Dienstag, 28. April 2020

Cultural Anthropology.

 
aus derStandard.at, 27. April 2020   Franz Boas, um 1915

So bunt trieben es die Pionierinnen der Anthropologie
Mit "Die Schule der Rebellen" hat Charles King ein höchst lesenswertes Kollektivporträt der Gründerinnen und Gründer des Kulturrelativismus verfasst

von Klaus Taschwer
Selten war ein wissenschaftshistorisches Buch politisch aktueller: Das liegt vor allem daran, dass seit einigen Jahren rechtsnationalistische Politiker und ihre Anhänger wieder infrage stellen, dass Menschen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Religion, Hautfarbe oder Herkunft nicht diskriminiert werden dürfen. Diese Errungenschaften wurden in den vergangenen Jahrzehnten von Frauen-, Bürgerrechts- oder LGBT*-Bewegungen in der westlichen Welt mühsam erkämpft.

Franz Boas demonstriert den "Kannibalentanz" der Kwakiutl, eines Stamms der First Nations in Kanada. Charles King erzählt darüber in "Schule der Rebellen. Wie ein Kreis verwegener Anthropologen Race, Sex und Gender erfand". Aus dem Englischen von Nikolaus de Palézieux. € 26,80/480 Seiten, Hanser, München 2020. 

Die wissenschaftlichen Grundlagen dafür – und für ein progres-sives Verständnis von "Race", "Sex" und "Gender" – gehen freilich nicht auf Denkerinnen und Denker nach 1945 zurück, wie man vielleicht annehmen könnte. Die Basis für die Zurückweisung des Begriffs "Rasse" und für ein nicht-essentialistisches Verständnis von "Geschlecht" wurde nämlich bereits zu Beginn des 20. Jahr-hunderts von einer höchst unkonventionellen Gruppe von Anthropologen gelegt, deren Pionier der aus Deutschland stammende und nach New York ausgewanderte Franz Boas (1858–1942) war.

Pionier der Feldforschung

Boas, der aus einer jüdischen Familie kam, studierte zunächst Mathematik und Physik an mehreren deutschen Universitäten und dissertierte über die Frage, warum uns das Meer blau erscheint. Anfang der 1880er-Jahre nahm das Mitglied einer schlagenden Burschenschaft dann allerdings an einer Expedition zu den Inuit auf der zu Kanada gehörenden Baffininsel teil und entwickelte da wichtige Grundkonzepte derm ethnologischen Feldforschung, indem er die Inuit mit strengen empirischen Methoden untersuchte.

Ausschnitt einer Dokumentation über Franz Boas und seine antirassistischen Forschungen 

Danach übersiedelte Boas, der auch vermessende Anthropologie betrieb, in die USA und machte – wenn auch nicht ohne Probleme – Karriere an verschiedenen US-Unis. An der Columbia University in New York und am American Museum of Natural History begründete er schließlich mit unerschrockenen Mitstreiterinnen wie Margaret Mead, Ruth Benedict, Ella Deloria oder Zora Neale Hurston die moderne Kultur- und Sozialanthropologie als eigenes Fach und erfand zudem den sogenannten Kulturrelativismus als theoretisches Konzept.

Wider die damalige Rassenkunde

Mit ihren längst klassischen Studien vor allem im Südpazifik widerlegte diese "Schule der Rebellen" – so der deutsche Titel eines neuen, lesenswerten Buchs über diese wackeren Pioniere – nicht nur die damaligen Theorien einflussreicher Rassenkundler und Eugeniker wie Madison Grant, der damals auch einen wesentlichen Einfluss auf die US-Immigrationspolitik und später auf die Ideenwelt von Adolf Hitler hatte. Sie stellten auch die traditionellen Rollenklischees von Mann und Frau infrage und zeigten durch ihre Feldforschungen, wie sehr Sexualität und Geschlechterrollen sozialkulturell geprägt sind.

Charles King, Politikwissenschafter an der Georgetown University in Washington, erzählt nicht nur von den bekanntesten Vertreterinnen dieser Schule – prima inter pares die 1901 geborene Margaret Mead, die mit ihren Studien "Coming of Age in Samoa" (1928) und "Growing Up in New Guinea" (1930) noch vor ihre 30. Geburtstag zwei Klassiker der Sozialwissenschaften verfasste.

