »Öffentliche Aktivitäten im Bereich Forschung und Entwicklung«. Hier meinen Pianta, Lucchese und Nascia, dass »der gezielte Aufbau von Forschungskapazitäten und Kompetenzen in den oben genannten Bereichen durch die öffentliche Hand und eine breite gesellschaftliche Diskussion über die hierbei zu setzenden Prioritäten« deshalb so wichtig seien, weil »diesbezüglich wichtige Entscheidungen nicht einfach dem von Gewinninteressen bestimmten privatwirtschaftlichen Sektor« überlassen werden dürften. Ein weiteres Instrument, das die Autoren nennen: »Öffentliche Auftragsvergabe«.
Soweit ein kurzer Überblick. »Wir sollten möglichst bald mit einer solchen Debatte über die von uns angestrebte Industriepolitik in Europa beginnen«, schreiben die Autoren abschließend. »Es gibt viel an Anregungen, Ideen und bereits recht konkret ausformulierten Vorschlägen zu diskutieren. Es müssen in den nächsten Monaten und Jahren viele wichtige Entscheidungen getroffen werden. Die von uns skizzierte Industriepolitik kann nur unter der Bedingung umgesetzt werden, dass ein weitreichendes politisches Umdenken einsetzt und viele Veränderungen stattfinden. Es könnte sich jedoch lohnen.«
Nota. - Dass die postrevolutionäre Linke gegen staatliche Industriepolitik weniger einzuwenden hat als die Sprecher der Wirtschaftsverbände und ihre doktrinär liberalen Wirtschaftsprofessoren, kann nicht überraschen. Aber das ist sachlich ohne Belang. Es geht (längst) nicht (mehr) darum, zwischen (obsoleten) Extremen eine goldene Mitte zu finden, sondern darum, von Altlasten unbeschwert das herauszufinden, was nottut. Das ist die Aufgabe eines Wirtschaftsministers, und wenn er mal Applaus von der falschen Seite bekommt, sollte ihn das eher ermuntern als einschüchtern.
JE
von Tom Strohschneider
Die Debatte über Peter Altmaiers Industriestrategie oszilliert zwischen ordnungspolitischer Abwehr und standortpolitischen Zielen. Die Frage, wie es um progressive Alternativen jenseits von »Lasst es den Markt richten« und »neuen Systemkonkurrenz mit China« bestellt ist, hatten wir hier schon kurz angesprochen. An dieser Stelle soll auf einen bereits vorliegenden Vorschlag eingegangen werden, den drei italienische Ökonomen vor gut zwei Jahren für das Brüsseler Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in einem 104-seitigen Papier formuliert haben.
Die Gedanken dazu gehen auf Skizzen von Mario Pianta zurück, die bei einer Konferenz in London 2013 vorgestellt wurden und sich auch im Abschnitt über Industriepolitik im EuroMemorandum-Bericht 2014 wiederfinden. Pianta ist Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität von Urbino, Matteo Lucchese war dort Lehrbeauftragter mit dem Forschungsschwerpunkt Industrie und Innovation und Leopoldo Nascia ist Mitarbeiter beim italienischen Statistikamt ISTAT in Rom. Die Frage, der sie nachgehen, ist europapolitisch zugespitzt: Welchen Spielraum bietet der aktuelle Rechtsrahmen der EU für eine progressive Industriepolitik?
Wer darüber schreibt, muss aber zunächst einmal die Grundzüge eines alternativen Ansatzes kennen. Außerdem sind alternative Ansätze, die gleich die europäische Ebene adressieren, sinnvoller, weil die nationalstaatliche Begrenztheit sozusagen gleich »überwunden« wird. Um die Grundzüge eines solchen Ansatzes dreht sich das zweite Kapitel in der Studie, das hier kurz vorgestellt wird.
