Montag, 20. Januar 2020

Wokeness.

aus nzz.ch, 20.01.2020

Wokeness heisst die gesteigerte Form der Political Correctness
Sei wach, richte über andere, und fühle dich gut dabei
Wer Auto fährt und fliegt, ist bestimmt nicht woke. Wer Amazon boykottiert, schon eher. Der neue Moralismus vor allem jüngerer Zeitgenossen ist nicht nur im Netz ziemlich angesagt. So bedenklich er ist, berührt er dennoch einen wichtigen Punkt.

von Simon M. Ingold

An der Verleihung der diesjährigen Golden Globes erlaubte sich der britische Komiker Ricky Gervais einen seiner berüchtigten verbalen Rundumschläge. Zu den versammelten Hollywoodgrössen sagte er: «Ihr behauptet, dass ihr aufgeschlossen seid, aber eure Arbeitgeber betreiben Sweatshops in China – unglaublich. Apple, Amazon, Disney. [. . .] Wenn ihr heute Abend einen Preis gewinnt, dann benutzt ihn nicht als Plattform, um eine politische Rede zu halten. Ihr habt kein Recht, die Öffentlichkeit über irgendetwas zu belehren. Ihr wisst gar nichts über die richtige Welt da draussen.»

Das verlegene Kichern und die gesenkten Blicke der Anwesenden sprachen für sich: Moralischer Opportunismus und ökonomischer Eigennutz sind schlechte Bettgefährten, aber weit verbreitet.

Dass die politisch links tendierende Unterhaltungsbranche eine Doppelmoral pflegt, ist keine bahnbrechende Erkenntnis. Gervais’ Schelte bliebe denn auch eine Randnotiz, wenn die selbstherrliche Haltung sogenannt progressiver Kreise nicht eine Vehemenz erreicht hätte, neben der traditionelle Formen der Political Correctness verblassen.

Letztere war mit dem berechtigten Anspruch angetreten, alle wesentlichen Lebensbereiche von offensichtlichen und subversiven Formen der Diskriminierung zu befreien, mit spürbarem Erfolg. Mitunter ist sie aber auch dadurch aufgefallen, dass sie eigene Formen der Diskriminierung entwickelte, die bloss anders genannt wurden. Die neue Korrektheit manifestierte sich in der Förderung und teilweise aktiven Bevorteilung von Minderheiten im Rahmen der «affirmative action», insbesondere aber in der Reglementierung des Sprachgebrauchs. 

Jeder richtet über jeden

Die neue, gesteigerte Form von Political Correctness gibt sich damit nicht zufrieden. Ihre Verfechter erklären sich als «woke» – eine von «awake» abgeleitete Wortkreation, die eine höhere Form von Bewusstsein in Bezug auf den prekären Zustand der Welt unterstellt.

Woke ist, wer Autos und Flugzeuge als Fortbewegungsmittel ablehnt, wer sich der Fortpflanzung verweigert und Amazon boykottiert. Nicht woke ist, wer dem antiquierten Schönheitsideal 90-60-90 nachhängt, wer die zum Schweizer Kulturgut gehörenden, aber vor rassistischen Anspielungen strotzenden Dialektaufnahmen des Kasperletheaters hört und Ausstellungen von Balthus besucht. Greta Thunberg und Lukas Bärfuss sind woke. Prince Andrew und Peter Handke sind es nicht.

Aber wer bestimmt eigentlich darüber? Es gibt keinen kodifizierten Kriterienkatalog der Wokeness, keine Autorität, die besagt, was akzeptabel ist und was nicht. Das Tückische an der Wokeness ist, dass sie dem Konsens entspringt und somit ein amorphes, von Befindlichkeiten gesteuertes Gebilde ist.

Die geballte anonyme Mehrheit, angeführt von Influencern und der Twitterati-Klasse, hat das erste und letzte Wort und verschiebt laufend den Rahmen dessen, was in ihre binäre Weltsicht passt. Wer es wagt, dem moralischen Konsens zu widersprechen, wird zum Paria erklärt. Die etablierten Medien tragen diesen Zustand im Wesentlichen mit, indem sie die Denkschablonen übernehmen. In diesem verhärteten Umfeld, das keine Zwischentöne und keine Ironie kennt, regiert die Willkür. 

