aus nzz.ch, 12. 1. 2020
In Moskau wurde seit den dreissiger Jahren eine umfangreiche Kaderakte zu Bertolt Brecht geführt
Der parteilose Schriftsteller galt als Trotzkist und weckte darum den Argwohn. Trotzdem wurde ihm in den fünfziger Jahren der Stalin-Preis verliehen.
Mit der allmählichen Öffnung der Moskauer Archive wurden ab den neunziger Jahren auch sorgsam gehütete und als «streng geheim» klassifizierte Dokumente zugänglich. Dazu gehören die sogenannten Kaderakten, die in der Kaderabteilung des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale und nach Auflösung der Komintern im Zentralen Archiv der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) gesammelt wurden. Diese sekretierten Archivbestände wurden in zweifach versiegelten Stahlschränken und Archivräumen aufbewahrt und umfassen allein für Deutschland nahezu 14 000 Kaderakten.
Hier finden sich Personalakten von prominenten Funktionären der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Komintern, beispielsweise von Walter Ulbricht, Herbert Wehner, Willi Münzenberg sowie dem Schweizer Fritz Platten. Aber auch die verwischten Spuren von zahlreichen namenlosen kommunistischen Emigranten, die Opfer des stalinistischen Terrors wurden, lassen sich durch Dokumente aus Kaderakten nachzeichnen.
In der bürokratisch organisierten Parteifeme lieferten Autobiografien, Auskünfte, Fragebogen, Eingaben, Briefe und parteitreue Denunziationen den Nachweis für «bolschewistische Wachsamkeit» oder für Abweichungen von der «Generallinie» und für «Verbindungen» zu «trotzkistischen Parteifeinden». Permanenter Verdacht und allgegenwärtige Wachsamkeitsparanoia produzierten ein selbstreferenzielles System von wechselseitiger Kontrolle, in dem «der Wächter selbst wieder überwacht wird» (Elias Canetti).
Verbreitetes Denunziantentum
Man könnte verwundert sein, dass für den parteilosen Bertolt Brecht in der Kaderabteilung des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale eine Kaderakte angelegt wurde. Jedoch sammelte das Überwachungs- und Kontrollsystem der Komintern, das Stalins Geheimpolizei NKWD auf dem Dienstweg zuarbeitete, auch Informationen aus unterschiedlichsten Quellen über parteilose Emigranten wie Zenzl Mühsam und den Schauspieler Ernst Busch.
Zwei deutsche Referenten, die 1937 und 1938 selbst verhaftet wurden, erfassten mündliche und schriftliche Berichte und Denunziationen von wachsamen Parteimitgliedern. Sie stellten Listen von «schädlichen Elementen» zusammen, werteten Protokolle der inquisitorischen Parteisäuberungen aus und verfertigten Exzerpte über die «geschlossene Schriftstellerversammlung» im September 1936. Während dieser vier nächtlichen Sitzungen berichtete Ernst Ottwalt, dass sich bereits 1933 in Berlin um Brecht ein «Kreis» gebildet habe, zu dem auch «zwei Figuren», nämlich Fritz Sternberg und Karl Korsch, gehörten.
Der KPD-Reichstagsabgeordnete Korsch wurde 1926 als linker Kritiker Stalins aus der KPD ausgeschlossen und galt wie der marxistische Ökonom Fritz Sternberg für Brecht als «Lehrer». Vor allem die «Beziehung» zu Karl Korsch wurde von der Kaderabteilung und von wachsamen Schriftstellerkollegen permanent verfolgt. So meldete der ungarische Dramatiker Julius Hay in der Schriftstellerversammlung, dass 1933 bei Brecht «miesester Defaitismus und Liquidatorentum» herrschten. Nicht nur der parteilose Bertolt Brecht, sondern auch die Parteigenossin Helene Weigel seien diesen «Stimmungen» vollkommen erlegen.
