Aus dem Apparat nach ganz oben. Ganz anders als in anderen Parteien.
Kein schönes Land zu dieser Zeit. Nichts als Gestümper weit und breit.
Auch unter Biden wird Amerika keine Führungsrolle mehr übernehmen. Deutschland bleibt weiter herausgefordert. Bei solchem Personal!
aus nzz.ch, 28. 1. 2022 Gustave Doré, Aussendung der Taube
von Josef Joffe
Naturschutz ist nicht neu. Schon im 13. Jahrhundert wurde der Kahlschlag im Gasteiner Tal verboten, später der Vogelfang in Zürich. Fridays for Future ist auch nicht ganz taufrisch. 1895 entstand in Amerika die erste landesweite Bewegung, der Sierra Club, dem wir Nationalparks wie Yellowstone verdanken. Doch das Motto war praktisch-pragmatisch: «erkunden, geniessen, schützen».
Inzwischen wuchert die kosmische Angst. Dass der Umweltschutz religiöse Züge aufwies, fiel diesem Autor 2007 ein, als im kalifornischen Napa-Tal das «Gaia»-Hotel aufmachte. Es fehlte die traditionelle Bibel im Nachttisch; nun lag da «An Inconvenient Truth», der Weltbestseller des Ex-Vizepräsidenten Al Gore. Die Botschaft: Erderwärmung ist Weltuntergang.
Verdammnis ist eines der ältesten religiösen Motive. Was schon im Gilgamesch-Epos aufschien, wurde in den schwärzesten Farben als Sintflut in der Genesis ausgemalt: als göttliche Todesstrafe für «der Menschen Bosheit». Es ging noch einmal gut aus, weil Gott Noah, einen «frommen Mann ohne Tadel» als Retter auserkoren hatte. Als in unserer Zeit der «Klimaleugner» (siehe «Gottesleugner») auftauchte, verdichtete sich die Vermutung vom Gleichklang von «Klimatismus» und Religion. Wie funktioniert ein solcher Glaubenskomplex, sagen wir, der jüdisch-christliche? Der Strukturelemente sind vier.
Als Erstes muss ein Prophet her – einer, der weit in die Zukunft blickt und die «Vertilgung» der Menschheit voraussagt. Etwa Jesaja, der rief: «Weh dem sündigen Volk, der schuldbeladenen Nation» (1, 4). Oder Al Gore, der sagte: «Wir Amerikaner haben gesündigt (...), wir müssen Busse tun, indem wir unsere Bequemlichkeiten opfern.» Ähnlich tönt es bei Greta Thunberg: «Ich will, dass ihr in Panik geratet, dass ihr die Angst spürt.»
In der zweiten Abteilung muss eine Religion die Apokalypse beschwören. Johannes verkündet in Offenbarung 13, 13: Es werde «Feuer vom Himmel fallen». Bei Thunberg ist der Weltuntergang schon da: «Ihr müsst handeln, als würde euer Haus brennen. Denn es brennt.» Die Bibel ist ein Kompendium des Verderbens seit der Sintflut. Sodom und Gomorrha werden im Feuersturm vernichtet. Die Zehn Plagen zeichnen den Untergang Ägyptens vor. Kaum sind die Kinder Israels entflohen, will Gott gar sein eigenes Volk umbringen, weil es dem Goldenen Kalb gehuldigt hatte.
Heute bewaffnen sich die Vorboten des Verhängnisses mit Annahmen, Modellen und Statistiken. Das schmelzende Eis werde Küsten überfluten. Hurrikane würden das Land verwüsten. Unsere Vorfahren haben überall Zeichen des Bösen erblickt; wir tun es auch. Vor ein paar Jahren waren die Rodungsbrände in Brasilien das Menetekel. Der schwarze Rauch vergifte die «Lunge der Welt», ersticke die Menschheit. In Offenbarung 6, 13 heisst es: «Die Sonne ward schwarz wie ein härener Sack, und der Mond ward wie Blut.»
In der dritten Abteilung kommt die Schuldfrage. Die Machthaber sind das Böse. «Der Herr geht ins Gericht mit den Ältesten seines Volkes und seinen Fürsten», donnert Jesaja in 3, 14. «Denn ihr habt den Weinberg verderbt», eure Gier bedient.
Heute ist es der reiche Westen. Der Herr wird euch «den Schmuck an den köstlichen Schuhen wegnehmen und die Heftel, die Spangen» (3, 18). Und vor ihm wird sich «jedes Knie beugen» (45, 23). Die Klimaprophetin Thunberg: «Die Zivilisation wird geopfert, damit einige wenige sehr viel Geld verdienen.» Die hätten «gewusst, welchen unbezahlbaren Wert sie opfern, um unvorstellbare Mengen Geld zu scheffeln».
Nun aber Teil vier: kein Prophet ohne Hoffnung und Erlösung. «So jemand nicht ward geschrieben in dem Buch des Lebens, ward er geworfen in den feurigen Pfuhl» (Johannes 20, 15). Aber der Geläuterte werde Gnade erfahren, so er denn seine Sünden gebeichtet, Umkehr gelobt und Busse auf sich genommen habe.