Werte dich ab

Problematisch ist Wokeness jedoch auch aus anderen Gründen. Zum einen fördert sie eine unverhältnismässige Dünnhäutigkeit, derentwegen selbst harmlose Formen persönlicher Kritik als Affront wahrgenommen werden, mit perversen Folgen. So ist es im angelsächsischen Raum mittlerweile üblich, dass Redner im Rahmen von öffentlichen Veranstaltungen aufgefordert werden, ihre angeblichen Privilegien offenzulegen.

Eine junge Ärztin würde sich beispielsweise als weisse, heterosexuelle Europäerin und Einzelkind vorstellen (im Weltbild der Wokeness-Bewegung alles Attribute, die einer Entschuldigung bedürfen). Unter dem Deckmantel der Transparenz wird damit ein Bonus-Malus-System weitgehend angeborener Eigenschaften etabliert, das Vorurteile bestätigt, statt sie zu beseitigen. Aufseiten der Privilegierten forciert es zudem eine heuchlerische Selbstkasteiung, die einer reichlich verqueren Logik folgt: Man werte sich ab, um sich den vermeintlich Benachteiligten auf Augenhöhe zu nähern.

In eine ähnliche Richtung zielt der Eifer, mit dem klassische Werke der Weltliteratur von rassistischen Inhalten gesäubert werden. Was mit Mark Twains «Tom Sawyer» geschah, passierte jüngst auch mit Margaret Mitchells «Vom Winde verweht». Sprache ist zweifellos ein wesentlicher Vektor für die Verbreitung von diskriminierendem Gedankengut. Gerade deshalb ist sie auch die wirkungsvollste Waffe für dessen Bekämpfung. Zensur hingegen kann nicht das richtige Mittel sein. Die Negation abwertender Begriffe trägt nicht zu deren Verschwinden bei, sondern ist platter historischer Revisionismus.

Wokeness ist mehr als eine moralisch überlegene Lebensphilosophie; sie ist das Dogma du jour, die trendige Variante des comme il faut, zudem ein millionenfach verwendetes Hashtag. Kurzum: Sie ist ein Statussymbol. Entsprechend beginnt sie sich allmählich von ihrer inhaltlichen Ebene zu entkoppeln. 

Achte auf deine Reputation

Es geht nicht nur um Substanz, sondern darum, den sozialen und medialen Erwartungen mit grossspurigen Lippenbekenntnissen zu entsprechen. Die trivialen Allgemeinplätze zu Gleichberechtigung und Toleranz, die von zahlreichen Preisträgern der Golden Globes zum Besten gegeben wurden, bestätigen dies. Davon konkrete Ergebnisse zu erwarten, ist naiv. Stattdessen trägt Wokeness zur verschärften Tonalität des öffentlichen Diskurses bei. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, entpuppt sich Wokeness als Intoleranz mit umgekehrtem Vorzeichen und ebnet damit den Weg in die Ära der Reputationsökonomie.

Mit diesem Begriff beschreibt der Autor Bret Easton Ellis in seinem neuen Essayband «White» den fundamentalen Wandel des globalen Werte- und Bewertungssystems. In der Reputationsökonomie gilt es, das eigene Image – gemessen an Likes, Mentions und sonstigen Formen digitaler und sozialer Anerkennung – um jeden Preis zu maximieren.

Folglich stellt jede öffentlich geäusserte Meinung, die vom Mainstream abweicht, ein unkalkulierbares Risiko dar. Das von den sozialen Netzwerken unerbittlich durchgesetzte Diktat des Gruppendenkens steigert die Paranoia vor dem überall lauernden Rufmord – gerade unter Anhängern der Wokeness-Bewegung. Eine Entschuldigung ist das nicht: Zensur durch Mehrheitsurteil ist immer selbst auferlegt. 

Es gibt auch Widerstand

Freilich kämpft nicht nur die Wokeness-Bewegung mit harten Bandagen. Ihre konservativen Gegner halten ihrerseits mit Anklagen nicht zurück und erliegen zuweilen antiegalitären Reflexen. Sie verhöhnen woke Zeitgenossen als sentimentale, selbstgefällige Snobs, die im hysterischen Alarmismus eine Legitimation für Identitätspolitik, Umweltwahn und einen aus den Fugen geratenen Multikulturalismus suchen. Mit dieser pauschalen Haltung machen es sich einige aber zu leicht. Denn durch die Entwertung der Anhänger woker Anliegen werden die Anliegen selbst nicht automatisch mit entwertet.

