Mittwoch, 26. Januar 2022

Vor 50 Jahren: Willy Brandts Radikalenerlass.

Demonstration im Mai 1974 in Düsseldorf gegen den Radikalenerlass aus dem Jahr 1972. 

aus nzz.ch, 26. 1. 2022 

Der Radikalenerlass von 1972
Ausschluss ist immer ein Zeichen für getrübten politischen Instinkt
In Erinnerung an die Zerstörung der Weimarer Republik von innen heraus wollte man die Verfassungstreue der deutschen Beamtenschaft vor fünfzig Jahren mit einer Überprüfung absichern. Die Geschichte eines Berufsverbotes und seiner Folgen


von Herfried Münkler

Vermutlich hatte keines der Kabinettsmitglieder die politische Brisanz der Beschlussvorlage geahnt, die sich am 28. Januar 1972 in den Unterlagen für die Sitzung der Bundesregierung in Bonn befand. Im Prinzip ging es dabei ja auch nur um eine bundeseinheitliche Regelung für das Verfahren, in dem von den Bundesländern die Verfassungstreue der einzustellenden Beamten und Beamtinnen überprüft wurde.

Der Paragraf 35 des Beamtenrechtsrahmengesetzes, in dem festgehalten war, dass sich Beamte durch ihr gesamtes Verhalten zur Ordnung des Grundgesetzes zu bekennen hatten, sollte ländereinheitlich gehandhabt werden. Das war von der Sache her durchaus sinnvoll. Es sollte verhindert werden, dass entschiedene Verfassungsfeinde, gleich, ob von rechts oder links, in einem Bundesland abgelehnt und im anderen mit hoheitlichen Aufgaben oder der Erziehung von Kindern beauftragt wurden. Die Geschichte der Weimarer Republik war ein Beispiel für die Folgen, wenn man hier keine Sicherungen einbaute.

Der Teufel dieser schon bald als Radikalenerlass bezeichneten Entscheidung steckte im Detail, wie die Verfassungstreue zu überprüfen war. Erstens in der Regelanfrage bei den Verfassungsschutzbehörden: Das Prüfungsverfahren sollte auf alle ausgeweitet werden, die in den öffentlichen Dienst eintreten wollten, statt einer Beschränkung auf evidente Verdachtsfälle. Zweitens sollte die Anfrage für alle Bereiche des öffentlichen Dienstes gelten, also ohne Einschränkung auf besonders sensible Tätigkeiten. Die Regelung galt auch für Bahnbedienstete und Briefträger. Drittens sollten auch bereits bestehende Beamtenverhältnisse überprüft werden, so dass es auch zu Entlassungen aus dem Dienstverhältnis kommen konnte.

Entlassung, Entschädigung, Rehabilitation

Womöglich war diese Ausweitung dem Imperativ der Verfahrensgerechtigkeit geschuldet, vielleicht wollte man auch nur sicherstellen, dass niemand unbemerkt durchrutschte. Das aber war Beamtenlogik, politisch gedacht war es nicht, denn damit war das Skandalisierungspotenzial des Verfahrens sehr viel grösser als bei selektiven Überprüfungen. Das Ganze wurde zum Ansatzpunkt für politischen Widerstand: Schon bald war von «Berufsverboten» die Rede, was in der Diskussion dann nicht an Richtern, hohen Offizieren oder Schulleitern exemplifiziert wurde, sondern an Eisenbahnern und Briefträgern.

Der öffentliche Dienst der frühen 1970er Jahre war noch umfassend, und es gab keine alternative Berufsausübung bei privaten Unternehmen. Die Vorstellung von hoheitlichen Aufgaben war noch nicht durch Privatisierungen aufgeweicht. So kam es zwischen 1972 und 1985 zu 3,5 Millionen Regelanfragen, in deren Folge 1250 Bewerber nicht als Lehrer oder Hochschullehrer eingestellt und 250 Beamte entlassen wurden. Einige von ihnen wurden später entschädigt und rehabilitiert, und so mancher von denen, die bei einer Überprüfung qua Regelanfrage abgewiesen wurden, avancierte später als Politiker zu einer staatstragenden Säule der Bundesrepublik.