Im Klimatismus kommt die Rettung aus dem Verzicht, was auch ein religiöser Topos ist. Jesaja grollt: «Eure Häuser sind voll von dem, was ihr den Armen geraubt habt» (3, 18). Heute ist es die Ausbeutung der Dritten Welt. Sühne heischt Entsagung: Weg mit dem Tand! Fahrrad statt Autos, Zug statt Flugzeug. Kein Fleisch, weil Viehzucht die Wälder vernichtet und die Atmosphäre mit Methan vergiftet. Verteuert die Energie, auch wenn das die Armen härter trifft als die Reichen. Lasst ab vom Götzen «Wachstum».
Was ist das Problem? Die Eisbären sterben nicht aus, sondern vermehren sich. Die Seychellen sind noch nicht im Meer versunken. Wetter ist nicht Klima, obwohl wir jeden Tornado als Zeichen des Himmels wahrnehmen. Die Dritte Welt wird reicher – dank dieser verdammten Globalisierung. Ist die Erderwärmung zyklisch oder der rasanten Industrialisierung geschuldet? Die historischen Statistiken, die in die Urzeiten zurückreichen, messen zwar den parallelen Anstieg von CO2 und Temperatur. Was aber ist Ursache, was Effekt – zumal es vor Hunderttausenden von Jahren weder Autos noch Fabriken gab?
Solche Fragen mögen den Köpfen von «Klimaleugnern» entspringen. Gravierender ist das Grundsätzliche: die Unvereinbarkeit von Glauben und Empirie. «Ich glaube» bedeutet «ich weiss». Wissenschaft aber ist die widerlegbare Hypothese anstelle von Gewissheit. Die Welt zerfällt in Rechtgläubige und Häretiker, was dem Klima nicht dient. Es entsteht ein Dialog der Taubstummen, der beide Seiten nicht schlauer macht.
Eine Schicksalsfrage wie das Klima muss ergebnisoffen sein – aus zwei Gründen. Einen darf man den Berichten des Weltklimarates entnehmen. Den betrachten die Gläubigen wie die Bibel 2.0. Tatsächlich ist die Sprache abwägend und vorsichtig; man möge nur die 24 Seiten des «Summary for Policy Makers» in dem 600-Seiten-Wälzer von 2018 lesen.
Die «Zusammenfassung» prophezeit nicht, sie sichert sich ab – ganz anders als die Medien mit ihren Trompetenstössen. «Menschliche Aktivitäten haben geschätzt etwa 1 Grad Erderwärmung verursacht. Es ist möglich, dass sie 1,5 Grad zwischen 2030 und 2052 erreicht, wenn die Temperatur weiter steigt.»
Extremwetter wird durch «Attributionsstudien» erklärt, auf Deutsch: Wir wissen nicht genau, was was erzeugt. Es geht um Wahrscheinlichkeiten und Hochrechnungen, die auf Annahmen basieren. Menschengemachte Emissionen «allein treiben nicht unbedingt die Erwärmung von 1,5 Grad», heisst es. In den Medien ist die Rede von 4 Grad, ganz bestimmt. Risiken hingen laut IPCC von vielen Faktoren ab wie «Tempo der Erwärmung, Geografie, Industrialisierung». Jesaja kannte kein Wenn. Doch gewöhnlichen Sterblichen ist Weissagung nicht gegeben. Wissenschafter kennen nur Konditionale, Schätzungen und Projektionen. Zu Recht.
Das zweite Problem ist: «Was tun?» Hausbesitzer können Feuer nicht voraussagen. Trotzdem werden sie sich eine Brandversicherung anschaffen. Das gleiche Vorbeugeprinzip gilt für den Klimaschutz. Die Frage ist nur: Wie hoch soll die Prämie sein? Radikale Klimaschützer denken nicht an Abwägung, sondern an Apokalypse. Was immer der Preis – er muss sein, auch wenn Wachstum, Wohlstand und soziale Gerechtigkeit leiden.
Rationale Vorbeugung muss sich aber an den Kosten orientieren. Um die haben sich Jesaja und Johannes aus gutem Grund nicht gekümmert. Nur der Weltuntergang kann Zerknirschung und Läuterung erzwingen. Konjunktive bremsen dagegen die pädagogische Wucht der Weissagung. «Es gibt keine Grauzonen, wenn es ums Überleben geht», predigt Thunberg.
Doch stimmt das? Noah hat die Arche konstruiert; seine Nachfahren werden sich auch zu helfen wissen. Indem sie nicht zu dicht an über die Ufer tretenden Flüssen bauen oder am feuergefährdeten Waldesrand. Um sich gegen die Dürre zu wappnen, werden sie hitzeresistente Samen züchten, gegen die Fluten werden sie Dämme und Deiche hochziehen. Und sie werden nicht wie in Deutschland alle Atomkraftwerke stilllegen, um Strom aus französischen Meilern und schmutziger polnischer Kohle zu beziehen.
Der naturbewusste Mensch räsoniert über Kosten und Nutzen. E-Autos statt CO2-Schleudern? Herstellung und Entsorgung von Batterien sind nicht ökofreundlich. Windmühlen töten Vögel und Insekten, die Obstbäume befruchten. Vegan ist gut fürs Vieh, aber nicht für die CO2-fressenden Wälder, die gerodet werden müssen, um Platz für Nährpflanzen zu schaffen – und bitte ohne Kunstdünger! Subventionierte Sonnenenergie jagt die Strompreise hoch und macht die Ärmeren ärmer – hier und heute. Der Glaube bewegt Berge, Politik ist eine Sache von Kosten und Konsequenzen.