Eine erste, nicht datierte Notiz in der Kaderakte ernennt Brecht sogar zum Parteimitglied: «Professor Korsch soll in Dänemark bei den Parteimitgliedern Bert Brecht und Helene Weigel wohnen. Letztere ist bestimmt Parteimitglied. Wenn ihr es für notwendig erachtet, gebt bestimmte Anweisungen.» Nähere Auskünfte finden sich in einem Vermerk der Kaderakte, den die Referentin Grete Wilde am 16. Oktober 1936 an den Leiter der Kaderabteilung richtet:
«Betr. Bertold Brecht. Derselbe ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift das ‹Wort›, die in Moskau erscheint. Berthold Brecht befindet sich im Ausland, Dänemark. Wie uns mitgeteilt wird, wohnte im Jahre 1934, in der Wohnung von Berthold Brecht der aus der K. P. D. 1926 ausgeschlossene Trotzkist Professor Korsch. Die Frau Berthold Brechts soll mit den Kopenhagener Trotzkisten in enger Verbindung stehen. Wie wir erfuhren, will Berthold Brecht im Oktober in die S. U. kommen in Verbindung mit der Zeitschrift ‹Das Wort›. Wenn seine Frau mitkommt, besteht die Möglichkeit, dass sie Aufträge der Trotzkisten besitzt. Berthold Brecht ist nicht Mitglied der K. P. D., sondern sympathisierender Schriftsteller.»
Brecht macht sich verdächtig
Wie in anderen Fällen üblich, wurde diese Auskunft übersetzt und als «streng geheime» Meldung «Über Brecht, Bertolt und Alexander Bessmertny» vom Leiter der Kaderabteilung Alichanow an den NKWD-Offizier Korniljew, den Leiter der 3. Abteilung des NKWD in der Geheimdienstzentrale Lubjanka, weitergegeben. Diese Meldung an den NKWD wurde durch einen bedrohlichen Hinweis ergänzt: «Unter den Mitarbeitern der Zeitschrift ‹Wort› gibt es ausser Brecht noch das verdächtige Element Alexander Bessmertnyi. Unserem Wissen nach arbeitete der Letztere 1934 für den tschechischen Nachrichtendienst.»
Da Korsch 1934 bei Brecht unter dem «dänischen Strohdach» in Skovsbostrand bei Svendborg wohnte, wurde Brecht nach dem Prinzip der Kontaktschuld für die Kaderabteilung und den NKWD verdächtig. Helene Weigel geriet durch ihre «Verbindungen mit den Trotzkisten in Kopenhagen» in den Verdacht, als Botin Aufträge von Trotzkisten nach Moskau zu überbringen. Nach dieser Meldung wurde in der Lubjanka über Bertolt Brecht eine bisher nicht zugängliche NKWD-Akte angelegt. Registriert wurden hier ebenso Brechts «Beziehungen» zu Carola Neher und Ernst Ottwalt, die 1936 verhaftet wurden. Hier sind wahrscheinlich auch die Einladungen, Grenzübertritte und Berichte über Brechts Moskau-Besuche in den Jahren 1932 und 1935 verzeichnet.
Bei seinem zweiten Besuch 1935 war Brecht wie viele Russland-Reisende fasziniert von den Schauseiten Moskaus. Die Demonstrationen am 1. Mai hinterliessen einen «ungeheuren Eindruck» wie auch die Fertigstellung der ersten Metrolinien, die Brecht in einem Gedicht rühmte. Zu seinen Ehren wurden im Klub für ausländische Arbeiter und im Haus der Sowjetschriftsteller Brecht-Abende veranstaltet, auf denen Carola Neher Lieder und Songs Brechts vortrug. Er war – fürsorglich betreut und abgeschirmt durch den befreundeten Sergei Tretjakow – ein «embedded writer», der die allgegenwärtige Propaganda als «Literarisierung der Massen» begriff.
Eine weitere, für 1937 geplante Moskau-Reise führte Brecht jedoch nicht durch. Er las im dänischen Svendborg die Protokolle der drei Schauprozesse, verfolgte die Berichte in der bürgerlichen Presse und kannte auch Leo Trotzkis Schriften. Anders als Lion Feuchtwanger veröffentlichte Brecht jedoch nicht seine Rechtfertigung der Anklagen und seine gleichzeitigen Zweifel an den Geständnissen. Brieflich äusserte er sich gegenüber Walter Benjamin, dass nach der Lektüre von Trotzkis Schriften «ein gerechtfertigter Verdacht» bestehe, der «eine skeptische Betrachtung der russischen Dinge» erfordere.
Im März 1937 wurde die Kaderabteilung sogar für die Genehmigung der Herausgabe der Gesammelten Werke Brechts zuständig. Nachdem die Moskauer Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter den Druck abgelehnt hatte, fragte Wieland Herzfelde vom Prager Malik-Verlag an, ob «Einwendungen prinzipieller Art» vorlägen, die eine Ablehnung der Herausgabe seiner Schriften rechtfertigten. «Streng vertraulich» teilte die Kaderabteilung mit: «Bert Brecht ist parteilos, bei ihm in der Schweiz hat ein Führer der Trotzkisten, Korsch, gewohnt. Die Frau von Brecht wollte 1936 in die SU kommen und es bestand der Verdacht, dass sie u. a. als Kurierin für die Trotzkisten hier herkommt. Aber diese Mitteilungen, die wir bekamen, konnten von uns nicht geprüft werden.»