Dekalog von Prinzipien
»Eine Rückkehr zu einer aktiveren Industriepolitik ist für Europa unverzichtbar. Aber wie soll diese aussehen?«, fragen Pianta, Lucchese und Nascia. »Eine schlichte Rückkehr zu der Politik und den institutionellen Arrangements der Nachkriegsjahrzehnte ist nicht möglich. Vielmehr ist eine neue Reihe von Grundsätzen, ökonomischen Argumenten und politischen Rechtfertigungen mit klar definierten Zielen und Instrumenten zur Umsetzung dieser Politik notwendig.«
Zu den Grundlogiken von Industriepolitik zählen die Autoren, »dass damit die wirtschaftliche Entwicklung auf Aktivitäten gelenkt werden kann, die ökonomisch wünschenswert sind (weil sie eine größere Leistungsfähigkeit mit sich bringen), in sozialer Hinsicht sinnvoll sind (weil sie Bedürfnisse adressieren und Ungleichheit abbauen helfen), aus ökologischer Perspektive zu begrüßen sind (weil sie Nachhaltigkeit und Klimaschutz fördern) und auch politisch zu befürworten sind (weil sie wichtige nationale und europäische Interessen schützen).«
Die Studie geht davon aus, dass »die wirtschaftlichen Leitgedanken, von denen Industriepolitik seit jeher bestimmt wurde«, alle mit dem Bestreben zu tun haben, »die Effizienz zu erhöhen«. Damit hätte man aber noch keine »andere« Industriepolitik – hier schlagen die Autoren »einen Dekalog von Prinzipien« vor, der Orientierung bieten soll, »in welche Richtung sich eine progressive europäische Industriepolitik in Zukunft entwickeln sollte«.
Industriepolitik hat grob gesprochen zwei Ziele: Erstens »statische Effizienz: Ein zentrales Anliegen von Wirtschaftspolitik ist – in kurzfristiger Perspektive – die möglichst effiziente Nutzung vorhandener Ressourcen. Dies bedeutet, dass Kapital und Arbeitskräfte nicht unbeschäftigt bleiben, sondern auf möglichst produktive Aktivitäten ausgerichtet werden sollten, und dass die inländischen Produktionskapazitäten stärker auf die zu erwartende Nachfrage abzustimmen sind.«
Zweitens: »Dynamische Effizienz«. Dieser Punkt läuft darauf hinaus, dass »Industriepolitik wesensgemäß auf wirtschaftliche Tätigkeiten« abzielt, »die man weiterentwickeln und ausbauen will«. Hierzu wiederum ist eine Vorstellung von den gesellschaftlichen Zielen nötig, zu deren Erreichen diese Weiterentwicklung sinnvoll ist. Die Studie betont hier, dass konzentrierte Maßnahmen jenen bisher dominierenden Ansatz ersetzen müssten, »der die Entscheidungsmacht über die Entwicklung der europäischen Wirtschaft weitgehend dem Markt überlassen hat (das heißt den mächtigsten Unternehmen)«.
Pianta, Lucchese und Nascia weiter: »Wenn wir über eine progressive Industriepolitik sprechen, müssen wir zusätzlich zu den beiden oben skizzierten Effizienzkriterien die Prinzipien benennen, die eine solche Politik anleiten sollen. Wir halten acht weitere Kriterien für grundlegend.« Diese Kriterien basieren allesamt auf dem Grundgedanken des gesellschaftlichen Interesses (im Unterschied zu einer dem Markt überlassenen oder das private Aneignungsinteresse stützenden Entwicklung wie bisher).
Zugrunde liegt die »Überlegung, dass Wirtschaftsbereiche und -tätigkeiten nur dann förderungswürdig sind, wenn sie sich durch eine besondere ›gesellschaftliche Qualität‹ auszeichnen, womit gemeint ist, dass sie Teil eines neuen demokratischen politischen Prozesses sind und dass die von ihnen entwickelten und angewandten Technologien sich positiv auf die Art der Produktion, die Arbeitsplätze und die Umwelt auswirken und dazu beitragen, dass Gewinne gerechter verteilt werden«.