Just derlei pragmatisches Denken ist der ärgste Feind der Untergangspropheten; ohne kosmischen Druck keine Umerziehung. Nur die Apokalypse kann die Welt umkrempeln, nur das Allerschlimmste das Gute gebären. An Stellschrauben zu fummeln, lullt dagegen die Menschen ein. Kostenbewusstes Reformieren nimmt die Angst und blockiert die Erlösung vom Übel. Nur der Blick in den biblischen «Feuersee» kann uns retten.
Was sagt die Wissenschaft, auf die sich «Häretiker» wie «Apokalyptiker» berufen? Hier soll der Philosoph Karl Popper das letzte Wort haben: «Alle Theorien sind Hypothesen.» Nur der empirische Befund erlaubt «Widerlegung und damit die Weiterentwicklung der Theorie. Eine Wissenschaft, die ihre Theorien gegen Kritik immunisiert (. . .), ist Pseudowissenschaft oder Glaube.» Wissenschaft ist nicht Gesinnung, sondern kritischer Disput.
Ketzer und Gläubige reden freilich nicht miteinander. Der Glaube, so Luther, ist eine «feste Burg». Die sperrt störende Fragen links wie rechts aus. Und damit Neugier, die kluge Umweltpolitik vorzeichnet.
Josef Joffe unterrichtet internationale Politik und Ideenlehre an der Johns Hopkins School of Advanced International Studies in Washington.
aus nzz.ch, 26. 1. 2022
Der Radikalenerlass von 1972
Ausschluss ist immer ein Zeichen für getrübten politischen Instinkt
In
Erinnerung an die Zerstörung der Weimarer Republik von innen heraus
wollte man die Verfassungstreue der deutschen Beamtenschaft vor fünfzig
Jahren mit einer Überprüfung absichern. Die Geschichte eines
Berufsverbotes und seiner Folgen
von Herfried Münkler
Vermutlich
hatte keines der Kabinettsmitglieder die politische Brisanz der
Beschlussvorlage geahnt, die sich am 28. Januar 1972 in den Unterlagen
für die Sitzung der Bundesregierung in Bonn befand. Im Prinzip ging es
dabei ja auch nur um eine bundeseinheitliche Regelung für das Verfahren,
in dem von den Bundesländern die Verfassungstreue der einzustellenden
Beamten und Beamtinnen überprüft wurde.
Der Paragraf 35 des Beamtenrechtsrahmengesetzes, in dem festgehalten war, dass sich Beamte durch ihr gesamtes Verhalten zur Ordnung des Grundgesetzes zu bekennen hatten, sollte ländereinheitlich gehandhabt werden. Das war von der Sache her durchaus sinnvoll. Es sollte verhindert werden, dass entschiedene Verfassungsfeinde, gleich, ob von rechts oder links, in einem Bundesland abgelehnt und im anderen mit hoheitlichen Aufgaben oder der Erziehung von Kindern beauftragt wurden. Die Geschichte der Weimarer Republik war ein Beispiel für die Folgen, wenn man hier keine Sicherungen einbaute.
Der Teufel dieser schon bald als Radikalenerlass bezeichneten Entscheidung steckte im Detail, wie die Verfassungstreue zu überprüfen war. Erstens in der Regelanfrage bei den Verfassungsschutzbehörden: Das Prüfungsverfahren sollte auf alle ausgeweitet werden, die in den öffentlichen Dienst eintreten wollten, statt einer Beschränkung auf evidente Verdachtsfälle. Zweitens sollte die Anfrage für alle Bereiche des öffentlichen Dienstes gelten, also ohne Einschränkung auf besonders sensible Tätigkeiten. Die Regelung galt auch für Bahnbedienstete und Briefträger. Drittens sollten auch bereits bestehende Beamtenverhältnisse überprüft werden, so dass es auch zu Entlassungen aus dem Dienstverhältnis kommen konnte.
Womöglich war diese Ausweitung dem Imperativ der Verfahrensgerechtigkeit geschuldet, vielleicht wollte man auch nur sicherstellen, dass niemand unbemerkt durchrutschte. Das aber war Beamtenlogik, politisch gedacht war es nicht, denn damit war das Skandalisierungspotenzial des Verfahrens sehr viel grösser als bei selektiven Überprüfungen. Das Ganze wurde zum Ansatzpunkt für politischen Widerstand: Schon bald war von «Berufsverboten» die Rede, was in der Diskussion dann nicht an Richtern, hohen Offizieren oder Schulleitern exemplifiziert wurde, sondern an Eisenbahnern und Briefträgern.
Der öffentliche Dienst der frühen 1970er Jahre war noch umfassend, und es gab keine alternative Berufsausübung bei privaten Unternehmen. Die Vorstellung von hoheitlichen Aufgaben war noch nicht durch Privatisierungen aufgeweicht. So kam es zwischen 1972 und 1985 zu 3,5 Millionen Regelanfragen, in deren Folge 1250 Bewerber nicht als Lehrer oder Hochschullehrer eingestellt und 250 Beamte entlassen wurden. Einige von ihnen wurden später entschädigt und rehabilitiert, und so mancher von denen, die bei einer Überprüfung qua Regelanfrage abgewiesen wurden, avancierte später als Politiker zu einer staatstragenden Säule der Bundesrepublik.