Nicht die selektive Überprüfung der Verfassungstreue, sondern die Regelanfrage für den gesamten öffentlichen Dienst und die Unzuverlässigkeit so mancher Antwort der Verfassungsschutzbehörden waren das Problem. Willy Brandt, unter dessen Kanzlerschaft der Radikalenerlass beschlossen wurde, sagte später, dies sei einer der kardinalen Fehler seiner Amtszeit gewesen. Die administrative Durchführung des Erlasses stand im eklatanten Gegensatz zu der – mit Brandts Kanzlerschaft emblematisch verbundenen – Formel in seiner ersten Regierungserklärung von 1969, «mehr Demokratie zu wagen».

Berufsverbots-Debatte

Für Brandt, den Emigranten von 1933, der nach dem Ende der Nazizeit zurückgekehrt war, um am Aufbau eines demokratischen Deutschlands mitzuwirken, war Demokratie nach wie vor ein Wagnis. Er wusste um die Bedrohung vonseiten der Extreme – und das dürfte mit ein Grund dafür gewesen sein, warum er sich Anfang 1972 überhaupt auf den «Extremistenbeschluss» eingelassen hatte. Die Erinnerung an die Weimarer Republik und ihre Zerstörung von innen heraus mitsamt der Rolle, die dabei die Beamtenschaft – Richter, Lehrer, Offizierskorps – gespielt hatte, trübte damals seinen politischen Instinkt, der ihn vor diesem Beschluss und der Art seiner Durchführung eigentlich hätte warnen müssen.

In der Berufsverbots-Debatte der 1970er Jahre – der Erlass wurde 1979 von der sozialliberalen Koalition offiziell aufgekündigt – spielte nämlich nicht die Weimarer Republik, sondern die ersten zwei Jahrzehnte der Bundesrepublik die Hauptrolle. Damals gaben sich viele ehemalige NSDAP-Mitglieder – und unter ihnen so manch überzeugter Nazi und zahlreiche Kriegsverbrecher, die eigentlich hätten vor Gericht gestellt werden müssen – in der Beamtenschaft ein Stelldichein. Es betraf die Ministerialbürokratie über die Richterschaft bis zu den lokalen Verwaltungen.

Wäre der Radikalenerlass von 1972 auf die alten Nazis angewandt worden, so hätte schätzungsweise die Hälfte der im öffentlichen Dienst Beschäftigten daraus entfernt werden müssen. Ende der 1960er Jahre hatte sich das politische Klima in Deutschland geändert, und es war absehbar, dass der Erlass vorwiegend Linke und nicht Rechte treffen würde. Dementsprechend wurde er als «parteiisch» kritisiert, nicht zuletzt auch in der Sozialdemokratie und bei den Liberalen der FDP, also in den die Regierung stellenden Parteien.

Schon bald war klar, dass man einer Logik des Administrativen auf den Leim gegangen war und nicht politisch gedacht hatte. Es dauerte sieben Jahre, bis man aus der selbst gestellten Falle wieder herauskam, und genau in dieser Zeit verlor die SPD ihre Fähigkeit zur umfassenden Integration der politischen Linken des Landes.

Geburt der Grünen

Man kann den Erlass darum mit einem gewissen Recht als Initialzündung zur Aufsplitterung der Parteienlandschaft in Deutschland bezeichnen. Sicherlich kam noch anderes dazu, vor allem die Atomenergiepolitik und der Nato-Doppelbeschluss. Ob aber die daraus entstandene Partei, die Grünen, ohne die politischen Talente, die in den 1970er Jahren nicht bei der SPD gelandet waren, auf Dauer stabil und integrationsfähig gewesen wäre, ist durchaus die Frage.

Sicherlich gab es auch einige Gründe, die für einen genaueren Blick auf den Linksextremismus sprachen. So hatte Rudi Dutschke vom «Marsch durch die Institutionen» gesprochen, den man jetzt antreten werde, mit der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) war 1969 eine Partei gegründet worden, die man entweder als Nachfolgeorganisation der vom Bundesverfassungsgericht verbotenen KPD oder als politischen Arm der DDR ansehen konnte. Und mit der Baader-Meinhof-Gruppe hatte sich eine linksterroristische Formation gebildet, von der die Schwächen des föderalen Polizeisystems spektakulär offengelegt wurden.