Damit ist der Rahmen schon gezogen, die weitere Liste der Prinzipien entspricht dieser Grundidee: »Erweiterung der Demokratie, Begrenzung privater ökonomischer Macht: Ein zentrales Element progressiver Industriepolitik sind demzufolge Interventionen der öffentlichen Hand, die neue Räume für demokratische Praxen eröffnen… Die Institutionen der neuen Industriepolitik, ihre Verwaltungs- und Kontrollstrukturen sowie die von ihnen angewendeten Verfahren, an denen verschiedene gesellschaftliche Kräfte beteiligt sein sollten, müssen demokratischen Grundprinzipien wie Partizipation, Repräsentativität und Diffusion von Macht genügen.«
»Entwicklung angemessener Technologien: Gesellschaftlich schädliche Auswirkungen dieses Technologiewandels müssen zurückgedrängt werden, und eine progressive Industriepolitik sollte nur den Ausbau solcher Technologien befördern, die mit all den hier aufgeführten Prinzipien in Einklang stehen. Vor allem ist auf ökologische Nachhaltigkeit zu achten und darauf, welche Auswirkungen sie auf die Beschäftigten haben.« Das heißt auch, so Pianta, Lucchese und Nascia, den Technologiewandel derart zu »lenken, dass damit sowohl kommerzielle als auch nicht kommerzielle Tätigkeiten von größerem öffentlichen Interesse« gefördert werden, und zwar nicht zuletzt in den Bereichen, in denen »nicht marktförmige Ansätze und Praxen« schon zu finden sind, etwa des freien Wissensaustausches, Open-Source-Software, Peer-to-Peer-Verfahren etc.
Nächstes Prinzip: »Mehr ökologische Nachhaltigkeit«. Eine progressive Industriepolitik müsste »der Verbesserung der ökologischen Nachhaltigkeit oberste Priorität einräumen. Das bedeutet, dass sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite erhebliche Veränderungen stattfinden müssen. Die VerbraucherInnen müssen bescheidener werden, mehr Verantwortung übernehmen und ihre Konsummuster an den Zielen ökologischer Nachhaltigkeit und Stärkung lokaler Produktions- und Distributionsstrukturen ausrichten.«
Dazu braucht es aber auch sozialer, materieller Voraussetzungen, weshalb das nächste Prinzip das der »Gerechteren Gewinnverteilung« ist: »Zu den Vorzügen einer aktiven Industriepolitik zählt auch die Möglichkeit, niedrigere Preise für die neuen Produkte und Dienstleistungen für all diejenigen BürgerInnen, VerbraucherInnen und Unternehmen zu verlangen, die diese als Zwischengüter oder Vorleistungen für ihre eigene Produktion oder Wirtschaftstätigkeit erwerben müssen. Industriepolitische Programme sollten auch diese Dimensionen berücksichtigen«, so Pianta, Lucchese und Nascia.
Als »Machtbegrenzung des Finanzwesens« wird das nächste Prinzip überschrieben: »Eine neue Industriepolitik sollte Teil eines umfassenderen Regel- und Kontrollwerks sein, mit dem der Einfluss des Finanzsektors eingeschränkt werden könnte und eine Umorientierung der Geschäftspraktiken verbunden wäre. Priorität sollten Investitionen in die Produktion erhalten, während Finanzspekulationen, eine extrem hohe Vergütung von Topmanagern und eine ausgesprochen ungleiche Lohnverteilung negativ zu sanktionieren sind.«
»Abrüstung der Wirtschaft« ist ein weiteres der skizzierten Prinzipien, es gehe darum, »die Abhängigkeit der europäischen Volkswirtschaften von der Rüstungsindustrie zu verringern. Die Umstellung der Waffenproduktion auf die Herstellung ziviler Güter sollte ein wichtiges Ziel von industriepolitischen Programmen in Europa sein.« Ebenso: »Beschäftigungsförderung: Industriepolitik muss derart gestaltet sein, dass sie sich positiv auf die Beschäftigungsentwicklung auswirkt.« Und als nächstes: »Förderung einer ausgewogenen Entwicklung in Europa«. Hier geht es darum, den Ergebnissen von Marktprozessen zu begegnen, die »eine zunehmende Polarisierung zwischen ›Zentrum‹ und ›Peripherie‹, zwischen Regionen, in der sich Wirtschaftskraft konzentriert, und marginalisierten, im Niedergang begriffenen Gebieten« bewirken. Dazu wäre eine Industriepolitik nötig, die für »eine ausgewogenere ökonomische Entwicklung in den europäischen Ländern und Regionen und für eine Angleichung der ökonomischen, sozialen und ökologischen Bedingungen innerhalb der EU« sorgt.
