aus derStandard.at, 6. 1. 2022
"Hau ab!", faucht Liz Cheney ihren republikanischen Parteikollegen Jim Jordan an und schlägt seine helfende Hand zur Seite: "You fucking did this!" – "Du hast das angerichtet!". Es ist der 6. Jänner 2021, kurz nach 14 Uhr, als die Sicherheitskräfte des US-Kapitols in die laufende Parlamentssitzung zur Präsidentschaftswahl platzen. Ein wütender Mob von Trump-Anhängern hat das Gebäude gestürmt.
Die Sicherheitskräfte verteidigen mit gezogener Pistole den Eingang zum Plenarsaal, während die Abgeordneten angewiesen werden, sich die unter den Sitzen befindlichen Gasmasken überzuziehen. Panik bricht aus. Der Vizepräsident samt Familie wird unter Geleitschutz in einen Sicherheitsraum eskortiert. Abgeordnete laufen um ihr Leben, verschanzen sich mit ihren Mitarbeitern in den Büros. Fünf Menschen kommen an diesem Tag ums Leben, hunderte werden verletzt.
Dieser 6. Jänner sollte als schwarzer Tag in die amerikanische Geschichte eingehen. Ein Tag, der die USA völlig unvorbereitet traf und drohte, das gesamte Land ins Chaos zu stürzen. Die Vereinigten Staaten von Amerika, diese stolze Nation, die sich im Treueschwur auf die Flagge als "unbesiegbar" bezeichnet und die fernen Ländern gerne mit viel missionarischem Eifer und noch mehr Kriegsgerät Lektionen in Demokratie erteilt; ausgerechnet diese Supermacht wäre um ein Haar Schauplatz eines gewaltsamen Staatsstreichs geworden, angezettelt vom eigenen Präsidenten.
Wie konnte es so weit kommen? Das herauszufinden, ist die Aufgabe eines überparteilichen parlamentarischen Komitees, das seit Monaten dabei ist, ehemalige Mitarbeiter und Vertraute von Donald Trump vorzuladen, notfalls sogar verhaften zu lassen, sollten diese ihre Mitarbeit verweigern.
Das Gremium, zu dem auch Liz Cheney, die republikanische Abgeordnete aus Wyoming, gehört, steht vor einer Mammutaufgabe. 300 Zeugenaussagen, mehr als 60.000 Seiten an Dokumenten müssen ausgewertet werden. Auch wenn noch viele Fragen offen sind, ergeben die Puzzle-Teile, die bis heute bekannt sind, ein düsteres Bild über die allgemeine Verfassung der USA. Wie zerrissen die Gesellschaft ist und wie schnell selbst die stärksten Pfeiler von Demokratien zum Wanken gebracht werden können, sofern man weiß, welche Knöpfe gedrückt werden müssen.
Schon lange vor der Wahl, im Frühjahr 2020, begann Donald Trump damit, via Twitter und Facebook Gerüchte von einem möglichen Betrug zu streuen. Je näher der Wahltermin rückte, umso verheerender fielen die Umfragewerte für den Präsidenten aus. Als die Wahl Anfang November verloren ging, kam fünf Tage später in Arlington, am anderen Flussufer von Washington, das Trump-Team zusammen, um über mögliche nächste Schritte zu beraten. Mit darunter auch Stabschef Mark Meadows sowie Kayleigh McEnany, Trumps Pressesprecherin, die noch am selben Tag im Weißen Haus verkündete, diese Wahl sei "noch nicht gelaufen – noch lange nicht".
Es folgten Versuche, die Wahl juristisch anzufechten und für ungültig erklären zu lassen. Dazu wurde von Trumps Gefolgsleuten eine Reihe von wilden Behauptungen und Verschwörungsmythen aufgestellt, die sich vor Gericht allesamt als Unsinn erwiesen. Darunter auch die Legende, das US-Militär hätte in Deutschland Server beschlagnahmt, die im Zusammenhang mit manipulierten Wahlcomputern stünden. Eine andere Theorie, die sich in den sozialen Medien verbreitete, sprach von gefälschten Wahlzetteln, die aus Südkorea eingeflogen worden seien. Noch nicht einmal republikanisch geführte Bundesstaaten wie Arizona oder Georgia konnten nach intensiven Nachforschungen Belege für irgendwelche Unregelmäßigkeiten feststellen. Dutzende Klagen Trumps liefen ins Leere und scheiterten zuletzt sogar vor dem durch Trump persönlich mehrheitlich konservativ besetzten Supreme Court.