Misstrauensvotum

Die von der Opposition bedrängte Regierung wollte nicht als hilflos oder schwächlich dastehen, zumal sie nur über eine knappe Mehrheit im Bundestag verfügte, deren Erosion durch den Übertritt von SPD- wie FDP-Abgeordneten zur CDU bereits in Gang war. Das Misstrauensvotum gegen Brandt vom Frühsommer 1972 zeichnete sich ab. Diejenigen, die den Radikalenerlass nicht als blossen Verwaltungsakt ansahen, sondern seine politische Dimension überblickten, könnten ihn als Zeichen politischer Stärke angesehen haben.

Und in gewisser Hinsicht spielt auch die damals alles beherrschende Debatte über die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition hinein: Die aussenpolitische Annäherung an die UdSSR und die Anerkennung der DDR sollten nicht als Aufweichung der politischen Trennlinien im Innern missverstanden werden.

Es ging um die Unterstützung durch jene Wähler, die für eine neue Aussenpolitik eintraten, aber den Kommunisten im Innern der Bundesrepublik deswegen keine grösseren politischen Spielräume zugestehen wollten. Kurzfristig mögen diese Kalküle aufgegangen sein und zu Brandts fulminantem Wahlsieg im Herbst 1972 beigetragen haben, aber längerfristig war es eine Fehlkalkulation, wie dies Willy Brandt im Rückblick eingestanden hat.

«Reichsbürger» und die Spätfolgen

Was lässt sich aus dem misslungenen Projekt von Anfang 1972 lernen? Ganz offensichtlich gehört das vorsichtige, zurückhaltende Agieren der deutschen Behörden gegenüber «Reichsbürgern» und anderen erklärten Verfassungsfeinden auf der extremen Rechten zu den Spätfolgen des Radikalenerlasses.

Man fürchtet, durch ein entschlosseneres Vorgehen könne es zu einer politischen Verfestigung der Szene kommen, die man gerade vermeiden will. Man will all jenen, die irgendwie und irgendwann in ihr gelandet sind, die Möglichkeit des Ausstiegs offenhalten. Des Weiteren will man die Produktion von Märtyrern vermeiden, die dann als inkarnierte Anklagen genutzt werden können, um den liberalen Anspruch der politischen Ordnung infrage zu stellen.

Unter keinen Umständen will man zudem riskieren, durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in die Schranken gewiesen zu werden. Dieser hatte 1995 Deutschland wegen der Entlassung eines DKP-Mitglieds aus dem Staatsdienst unter Verweis auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit zur Wiedereinstellung des Betreffenden und zu Schadenersatz verurteilt.

Auch die gegenwärtige Zurückhaltung beruht auf einer politischen Kalkulation. Es bleibt freilich abzuwarten, ob sie aufgeht oder ob damit womöglich Liberalität an einer Stelle gezeigt wird, wo die extreme Rechte sie als Schwäche verstehen und ausnutzen könnte, um die Demokratie zu zerstören. Lernen aus der Geschichte schliesst nicht aus, dass man das Falsche lernt.

 

Nota. - Ach, war es nicht Willy Brandts Radikalenerlass? - Na ja, aber es war nicht seine Idee - das haben ihm inkompetente Berater eingeredet! Womöglich gar Günter Guillaume!!

Als 1974 Brandt zurücktrat und Helmut Schmidts "restriktive Rahmenbedingungen" ausbra-chen, war die Zeit der innerlich längst ausgetrockneten linksradikalen Sekten endgültig vorüber, und die natürlichste Sache der Welt wäre gewesen, dass sie nach und nach alle reumütig, wenn auch nicht ohne Ziererei, unter die Fittiche der alten Tante SPD zurückgeschlichen wären.

Aber da waren die Berufsverbote. Der Graben war zu breit, da kam man nicht so einfach rü-ber, dieses Tischtuch war zerschnitten. Ohne Willy Brandt und seinen Radikalenerlass hätten Die Grünen nicht entstehen können.

JE

 

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