aus FAZ.NET, 23. 7. 2021
Von
Robert Risch
Die Methoden und theoretischen Grundlagen der modernen Archäologie erlauben eine immer tiefere Reise in die Vergangenheit. Sie ermöglichen aber auch eine immer bessere Auseinandersetzung mit unserem eigenen Gesellschaftsverständnis, da sie uns vor Augen führen, dass vieles, was uns heute selbstverständlich erscheint, vor nicht allzu langer Zeit unter besonderen Bedingungen entstanden ist. In dieser Hinsicht gehört die Bronzezeit zu den entscheidenden Wegmarken der Geschichte Europas und Asiens, im Gegensatz zu allen anderen Kontinenten, wo es diese Periode nie gab oder sie, wie im Falle Afrikas südlich der Sahara, übersprungen wurde.
Woher kam das astronomische und mathematische Wissen?
Damals bildeten sich in manchen Regionen Europas ausgeprägte soziale Hierarchien. Neue Formen von Herrschaft entstanden. Erst in diesem Kontext wird die Himmelsscheibe von Nebra verständlich. Angefertigt wurde sie in der mitteldeutschen Aunjetitz-Kultur zwischen 1800 und 1750 vor Christus mit der damals besten Schmiedetechnik, die durch Vorbilder aus der Ägäis inspiriert zu sein scheint. Das Zinn für ihre Bronze stammte aus dem englischen Cornwall, woher auch das Gold der Himmelskörper kam. Nachdem sie über mehrere Generationen verwendet und wiederholt umgestaltet wurde, vergrub man sie um 1600 vor Christus auf dem Mittelberg bei Nebra.
Die Himmelsscheibe ist das älteste bekannte Instrument der Menschheit, um einen Kalender zu erstellen und somit Zeit exakt in Jahren zu messen. Die dafür angewandte Methode, die auf der Bronzescheibe festgehalten worden ist, war damals wahrscheinlich nur in Mesopotamien bekannt. In diesem Kontext stellen sich zwei Fragen, denen wir intensive Forschungen zur Himmelsscheibe und zur wirtschaftlichen Kraft, sozialen und politischen Struktur sowie Ideologie ihrer Kultur verdanken: In welcher Art von Gesellschaft wird die verlässliche Zählung der Jahre, und eben nicht nur die für die Landwirtschaft wichtige Bestimmung von Jahreszeiten, so bedeutsam, dass man sie auf gut zwei Kilogramm Bronze und rund dreißig Gramm Gold kodiert? Und: Wie kam man im Herzen Mitteleuropas an das notwendige astronomische und mathematische Wissen aus Mesopotamien?
Ein Paradigmenwechsel in der Archäologie
Neue Forschungsergebnisse erlauben es Meller und Michel, auf beide Fragen gewagte Antworten zu geben. Nur in einer Staatsgesellschaft entstünden Macht- und Reichtumsverhältnisse, in denen komplexes Wissen zur Zeitmessung und -vorhersage für die Legitimation der Eliten sinnvoll und für die Organisation von auf Abgaben beruhenden Sozialstrukturen notwendig wird. Dieses Wissen sei nicht langsam über mehrere Zwischenstationen in das Herz Europas gekommen, sondern durch Angehörige der Eliten, die direkt in den Vorderen Orient reisten.
Diese Thesen mögen zuerst Skepsis hervorrufen, verdeutlichen jedoch einen Paradigmenwechsel in der Archäologie. Er wurde nicht zuletzt ausgelöst durch die genetische Erforschung der Beziehung zwischen Menschen – und damit auch ihrer Mobilität. Hinzu kamen immer verfeinertere archäometrische Methoden zur Bestimmung der Herkunft und Zirkulation von Rohstoffen wie Gold oder Zinn in den vergangenen Jahren.
Kontakte zwischen den Menschen der damaligen Zeit
„Griff nach den Sternen“ stellt also nicht nur den Hort von Nebra und die Aunjetitz-Kultur vor, sondern geht allen möglichen Verbindungen nach, die sich aus der Archäologie Mitteldeutschlands ergeben. Das geschieht sehr kundig, da Harald Meller als Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt seit zwanzig Jahren diese Forschungen leitet. Die Reise der Autoren führt von Stonehenge und der reichen Bronzezeit Skandinaviens über die Städte und Paläste von El Argar in Südspanien, den befestigten Siedlungen Süditaliens und das mykenische und minoische Griechenland bis nach Assur, Babylon und sogar Ägypten ins Niltal. Mögliche Kontakte und Beziehungen zwischen den Menschen der damaligen Zeit werden anhand der Zirkulation von Objekten und Rohmaterialien aufgezeigt, aber auch anhand der Übereinstimmung zwischen gesellschaftlichen Praktiken, Wissen und Ideologien in vielen Gebieten, begleitet von den neuesten Ergebnissen der Archäogenetik.
Damit bietet der Band einen aktuellen, von Nebra ausgehenden Überblick der Bronzezeit Europas und des Vorderen Orients, insbesondere über die Zeit zwischen 2200 bis 1200 vor Christus. Über zweihundert Abbildungen der materiellen Hinterlassenschaften erlauben es, die aufgestellten Hypothesen zu überprüfen. Illustrationen entwerfen ein mögliches Bild der damaligen Verhältnisse. So entsteht ein eindrucksvolles Panorama der Bronzezeit. Das Buch kann jedoch auch in Hinblick auf die Frage gelesen werden, was die Entstehung von Staaten und Ausübung von Herrschaft in der Geschichte bedeuten und welche Folgen sie für die Menschheit bis heute haben.
Wie konnten sich, nach einer über 100.000 Jahre langen Menschheitsgeschichte, in der kooperative und kollektive Organisationsformen eher die Regel als die Ausnahme waren, in bestimmten Gebieten Herrschaftsklassen herausbilden, die den Rest der Gesellschaft zur Leistung von Diensten und Steuerabgaben zwangen? Die von Meller und Michel vorgestellten Gesellschaften Europas und des Vorderen Orients und Ägyptens zeigen, wie langsam und instabil dieser Prozess war, der den bestimmenden Umbruch der Bronzezeit darstellt, weil er gegen teils massive Widerstände durchgesetzt werden musste.
Harald Meller und Kai Michel: „Griff nach den Sternen“. Nebra – Stonehenge – Babylon: Reise ins Universum der Himmelsscheibe. Propyläen Verlag, Berlin 2021. 272 S., Abb., geb., 39,– €.
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