Eine TV-Dokumentation über Margaret Mead und ihre Studie "Coming of Age in Samoa".

King erinnert auch an die Pionierarbeiten von Ella Deloria oder Zora Neale Hurston, die in Europa weitaus weniger bekannt sind, aber mit ihren Studien über Afroamerikaner und über die indigenen Völkern Nordamerikas sowohl zum Wissen über diese Bevölkerungsgruppen wie auch zu deren politischer Emanzipation beitrugen.
 
Turbulentes Liebesleben

Neben den wissenschaftlichen Großtaten der frühen Anthropologinnen und Anthropologen schildert King deren private Verstrickungen, was einen besonderen Reiz des stellenweise leider ein wenig holprig übersetzen Buchs ausmacht. Besonders turbulent war dabei das Liebesleben von Margaret Mead, die in zweiter Ehe mit dem Neuseeländer Reo Fortune verheiratet war, mit dem sie auf Papua-Neuguinea in einer Menage à trois mit dem Engländer Gregory Bateson Feldforschung betrieb, Meads späterem dritten Gatten. Zudem unterhielt sie eine langjährige Liebesbeziehung mit ihrer Kollegin Ruth Benedict.

Die einflussreichste Absolventin der "Schule der Rebellen": Margaret Mead
 
Prägender Einfluss

All diese Verwicklungen schildert King ohne jeden Voyeurismus, aber aus einem legitimen Erkenntnisinteresse: Denn er kann zeigen, dass diese Revolutionäre unseres Menschenbildes nicht zufällig ziemlich unkonventionelle Privatleben führten, die eng mit den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen verflochten waren. Und so nimmt es wohl auch wenig wunder, dass Mead und ihre Kollegen auch schon zu wissenschaftlichen Wegbereitern der sexuellen Revolution der 1960er- und 1970er-Jahre wurden.

Charles King erinnert ein halbes Jahrhundert später daran, dass der Einfluss der frühen Kulturanthropologinnen und -anthropologen aber noch viel weiter ging: Ihre damals höchst umstrittenen Konzepte, die sich gegen den herrschenden Rassismus, rigide Geschlechterrollen und überkommene sexuelle Normen richteten, sind uns heute zu selbstverständlichen Errungenschaften geworden. Die es aufs Neue zu verteidigen gilt.

Charles King, "Schule der Rebellen. Wie ein Kreis verwegener Anthropologen Race, Sex und Gender erfand". Aus dem Englischen von Nikolaus de Palézieux. € 26,80/480 Seiten, Hanser, München 2020


Nota. - Amerikanische Cultural Anthropology ist nicht das, was wir hierzulande Kulturanthropologie nennen. Bei uns hieße das Vergleichende Ethnologie. In dem Unterschied wird ein Programm deutlich: Die Schule von Boas untersucht zu allererst den Einfluss der Kulturen auf die verschiedenen Prägungen der Völker, und setzt ihrer Forschung mithin eine Prämisse. Ethnologie, zumal wenn sie vergleichen soll, scheint zunächst unbefan-gener: Sie nimmt die Verschiedenheit der Völker als Datum, das es zu analysieren gilt, ohne eine wertende Vorauswahl zu treffen.
 
Wozu aber erwähnt der Wiener Redakteur Franz Boas' jüdische Abstammung? Er ist aus Deutschland ausgewandert, und zwar zu einem reichen Onkel in Amerika,  und zwar nicht, wie der Leser des Standard vielleich annehmen soll, nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, sondern bereit 1887. Wenn Boas aus Trotz gegen den Antisemitismus seine Forschung von Anbeginn antirassistisch orientiert haben sollte, dann nicht gegen den europäischen, sonder gegen den amerikanischen. Das immerhin hätte Klaus Taschwer durchblicken lassen sollen, wenn er Boas' Jüdischsein schon nicht unerwähnt lassen wollte. Die Amerikaner haben ihren autochthonen Rassismus, wie man sich eerinnern sollte.
JE 

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