Nicht die selektive Überprüfung der Verfassungstreue, sondern die Regelanfrage für den gesamten öffentlichen Dienst und die Unzuverlässigkeit so mancher Antwort der Verfassungsschutzbehörden waren das Problem. Willy Brandt, unter dessen Kanzlerschaft der Radikalenerlass beschlossen wurde, sagte später, dies sei einer der kardinalen Fehler seiner Amtszeit gewesen. Die administrative Durchführung des Erlasses stand im eklatanten Gegensatz zu der – mit Brandts Kanzlerschaft emblematisch verbundenen – Formel in seiner ersten Regierungserklärung von 1969, «mehr Demokratie zu wagen».
Für Brandt, den Emigranten von 1933, der nach dem Ende der Nazizeit zurückgekehrt war, um am Aufbau eines demokratischen Deutschlands mitzuwirken, war Demokratie nach wie vor ein Wagnis. Er wusste um die Bedrohung vonseiten der Extreme – und das dürfte mit ein Grund dafür gewesen sein, warum er sich Anfang 1972 überhaupt auf den «Extremistenbeschluss» eingelassen hatte. Die Erinnerung an die Weimarer Republik und ihre Zerstörung von innen heraus mitsamt der Rolle, die dabei die Beamtenschaft – Richter, Lehrer, Offizierskorps – gespielt hatte, trübte damals seinen politischen Instinkt, der ihn vor diesem Beschluss und der Art seiner Durchführung eigentlich hätte warnen müssen.
In der Berufsverbots-Debatte der 1970er Jahre – der Erlass wurde 1979 von der sozialliberalen Koalition offiziell aufgekündigt – spielte nämlich nicht die Weimarer Republik, sondern die ersten zwei Jahrzehnte der Bundesrepublik die Hauptrolle. Damals gaben sich viele ehemalige NSDAP-Mitglieder – und unter ihnen so manch überzeugter Nazi und zahlreiche Kriegsverbrecher, die eigentlich hätten vor Gericht gestellt werden müssen – in der Beamtenschaft ein Stelldichein. Es betraf die Ministerialbürokratie über die Richterschaft bis zu den lokalen Verwaltungen.
Wäre der Radikalenerlass von 1972 auf die alten Nazis angewandt worden, so hätte schätzungsweise die Hälfte der im öffentlichen Dienst Beschäftigten daraus entfernt werden müssen. Ende der 1960er Jahre hatte sich das politische Klima in Deutschland geändert, und es war absehbar, dass der Erlass vorwiegend Linke und nicht Rechte treffen würde. Dementsprechend wurde er als «parteiisch» kritisiert, nicht zuletzt auch in der Sozialdemokratie und bei den Liberalen der FDP, also in den die Regierung stellenden Parteien.
Schon bald war klar, dass man einer Logik des Administrativen auf den Leim gegangen war und nicht politisch gedacht hatte. Es dauerte sieben Jahre, bis man aus der selbst gestellten Falle wieder herauskam, und genau in dieser Zeit verlor die SPD ihre Fähigkeit zur umfassenden Integration der politischen Linken des Landes.
Man kann den Erlass darum mit einem gewissen Recht als Initialzündung zur Aufsplitterung der Parteienlandschaft in Deutschland bezeichnen. Sicherlich kam noch anderes dazu, vor allem die Atomenergiepolitik und der Nato-Doppelbeschluss. Ob aber die daraus entstandene Partei, die Grünen, ohne die politischen Talente, die in den 1970er Jahren nicht bei der SPD gelandet waren, auf Dauer stabil und integrationsfähig gewesen wäre, ist durchaus die Frage.
Sicherlich gab es auch einige Gründe, die für einen genaueren Blick auf den Linksextremismus sprachen. So hatte Rudi Dutschke vom «Marsch durch die Institutionen» gesprochen, den man jetzt antreten werde, mit der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) war 1969 eine Partei gegründet worden, die man entweder als Nachfolgeorganisation der vom Bundesverfassungsgericht verbotenen KPD oder als politischen Arm der DDR ansehen konnte. Und mit der Baader-Meinhof-Gruppe hatte sich eine linksterroristische Formation gebildet, von der die Schwächen des föderalen Polizeisystems spektakulär offengelegt wurden.
Die von der Opposition bedrängte Regierung wollte nicht als hilflos oder schwächlich dastehen, zumal sie nur über eine knappe Mehrheit im Bundestag verfügte, deren Erosion durch den Übertritt von SPD- wie FDP-Abgeordneten zur CDU bereits in Gang war. Das Misstrauensvotum gegen Brandt vom Frühsommer 1972 zeichnete sich ab. Diejenigen, die den Radikalenerlass nicht als blossen Verwaltungsakt ansahen, sondern seine politische Dimension überblickten, könnten ihn als Zeichen politischer Stärke angesehen haben.
Und in gewisser Hinsicht spielt auch die damals alles beherrschende Debatte über die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition hinein: Die aussenpolitische Annäherung an die UdSSR und die Anerkennung der DDR sollten nicht als Aufweichung der politischen Trennlinien im Innern missverstanden werden.