Mit der Formulierung solcher Prinzipien belassen es Pianta, Lucchese und Nascia aber nicht, sie schlagen auch Schwerpunkte einer progressiven Industriepolitik vor: Umwelt und Energie, Gesundheit und Soziales, Wissen sowie Informations- und Kommunikationstechnologien. Außerdem geht es in ihrem Vorschlag auch um mögliche Instrumente einer progressiven Industriepolitik, die »unter Berücksichtigung von Theorie und Praxis der Industriepolitik und konkreten Erfahrungen in den Nachkriegsjahrzehnten« als »besonders wichtig und geeignet zu sein« scheinen.
Hier nennen Pianta, Lucchese und Nascia als erstes »öffentliche Unternehmen und Organisationen«. Es müsse »gewährleistet sein, dass dieser Sektor vor zu starker politischer Einflussnahme und wirtschaftlichen Partikularinteressen geschützt ist. Zweitens sollten die Entscheidungsprozesse auf ein klares politisches Mandat gestützt sein. Das heißt, es bedarf umfangreicher parlamentarischer Auseinandersetzungen über die Kontroll- und Verwaltungsstrukturen.« Und »drittens ist eine umfassende Transparenz aller gesellschaftlich relevanten Operationen dieser Unternehmen anzustreben, sodass sich die Öffentlichkeit etwa mithilfe von Open-Data-Mechanismen von deren Aufgabenerfüllung ein Bild machen und Rückmeldungen geben kann.« Viertens müssten »verstärkt Vorkehrungen getroffen werden, um Korruption zu verhindern«.
Als zweites Instrument werden »öffentliche Investitionsbanken« genannt, die »Schlüsselinstitutionen« für eine progressive Industriepolitik seien. Sie seien »dazu da, um Anteile an den von der Industriepolitik geförderten neuen Betriebe zu übernehmen und um private Unternehmen, die in diesen Initiativen eine wichtige Rolle spielen, mit benötigten Krediten zu versorgen. Eine europaweite Bank für öffentliche Investitionen und ähnliche nationale Institutionen könnten Kapital und langfristige Kredite zur Verfügung stellen und sich an solchen Unternehmen beteiligen, die ein überzeugendes Konzept zur Produktions- und Beschäftigungsentwicklung in besonders förderungswürdigen Bereichen und Regionen vorlegen.«
Ein drittes Instrument: »Öffentliche Aktivitäten im Bereich Forschung und Entwicklung«. Hier meinen Pianta, Lucchese und Nascia, dass »der gezielte Aufbau von Forschungskapazitäten und Kompetenzen in den oben genannten Bereichen durch die öffentliche Hand und eine breite gesellschaftliche Diskussion über die hierbei zu setzenden Prioritäten« deshalb so wichtig seien, weil »diesbezüglich wichtige Entscheidungen nicht einfach dem von Gewinninteressen bestimmten privatwirtschaftlichen Sektor« überlassen werden dürften. Ein weiteres Instrument, das die Autoren nennen: »Öffentliche Auftragsvergabe«.
Soweit ein kurzer Überblick. »Wir sollten möglichst bald mit einer solchen Debatte über die von uns angestrebte Industriepolitik in Europa beginnen«, schreiben die Autoren abschließend. »Es gibt viel an Anregungen, Ideen und bereits recht konkret ausformulierten Vorschlägen zu diskutieren. Es müssen in den nächsten Monaten und Jahren viele wichtige Entscheidungen getroffen werden. Die von uns skizzierte Industriepolitik kann nur unter der Bedingung umgesetzt werden, dass ein weitreichendes politisches Umdenken einsetzt und viele Veränderungen stattfinden. Es könnte sich jedoch lohnen.«
Nota. - Dass die postrevolutionäre Linke gegen staatliche Industriepolitik weniger einzuwenden hat als die Sprecher der Wirtschaftsverbände und ihre doktrinär liberalen Wirtschaftsprofessoren, kann nicht überraschen. Aber das ist sachlich ohne Belang. Es geht (längst) nicht (mehr) darum, zwischen (obsoleten) Extremen eine goldene Mitte zu finden, sondern darum, von Altlasten unbeschwert das herauszufinden, was nottut. Das ist die Aufgabe eines Wirtschaftsministers, und wenn er mal Applaus von der falschen Seite bekommt, sollte ihn das eher ermuntern als einschüchtern.
JE
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