Im Dezember wurden die Untersuchungsberichte der eigenen Behörden, darunter auch das FBI, von Trump in Zweifel gezogen. Der Präsident und seine engsten Vertrauten begannen damit, Mitarbeiter aus dem Justizministerium, Gouverneure und einflussreiche Wahlkampfspender anzurufen. Darunter auch ein Telefonat, das seinen Weg in die "Washington Post" fand: "Ich will nur 11.780 Stimmen finden", drängt der US-Präsident den republikanischen Wahlaufseher von Georgia, Brad Raffensperger, in dem Telefonmitschnitt. 19-mal soll Trump Raffensperger zuvor angerufen haben, um die nötigen Stimmen für ihn zu finden. Später reichte der Präsident Klage gegen den Regierungsbeamten ein, weil dieser das Gespräch aufgenommen und veröffentlicht habe.
Anfang 2021 überschlugen sich die Ereignisse. Am 6. Jänner kamen die Abgeordneten beider Kammern zur Ratifizierung der Präsidentschaftswahl im US-Kapitol zusammen. Für gewöhnlich ein rein formaler Akt, bei dem die Stimmen der Wahlleute verlesen werden, um dann den Wahlsieger auszurufen. Für Trump war es die letzte Möglichkeit, den demokratischen Prozess einer geordneten Amtsübergabe zu stoppen. Aus beschlagnahmten E-Mails und Textnachrichten geht hervor, dass Vizepräsident Mike Pence angewiesen wurde, das Votum einzelner Bundesstaaten aufgrund von "Unregelmäßigkeiten" nicht anzuerkennen. Dadurch hätte sich das Stimmenverhältnis verschoben und Trump hätte, jedenfalls in seiner Vorstellung und in windschiefen Interpretationen der Gesetze, zum Wahlsieger erklärt werden können. Doch dazu kam es nicht mehr. Tausende von Trump angestachelte Demonstranten zogen zu diesem Zeitpunkt bereits vom Weißen Haus in Richtung Kapitol.
Was die persönliche Schuldfrage des Ex-Präsidenten betrifft, liegt auch heute noch, ein Jahr später, vieles im Dunkeln. Hatte Trump persönlich seinen Stabschef Mark Meadows oder den Kongressabgeordneten Jim Jordan dazu aufgefordert, das Gesetz zu brechen? Wieso weigerte sich der Ex-Präsident mehrere Stunden lang, seine Anhänger zurückzurufen, während er das Spektakel vor dem Fernseher verfolgte? Warum hat er nicht sofort die Armee in Bewegung gesetzt, um das Parlamentsgebäude zu verteidigen? Und: Kann der Commander in Chief als oberster Befehlshaber auch für Untätigkeit belangt werden? Hätte Trump die allgemeine Lage über den sogenannten "Insurrection Act" umgekehrt für einen Putsch nutzen können, wenn die Nationalgarde früher zum Einsatz gekommen wäre? Drohte gar ein Bürgerkrieg? Was bisher bekannt ist, legt nahe, dass die USA knapper am Kollaps vorbeischrammten als bisher bekannt.
"Präsident Trump war persönlich an der Planung und Durchführung des 6. Jänner beteiligt und dieser Ausschuss wird dem auf den Grund gehen", hatte Kongressabgeordnete Cheney zum Auftakt der Ermittlungen im letzten Herbst angekündigt. Die Uhr tickt. Sollten die Demokraten bei den Zwischenwahlen im November die Mehrheit im US-Kongress verlieren, wäre das vermutlich auch das Ende der Untersuchungskommission.
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