Es ging um die Unterstützung durch jene Wähler, die für eine neue Aussenpolitik eintraten, aber den Kommunisten im Innern der Bundesrepublik deswegen keine grösseren politischen Spielräume zugestehen wollten. Kurzfristig mögen diese Kalküle aufgegangen sein und zu Brandts fulminantem Wahlsieg im Herbst 1972 beigetragen haben, aber längerfristig war es eine Fehlkalkulation, wie dies Willy Brandt im Rückblick eingestanden hat.
Was lässt sich aus dem misslungenen Projekt von Anfang 1972 lernen? Ganz offensichtlich gehört das vorsichtige, zurückhaltende Agieren der deutschen Behörden gegenüber «Reichsbürgern» und anderen erklärten Verfassungsfeinden auf der extremen Rechten zu den Spätfolgen des Radikalenerlasses.
Man fürchtet, durch ein entschlosseneres Vorgehen könne es zu einer politischen Verfestigung der Szene kommen, die man gerade vermeiden will. Man will all jenen, die irgendwie und irgendwann in ihr gelandet sind, die Möglichkeit des Ausstiegs offenhalten. Des Weiteren will man die Produktion von Märtyrern vermeiden, die dann als inkarnierte Anklagen genutzt werden können, um den liberalen Anspruch der politischen Ordnung infrage zu stellen.
Unter keinen Umständen will man zudem riskieren, durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in die Schranken gewiesen zu werden. Dieser hatte 1995 Deutschland wegen der Entlassung eines DKP-Mitglieds aus dem Staatsdienst unter Verweis auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit zur Wiedereinstellung des Betreffenden und zu Schadenersatz verurteilt.
Auch die gegenwärtige Zurückhaltung beruht auf einer politischen Kalkulation. Es bleibt freilich abzuwarten, ob sie aufgeht oder ob damit womöglich Liberalität an einer Stelle gezeigt wird, wo die extreme Rechte sie als Schwäche verstehen und ausnutzen könnte, um die Demokratie zu zerstören. Lernen aus der Geschichte schliesst nicht aus, dass man das Falsche lernt.
Nota. - Ach, war es nicht Willy Brandts Radikalenerlass? - Na ja, aber es war nicht seine Idee - das haben ihm inkompetente Berater eingeredet! Womöglich gar Günter Guillaume!!
Als 1974 Brandt zurücktrat und Helmut Schmidts "restriktive Rahmenbedingungen" ausbra-chen, war die Zeit der innerlich längst ausgetrockneten linksradikalen Sekten endgültig vorüber, und die natürlichste Sache der Welt wäre gewesen, dass sie nach und nach alle reumütig, wenn auch nicht ohne Ziererei, unter die Fittiche der alten Tante SPD zurückgeschlichen wären.
Aber da waren die Berufsverbote. Der Graben war zu breit, da kam man nicht so einfach rü-ber, dieses Tischtuch war zerschnitten. Ohne Willy Brandt und seinen Radikalenerlass hätten Die Grünen nicht entstehen können.
JE
aus welt.de, 8. 1. 2022 Griechische Krieger im Zweikampf mit dem Speer, 4. Jhdt. vor Chr.
Welche Bedeutung die Kriegerelite dem Speer in historischer Zeit beimaß, belegt der Zweikampf zwischen dem Griechen Achilleus und dem Trojaner Hektor in der „Ilias“. Den stilisiert der Dichter Homer als Duell der „Lanzenkämpfer“, den der Grieche durch einen Stoß mit der „erzbeschwerten Eschenlanze“ zu seinen Gunsten entscheidet.
Das soll sich um 1200 v. Chr. ereignet haben. Bereits mehr als 300.000 Jahre davor war Homo heidelbergensis, ein Vorläufer des Neandertalers, in der Lage, weitreichende und extrem durchschlagskräftige Speere zu produzieren. Das belegen die acht Wurfgeschosse, die in den 1990ern in dem Braunkohletagebau Schöningen bei Helmstedt geborgen wurden. Sie sind zwischen 1,80 und 2,30 Meter lang und weisen die Konstruktionsmerkmale moderner Wurfspeere auf. Experimente mit Nachbauten haben gezeigt, dass mit mit ihnen Reichweiten von bis zu 65 Meter erzielt werden konnten, bei einer Treffergenauigkeit von 20 bis 30 Meter.
Um die Entwicklungsgeschichte dieser ältesten Fernwaffe der Menschheit auf eine breitere Grundlage zu stellen, erfassen Wissenschaftler des Brandenburgischen Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologischen Landesmuseums die bronzenen Lanzenspitzen, die sich in europäischen Museen und Sammlungen erhalten haben. Ziel sei eine Onlinedatenbank, aus der Forscher weltweit Informationen beziehen können, sagt Landesarchäologe Franz Schopper, Direktor des Archäologischen Landesmuseums Brandenburg. Es gebe zwar bereits übergreifende Arbeiten zu Lanzenspitzen der Bronze- und frühen Eisenzeit, aber noch keine mit einer so großen Datenbasis.