Es ist zum Beispiel ein fataler Trugschluss, die hart erkämpften Integrationserfolge der Bürgerrechtsbewegung als irreversibel zu betrachten. Gleiches gilt für den Antisemitismus, der ausgerechnet in den USA eine erschreckende Renaissance erlebt. Der Weg von der Ignoranz ins Licht ist lang. Und der Schritt von der Aufgeschlossenheit zum aktiven Handeln braucht Überwindung. Das Rad zivilisatorischer Errungenschaften lässt sich aber jederzeit zurückdrehen.

Die Frage nach den wirklichen Motiven der Wokeness-Gegner muss deshalb erlaubt sein: Geht es ihnen um eine Versachlichung der Debatte oder letztlich eben doch nur um den Erhalt des Status quo?

James Hatch, ein 52-jähriger Veteran der US Navy Seals und Erstsemesterstudent an der Yale University, beweist, dass es wichtig und möglich ist, von der eigenen Erfahrungswelt abzusehen, um sich einem Phänomen wie Wokeness rational anzunähern. In einem vielbeachteten Essay reflektiert er differenziert und gelassen seine Erfahrungen als hochdekorierter Ex-Soldat mittleren Alters, der sich im ungewohnten Umfeld einer akademischen Eliteinstitution mit intellektueller Schwerarbeit und 18-jährigen Kommilitonen auseinandersetzen muss.

Hatch berichtet auch, dass er trotz seinem unanfechtbaren Lebenslauf unter ehemaligen Militärangehörigen als «snowflake» (Schneeflocke) gilt – ein Pejorativum, das Menschen mit progressiver Gesinnung vorbehalten ist. Die Reaktion auf Hatchs bemerkenswerte Metamorphose ist nicht nur ein persönlicher Angriff, sondern symptomatisch für das tiefsitzende Misstrauen, das Bildungseliten allgemein entgegengebracht wird. Hatch bleibt versöhnlich und beruft sich auf das, was jenseits von vorsätzlicher Ignoranz, Respektlosigkeit und oberflächlicher Etikettierung liegt: einen unvoreingenommenen, sachbezogenen Diskurs, in dem das bessere Argument neidlos gewinnt.

Wokeness als Mittel zur schamlosen Selbstdarstellung schadet der Sache – nämlich sich für eine Gesellschaft unter Freien und Gleichen zu engagieren. Und man braucht auch keine neuen Begriffe zu prägen, um diesem legitimen Anliegen, das nach wie vor den Status eines unvollendeten Experiments hat, Nachdruck zu verleihen. Entscheidend ist vielmehr die Selbsterkenntnis, dass unser Wissen und unsere Erfahrungen begrenzt sind.

Wer nicht bereit ist, zuzuhören, andere Standpunkte anzuerkennen und davon zu lernen, kann auch nicht streiten – und dann siegt nicht das beste Argument, sondern bloss die schrillste Stimme. 


Nota. - Man hört jetzt vielfach die Klage, die Meinungsfreiheit sei bedroht, man dürfe nicht mehr sagen, was man für richtig hält. Das ist völlig falsch. Jeder darf sagen, was er will - und, schlimmer noch, so laut er will; wenn nicht an dieser Stelle, dann an einer andern, auch das ist Öffentlichkeit; und dann gibts ja noch Twitter und Facebook.

Es ist aber auch nicht alles in Ordnung. Denn keiner muss sich noch anhören, was er nicht will, die Filterblase machts möglich. So laut der Andre schreit - ich nehm es einfach nicht zur Kenntnis.

Die Sprachzensur durch die Tugendterroristen besteht nicht darin, dass 'man' nichts mehr sagen darf; sondern dass je nach Stimmung ausgesuchte Reizwörter zum Anlass genommen werden, die Diskussion abzubrechen und sich stattdessen zu empören, und zwar laut genug, um die andern zu übertönen. Aber das ist nicht Öffent- lichkeit.
JE

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