Von Brechts Gesammelten Werken erschienen zwei Bände 1938 im Londoner Malik-Verlag. Im Januar 1939 musste Brecht feststellen, dass mehrere Freunde und Bekannte in Moskau verhaftet wurden und spurlos verschwanden. «Auch Kolzow verhaftet in Moskau. Meine letzte russische Verbindung mit drüben. Niemand weiss etwas von Tretjakow, der ‹japanischer Spion› sein soll. Niemand etwas von der Neher, die in Prag im Auftrag ihres Mannes trotzkistische Geschäfte abgewickelt haben soll. Reich und Asja Lacis schreiben mir nie mehr, Grete bekommt keine Antwort von ihren Bekannten im Kaukasus und in Leningrad. Auch Béla Kun ist verhaftet. Der einzige, den ich von den Politikern gesehen habe. Meyerhold hat sein Theater verloren, soll aber Opernregie machen. Literatur und Kunst scheinen beschissen, die politische Theorie auf dem Hund, es gibt so etwas wie einen beamtenmässig propagierten dünnen blutlosen proletarischen Humanismus.»
Ausreise in die USA
Trotz diesen bedrückenden Nachrichten bat Brecht den stellvertretenden Leiter der Auslandskommission des sowjetischen Schriftstellerverbandes, Michail Apletin, um finanzielle und logistische Hilfe für die Transitreise von Leningrad nach Wladiwostok. Bereits im Juni 1940 hatte Brecht an Apletin geschrieben: «Wie ich aus Stockholm höre, ist uns die Durchreise durch die Sowjetunion gestattet.» Die Fahrt bis nach Wladiwostok hoffte Brecht aus seinen Rubel-Honoraren bezahlen zu können.
Nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Dänemark im April 1940, nach der Besetzung Norwegens und der Internierung deutscher Emigranten in Schweden, entschied sich Brecht für die Flucht von Schweden nach Finnland. Im Dezember 1940 wurde Brecht in Finnland «von Stockholm aus verständigt», dass «mexikanische einwanderungsvisen» bewilligt wurden. Brechts Einreise in die Sowjetunion und die Weiterreise mit seinem «Tross» in die USA bedurften jedoch auch der Zustimmung durch die KPD-Führung.
Dieser Vorgang ist in der Kaderakte ausführlich dokumentiert. Auf Anfrage des Zentralkomitees (ZK) der KPD befürwortete Johannes R. Becher die Einreise in die Sowjetunion: «Brecht hat sich im antifaschistischen Kampf als einer der bedeutendsten Schriftsteller bewährt und in seinen zahlreichen Arbeiten seiner Sympathie für die Sowjetunion Ausdruck gegeben.» Brecht werde jedoch sehr bald das Bedürfnis haben, «aus schöpferisch literarischen Gründen» zu seinen Freunden in den USA weiterzureisen. Brechts frühere Beziehungen zu Fritz Sternberg und Karl Korsch seien der KPD-Führung selbst bekannt. Abschliessend betonte Becher, dass Brecht als «verdienter antifaschistischer Schriftsteller und Emigrant das unbedingte Anrecht auf ein Asyl in der Sowjetunion beanspruchen darf».
Nach einem Gespräch mit dem «wachsamen» Willi Bredel fertigte Walter Ulbricht eine handschriftliche Aktennotiz an: «Betrifft Einreiseantrag des Schriftstellers Bert Brecht. Mir wird vom Gen. Bredel mitgeteilt, dass noch 1937 bei Brecht der Trotzkist Korsch verkehrt haben soll. Es wäre auch notwendig Erkundungen einzuziehen über die politische Meinung und über die Verbindungen seiner Frau, die Schauspielerin Weigelt [!].»
Zu der Anfrage der Kaderabteilung wegen Brechts Einreise beschlossen die Mitglieder des Zentralkomitees (ZK) der KPD in ihrer Sitzung am 19. Juli 1940: «Bert Brecht ist ein parteiloser Schriftsteller, der Mitglied der Zeitschrift ‹Das Wort› ist. Da es sich um einen parteilosen Schriftsteller handelt und die Frage seiner Wohnung und seiner hiesigen Tätigkeit geregelt werden muss, könnte die Einladung an Bert Brecht nur vom Verband der Sowjetschriftsteller erfolgen. Wenn von Seiten des Sowjet-Schriftstellerverbandes die Einladung erfolgt, haben wir keine Einwendungen gegen die Einreise. Wir bemerken, dass uns über die politische Stellung von Bert Brecht in den letzten Jahren nichts bekannt ist. Nach Mitteilungen der deutschen Sektion des Sowjet-Schriftstellerverbandes liegen keine politischen Bedenken vor.»