Im Gegensatz zu den Schöninger Speeren, bei denen es sich um exzellent gearbeitete, aber nur angespitzte Holzstäbe handelt, waren die Fernwaffen zwischen 1600 und etwa 900 v. Chr. in Europa mit einer Spitze aus Bronze ausgestattet. Europaweit sind knapp 17.000 Funde bekannt. „Manche sind zweckmäßig und schlicht gefertigt, andere auch etwas angeberisch und reich verziert, mit denen der Besitzer Eindruck schinden wollte“, sagt Schopper. Für den Kampf reichten aber einfache Spitzen völlig aus.
Die Herstellung setzte bereits ein hohes Maß an technischen Fertigkeiten und wirtschaftlicher Vernetzung voraus. Kupfer und Zinn zur Bronzeherstellung mussten gefördert und zum Teil über weite Strecken gehandelt werden. Schmiede entwickelten Techniken, um die Speerspitze mit einer Höhlung herzustellen, um sie auf einem Holzstab fixieren zu können.
Dafür war das Beherrschen hoher Temperaturen ebenso notwendig wie das Verhindern von schädlicher Blasenbildung, die das Metall brüchig gemacht hätte. Zum Teil wurde das Metall verziert – mit Schraffuren oder Einkerbungen. Mit mehrfach verwendbaren Gießformen konnten ganze Serien von Speerspitzen erzeugt werden. Durch Bearbeitung mit dem Schmiedehammer wurde das Material zusätzlich gehärtet und geschärft.
Auch nach dem Ende der Bronzezeit waren Speer und Lanze entscheidende Waffen. Sowohl die griechischen als auch die römischen Armeen führten sie mit Eisenspitze. Die griechischen Hopliten setzten sie auch im Nahkampf ein. Die Makedonen entwickelten daraus die bis zu fünf Meter lange Sarisse, mit der die Phalanx feindliche Linien durchbrechen und Kavallerieangriffe stoppen konnte.
Das etwa 2,10 Meter lange römische Pilum diente dagegen der Zermürbung der feindlichen Schlachtordnung. Im archäologischen Experiment zeigten diese Speere eine erstaunliche Durchschlagskraft. Selbst massive Schilde aus Holz wurden von den bis zu 50 Zentimeter langen Eisenspitzen durchschlagen, sodass beim Einsatz gegen tief gestaffelte Schlachtreihen auch die Hinterleute getroffen werden konnten.
Doch der entscheidende Trick war die Konstruktion der Spitze sowie ihr Verbindungsstück mit dem Schaft. Hatte sich die lange Spitze erst einmal in Schild oder Körper gebohrt, sorgte das Gewicht und die Hebelwirkung des hölzernen Schafts dafür, dass sich das Eisen verbog. Damit behinderte das Pilum den Getroffenen, so er denn überlebt hatte, beim Weiterkämpfen und stellte zudem sicher, dass dieser die Waffe nicht gegen die Römer verwenden konnte.
aus FAZ.NET, 16. 1. 2022
Die SPD verliert trotz ihres Erfolgs bei der Bundestagswahl im vergangenen Herbst weiter an Mitgliedern. Entgegen Behauptungen der Partei während der Wahlkampagne ist die Zahl der eingeschriebenen Sozialdemokraten sogar unter die symbolisch wichtige Marke von 400.000 gefallen. Aktuellen Angaben des Willy-Brandt-Hauses zufolge haben im letzten Jahr der Amts-zeit des früheren Generalsekretärs Lars Klingbeil mehr als 22.000 Mitglieder die Partei verlas-sen.
Nach dem Wahlerfolg bei der Bundestagswahl traten der Partei im September zwar mehr Neu-mitglieder bei als in allen anderen Monaten des Jahres, doch sie konnten den abermaligen Ver-lust von etwa fünf Prozent der Mitgliedschaft nicht ausgleichen. Die Zahl der Neumitglieder für das ganze Jahr lag bei 12.266.
Rechnet man Ein- und Austritte zusammen, hatte die SPD zum 31. Dezember 2021 noch 393.727 Mitglieder. Ein Jahr zuvor waren es 404.300 gewesen, Anfang 2018 noch 463.700. Der inzwischen ausgeschiedene Parteivorsitzende Norbert Walter-Borjans hatte noch im Dezem-ber in seiner Bilanzrede beim Parteitag behauptet, die SPD-Mitgliedschaft betrage „400.000 an der Zahl“. ...
Bei den Sozialdemokraten bleibt auch die Hoffnung unerfüllt, den Anteil
der Frauen in der Partei nennenswert zu erhöhen. Nach wie vor sind mehr
als zwei Drittel der Parteimitglieder männlichen Geschlechts. Der
Frauenanteil stieg in den vergangenen 20 Jahren um lediglich zweieinhalb
Prozentpunkte. ...
Die Sozialdemokraten teilten auf mehrfache Nachfrage hin mit, dass acht Prozent ihrer Mit-glieder unter 30 Jahre alt seien und 56 Prozent älter als 60 Jahre. Das Durchschnittsalter der Parteimitglieder ist auf nunmehr 61 Jahre gestiegen.
Von Peter Carstens, Berlin
Erst das Pferd machte den Krieger des Mittelalters zum Ritter. Denn es bewies, dass er sich ein Leben für den Kampf leisten konnte. Das mag erklären, warum in Filmen oder auf modernen Darstellungen die ritterlichen Reittiere als regelrechte Monster erscheinen, die sie offenbar gar nicht waren. Das zumindest ist das Ergebnis einer vom Arts and Humanities Research Council finanzierten Studie, die jetzt im „International Journal of Osteoarchaeology“ erscheint. Danach zogen viele Ritter mit besseren Ponys in die Schlacht oder auf den Turnierplatz.