Die versammelten ZK-Mitglieder schoben die Verantwortung für Brechts Einreise dem Schriftstellerverband der Sowjetunion zu, der sich wahrscheinlich für die Einreise Brechts eine Genehmigung beim ZK der KPdSU einholte.
Nach dem Erhalt der Einwanderungsvisa am 2. Mai 1941 reiste Brecht mit Helene Weigel, den Kindern Barbara und Stefan, Margarete Steffin und Ruth Berlau über Leningrad nach Moskau. Empfangen wurden sie in Moskau am 17. Mai 1941 von Michail Apletin und von Maria Osten, die sich um die todkranke Margarete Steffin kümmerte. Unter dem Schutzschirm des Schriftstellerverbandes konnte Brecht mit Helene Weigel und beiden Kindern – trotz den bedrohlichen Meldungen in der Kader- und der NKWD-Akte – in die USA weiterreisen. Bei der todkranken Margarete Steffin liess Brecht einen Koffer zurück und bat Apletin, die «Manuskripte (versiegelte und unversiegelte), die Fotografien, sowie die Briefe» zu verwahren.
Dieser Koffer konnte in den Moskauer Archiven ebenso wenig aufgefunden werden wie Briefe, die Brecht aus den USA unter dem Namen K. Kinner an Apletin senden wollte. Noch in Moskau richtete Brecht an Apletin und den Schriftstellerverband seinen «herzlichsten Dank für die Gastfreundschaft». Wenige Wochen nach Brechts Abreise am 30. Mai 1941 wurde Maria Osten verhaftet und 1942 als «angebliche Agentin des deutschen und französischen Geheimdienstes» erschossen. Obwohl Brecht in Maria Ostens NKWD-Akten als «Trotzkist» geführt wurde, konnte er unter dem politisch rückversicherten Schutzdach des Schriftstellerverbandes mit der Transsibirischen Eisenbahn über Wladiwostok in die USA weiterreisen.
Trotzkis enger Mitarbeiter Heinz Epe wurde hingegen 1941 bei seiner Flucht von Schweden zum Schwarzmeerhafen Odessa zusammen mit seiner Frau und seinem Sohn im Zug verhaftet und 1942 wegen «konterrevolutionärer trotzkistischer Tätigkeit» zum Tode verurteilt. In einem offenen Brief hatte Epe 1938 das Schweigen Brechts zu den Verhaftungen seiner Moskauer Freunde und Bekannten scharf kritisiert.
Der alte Verdacht kehrt wieder
Während Brechts Aufenthalt in den USA wurde 1943 vom Schriftstellerverband der Sowjetunion nur eine Auskunft an die Kaderabteilung übermittelt, die neben biografischen Daten allenfalls einige Werke Brechts aufführt. Über Brechts öffentliche Aktivitäten wurde darin aus einem Sammelbericht von F. C. Weiskopf zitiert. Brecht habe 1942 eine «vorsichtige Erwartungshaltung» eingenommen. Weitere Eintragungen über Brechts Jahre in den USA, etwa seine Verhöre vor dem Ausschuss für unamerikanische Umtriebe, finden sich nicht in der Kaderakte.
Nach Brechts Übersiedlung in die DDR erscheint 1951 in einer «streng geheimen» Notiz erneut das alte Verdachtsmuster: «Hatte Verbindungen mit den Trotzkisten Korsch und Sternberg. Wie weit sich diese Verbindungen entwickelten, ist uns nicht bekannt. Brechts Frau, die Schauspielerin Weigel, war 1936 wegen Verbindungen mit Trotzkisten verdächtig.»
Im Gegensatz zur Moskauer Kaderabteilung, die Brechts Freundschaft mit seinem «Lehrer» Korsch immer wieder registrierte, wurde dies in der Brecht-Forschung der DDR als «Korsch-Legende» abgetan. Der Kaderabteilung war 1951 völlig unerklärlich, dass Brecht angesichts dieser «Verbindungen» in die Sowjetunion einreisen konnte: «1940 wurde die Frage seiner Einreise in die UdSSR gestellt, es gibt keine Informationen darüber, wie diese Frage gelöst wurde.»
In Brechts Kaderakte sind Zeitungsausschnitte und Zeitschriftenbeiträge gesammelt, die im Vorfeld und im Nachgang zur Verleihung des Stalin-Preises an Brecht 1955 erschienen. Für die Mitglieder der neunköpfigen Auswahlkommission (u. a. Anna Seghers und Louis Aragon) wurde über Brecht 1954 eine zweiseitige geheime Auskunft zusammengestellt, die den Trotzkismus-Verdacht nicht mehr enthält.
Wie auch bei anderen prominenten Moskau-Besuchern (z. B. Lion Feuchtwanger) wurde über Brechts Aufenthalt im Mai 1955 von einer sprachkundigen Begleiterin Gussewa detailliert berichtet. So habe er sich über die Mitarbeiter der DDR-Botschaft «überhaupt sehr bissig» geäussert. Über den Geschäftsträger der Botschaft meinte Brecht: «Oh Gott, der wird sich vermutlich wirklich einbilden, dass er ein Diplomat ist.» In einem Gespräch über die Toasts in der DDR-Botschaft meinte Brecht, dass es besser wäre, wenn sich die deutsche Diplomatie vom Verstand und nicht von wohlmeinenden Gefühlen leiten liesse.
Auf Bitten Brechts habe Käthe Rülicke eine Liste seiner ehemaligen Mitarbeiter am Theater angefertigt, die 1932/33 in die UdSSR emigrierten und 1937 verhaftet wurden. Diese Liste sei einem Referenten der Auslandskommission übergeben worden, und Brecht wollte wissen, «was mit ihnen los ist und wo sie sich jetzt aufhalten».
Nach der Verleihung des Stalin-Preises im Kreml für «hervorragende Verdienste im Kampf für die Erhaltung und Festigung des Friedens» besuchten Brecht und Helene Weigel das Lenin-Mausoleum. Ausgestellt wurde hier neben Lenin auch der einbalsamierte Stalin. Die opulente Preissumme von 100 000 Rubel liess Brecht zur Hälfte an die Ostberliner Sparkasse und zur anderen Hälfte zur Rückversicherung an eine Schweizer Bank überweisen.
Doch erst nach Kenntnis von Chruschtschows Geheimrede und kurz vor seinem Tod galt Stalin für Brecht in einem erst später veröffentlichten Gedicht als der «verdiente Mörder des Volkes». Als Widerspruch und «sacrificium intellectus» entschlüsselt sich so Brechts Dilemma zwischen privater Entrüstung und öffentlichem Schweigen.
Reinhard Müller, geb. 1944, ist Historiker und Soziologe. Er war u. a. von 1991 bis 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung. Zu den Spezialgebieten seiner Forschungen zählt die Geschichte der deutschen Emigration in die Sowjetunion. 2016 war er Mitherausgeber von «Carola Neher. Gefeiert auf der Bühne, gestorben im Gulag».
Nota. - Karl Korsch war ein sogenannter "Ultralinker" mit anarchosyndikalistischen Sympathien und hatte Trotzki in keiner Hinsicht je ideologisch noch gar fraktionell nahegestanden. Fritz Sternberg dagegen war gemeinsam mit Paul Frölich ein Führer des linken Flügels der Sozialistischen Arbeiterpartei und hat mit durchgesetzt, dass die SAP 1934 den Aufruf zur Bildung einer Vierten Internationale unterschrieb.
Bertolt Brecht war kein gutbürgerlicher Fellow traveller wie Heinrich Mann oder Lion Feuchtwanger und hat sich auch nie seinen Lebensunterhalt von der GPU bezahlen lassen. Er war aber auch kein gläubiger kommu- nistischer Parteisoldat, der die Zähne zusammenbiss in der verzweifelten Gewissheit, dass die Partei immer Recht haben musste. Er war, wie er vor McCarthys Ausschuss betonte, nie KP-Mitglied und legte stets wert auf seine persönliche Unabhängigkeit. Doch öffentlich hat er Stalin die Stiefel geleckt, und das ist es, was politisch gewirkt hat. Dass er privatim seine Vorbehalte hatte, hat die Welt nicht erfahren, sondern nur, dass er an seiner Seite stand. Während Galilei lediglich wider besseres Wissen einer wissenschftlichen Lehrmeinung abgeschwo- ren hat, hat Brecht wissentlich einem der größten Verbrecher der Geschichte und Totengräber der Weltrevolution als Vater der Völker gehuldigt. Er hat ohne jede Not seine Verbrechen auf sein Gewissen geladen. Das sei ihm nie vergessen, dem Schwein.
JE
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