Dafür hat ein Team von Wissenschaftlern der Universität von Exeter und weiterer britischer Hochschulen Pferdeknochen analysiert, die auf 171 archäologischen Stätten des Vereinigten Königreichs geborgen wurden und die zwischen 300 und 1650 n. Chr. datiert werden. Es zeigte sich, dass im Hochmittelalter ab etwa 1100 Pferde nicht einmal 1,48 Meter hoch waren, die Größe also eines Ponys nicht überstiegen. Erst ein Tier, dessen Widerrist, also der Übergang vom Hals zum Rücken, höher ist, gilt heutzutage als Pferd.
„Weder die Größe noch die Stärke der Knochen allein reichen aus, um Schlachtrosse sicher zu identifizieren“, sagt die Zooarchäologin Helene Benkert von der Universität Exeter. Die Körperformen der Tiere richteten sich nach den Anforderungen im Kampf, im Einsatz überhaupt und nicht zuletzt nach dem Geschmack der Käufer. Offenbar legten Züchter im Mittelalter mehr Wert auf das Temperament und körperliche Eigenschaften als auf die Größe.
Zum Panzerreiter machte ihn das „destrier“, das Kampfpferd, von dem begüterte Kämpfer durchaus mehrere Tiere im Bestand haben konnten. Sie waren neben Rüstung und Waffen das wertvollste Gut des Ritters. Man hat errechnet, dass ein solches Pferd Mitte des 12. Jahrhunderts so viel kostete wie 40 Zelter, 200 Saumtiere, 500 Ochsen oder 4500 Schafe, was der vier- bis fünffachen Summe entsprach, die ein englischer Ritter ein Jahr lang für seinen Lebensunterhalt aufwenden musste.
Diese Schlachtpferde waren nicht auf geradlinige Geschwindigkeit gezüchtet, sondern auf eine wohlausgewogene Mischung aus leichtfüßiger Beweglichkeit, Stärke, Ausdauer und kriegerischem Temperament, schreibt der Historiker Thomas Asbridge. Destrier wurden lange und intensiv trainiert. Denn sie mussten auf jeden Befehl ihres Reiters auch ohne Einsatz des Zügels reagieren, denn dieser hatte mit Lanze, Schwert und Schild alle Hände voll zu tun.
„Ganz entscheidend war auch die Abhärtung der Tiere gegen den dröhnenden Lärm und die entsetzliche Gewalt eines mittelalterlichen Schlachtfelds.“ Diese Pferde waren daher eine begehrte Beute, im Kampf oder im Turnier. Allerdings wird ihre Zahl in Relation zur übrigen Pferdepopulation im mittelalterlichen England einigermaßen überschaubar gewesen sein. Stellt man außerdem noch in Rechnung, dass der Fund von historischen Pferdeskeletten doch sehr vom Zufall abhängt, wird das methodische Problem der aktuellen Studie deutlich.
Sie unterstreicht einmal mehr, dass „das Schlachtross ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis der mittelalterlichen englischen Gesellschaft und Kultur“ ist, sagt der Archäologe Oliver Creighton von der Universität Exeter und wissenschaftlicher Leiter des Projekts: Als Statussymbol war das Pferd sowohl eng mit der Entwicklung aristokratischer Identität verbunden und spiegelt als Waffe die sich wandelnden Verhältnisse auf dem Schlachtfeld.
Dazu
passt, dass die Größe der Pferde just zu jener Zeit größer wurden, in
der die Ritter ihre militärische Rolle zunehmend verloren. In der Frühen
Neuzeit lösten Massenheere aus leicht bewaffneten Fußsoldaten
die schwer gepanzerten Ritter ab. Fürstliche Armeen führten von nun an
Kriege; dem Ritter blieb nur die Rolle des adligen Grundherrn. [Und, wenn er sich dafür nicht zu fein war, des mitzehrenden Höflings]
Alkohol ist mit unserer Gesellschaft so fest verwoben, dass ausgerechnet von denen, die in geselliger Runde nicht trinken, angenommen wird, sie hätten ein Alkoholproblem. Das Anstoßen zum Jahreswechsel ist Kult, bei Volksfesten fließt fässerweise Bier, und zu jedem Feinschmecker-Menü gehört der passende Wein. Wie konnte von allen Rauschmitteln ausgerechnet Ethanol zum Kulturphänomen werden?
Alkohol nimmt unter den Drogen eine Sonderrolle ein, ist fast schon Teil des Menschseins. Durch eine Mutation vor etwa zehn Millionen Jahren war es den Vorfahren der Menschen, Gorillas und Schimpansen möglich, Ethanol mittels eines Enzyms effektiv abzubauen, wie Forscher der University of California in Berkeley anhand von Erbgutanalysen 2015 herausfanden: So konnten unsere Ahnen vergorene Früchte vom Waldboden verspeisen, die Kalorien lieferten.
Viele Wissenschaftler vermuten, dass Homo sapiens nicht nur sesshaft wurde, um Getreide für Brot zu pflanzen, sondern um damit Bier zu brauen. In der Rakefet-Höhle im heutigen Israel lagerten Steingefäße mit Überresten eines Gärprozesses, die vor 13.000 Jahren genutzt wurden und somit die ältesten Hinweise auf Brauerei sind. Damals lebten dort Menschen der Natufien-Kultur, für die Bier zu Festen gehörte. Auch bei den Babyloniern und im alten Ägypten wurden alkoholhaltige Getreidezubereitungen gern getrunken. Freilich unterschieden sich diese vom Lieblingsgetränk der Deutschen, enthielten etwa keinen Hopfen und auch weniger Ethanol.
Archäologen berichteten jüngst von der wohl ältesten Brauerei industriellen Ausmaßes. In Abydos, dem Sitz der frühen ägyptischen Herrscher, konnten um 3000 v. Chr. rund 22.000 Liter Bier auf einmal produziert werden. Die wurden gebraucht, um Monumente wie die Totentempel zu errichten, denn Arbeiter erhielten Bier als Lohn. Außerdem war es Teil kultureller Rituale und Festlichkeiten. „In den frühen Hochkulturen wurde Bier oder Alkohol gemeinschaftlich getrunken, vor allem von Männern und mit kultischer Bedeutung“, sagt Gunther Hirschfelder, Inhaber des Lehrstuhls für Vergleichende Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg und Autor eines Buches über die Geschichte des Bieres. Alkoholkonsum, Rausch und Religion gehörten also eng zusammen. Das zieht sich durch die Geschichte – man denke an Dionysos oder Bacchus, den Gott des Weins und des Rausches der klassischen Antike, oder die vielen hundert Bibelstellen, in denen vom Wein die Rede ist.
Auf fast allen Kontinenten erfand man berauschende Getränke. Asiatische Steppenvölker tranken vergorene Stutenmilch, der Reiswein Sake wird in Japan seit rund 2000 Jahren gesüffelt, in Südamerika brauten die Inkas eine Art Bier aus Mais, und in Mesoamerika sprach man dem Pulque zu, vergorenem Agavensaft. Die Germanen tranken Met auf Honigbasis auch zu Ehren ihrer Götter. Der römische Geschichtsschreiber Publius Cornelius Tacitus schrieb im frühen zweiten Jahrhundert über die Gelage der Germanen: „Tage und Nächte durchzuzechen hat durchaus nichts Anstößiges.“ Durch solche Zeugnisse entsteht der Eindruck, im Altertum sei jedermann ständig volltrunken herumgetorkelt. Doch der täuscht. „Von der Größenordnung des Alkoholkonsums, die wir heute imaginieren, ist nicht auszugehen“, sagt Hirschfelder. Den meisten Menschen mangelte es immer wieder an Nahrung, schon die Schwankungen der Ernte verhinderten einen konstanten Alkoholfluss. Hinzu kommt: „Im gesamten Ernährungsbereich herrschte eine Hierarchisierung, von frühen Hochkulturen bis zum Bauernhof des 19. Jahrhunderts“, so Hirschfelder. Regelmäßige Exzesse waren nur der Oberschicht möglich.
Ein Mythos lautet auch, im Mittelalter hätte man in Mitteleuropa ausschließlich Alkohol getrunken, weil das Wasser so verdreckt war. Tatsächlich trank im späteren Deutschland, wer es sich leisten konnte, bis in die frühe Neuzeit tagsüber Bier, das allerdings wenig Alkohol enthielt, oder Wein, vor allem in den Städten, wo die Wasserqualität schlecht war. Doch für die städtische Unterschicht und einfache Bauern war das Hauptgetränk dennoch Wasser. Alkohol war eher eine nahrhafte Ergänzung, so aßen auch Kinder bis ins 19. Jahrhundert Biersuppe zum Frühstück.
Schon für Tacitus war die „Trunksucht“ der Germanen eine Schwäche, und bereits der Aztekenherrscher Motecuhzoma I. erließ drakonische Strafen gegen den Pulque-Konsum. Doch erst im 19. Jahrhundert wurde man sich der Gefahren des Alkohols für die Gesundheit bewusst. Ein Anlass war die sogenannte Branntweinpest: Schnaps, ursprünglich eine Arznei, wurde plötzlich in rauen Mengen gesoffen, ein Mann in Preußen genehmigte sich um 1840 im Schnitt etwa acht Liter reinen Alkohol im Jahr. Zwar tranken auch einfache Arbeiter, doch der Elendsalkoholismus war nicht so verbreitet, wie wir heute glauben, meint Hirschfelder. „Die Hauptklasse der Leute, die ungehemmt trinken konnten, waren Männer des Bürgertums, der Handwerkerschaft und besonders der Oberschicht.“ In dieser Zeit kamen die ersten Abstinenzbewegungen auf, Alkoholismus wurde von Medizinern zunehmend als schädlich und krankhaft erachtet.
Die Art, wie wir trinken, wandelt sich bis heute: Im 20. Jahrhundert trank man etwa durch die Ansprüche der Arbeitswelt eher am Abend denn über den Tag. Doch noch in den 1970er-Jahren stellten Arbeitgeber ihrem Personal Dienstbier, und in so manchem Büro war stets eine Whiskyflasche griffbereit. Welches Maß an Alkoholkonsum noch normal ist, das sieht jede Zeit anders.