aus nzz.ch, 15. 2. 2022 Auch
wenn die Produktionsmittel in privater Hand blieben, nahm der Staat im
Dritten Reich eine immer grössere Rolle im Wirtschaftsleben ein. Hier
Arbeiter auf der neu errichteten Reichsautobahn Stuttgart–Ulm (um 1936).
Historiker Brendan Simms:
«Hitler glaubte, man könne nicht Antisemit sein, ohne Antikapitalist zu sein – und umgekehrt»
Wer
behauptet, die Nazis seien Sozialisten gewesen, kann im deutschen
Sprachraum seinen Job verlieren. Dabei habe sich Adolf Hitler selbst in
erster Linie für einen Antikapitalisten gehalten, sagt der Historiker
Brendan Simms.
Herr
Simms, im deutschen Sprachraum löste jüngst der Fall einer Journalistin
eine gewisse Aufregung aus. Auf Twitter hatte sie geschrieben, die
Nazis seien nicht nur Mörder, sondern auch «durch und durch Sozialisten»
gewesen. Von ihrem Arbeitgeber, einem österreichischen Onlineportal,
wurde sie daraufhin entlassen. Ist die Empörung über ihre Aussage
berechtigt?
Die
Aussage ist sicherlich allzu simpel. Natürlich waren die Nazis keine
Sozialisten in dem Sinn, in dem etwa Willy Brandt ein Sozialist war.
Aber sie haben sich selbst als solche verstanden: Sie glaubten, der
wahre Nationalismus bedeute immer Sozialismus – und andersherum. Dass
sie tatsächlich Sozialisten waren, kann man bezweifeln, aber für mich
als Historiker, der sich mit Hitlers Gedankenwelt beschäftigt, ist das
Entscheidende, wie sich die Nazis selbst sahen.
In Ihrer Hitler-Biografie von 2019
vertreten Sie die These, Hitlers Hass auf den Bolschewismus habe im
Vergleich mit seiner Angst vor Amerika und Grossbritannien sowie seiner
Ablehnung des Kapitalismus eine untergeordnete Rolle gespielt.
Wobei
es wichtig ist, zu betonen, dass sich sein Hass vor allem gegen den
internationalen Kapitalismus, so wie er ihn verstand, richtete. Hitlers
Hauptaugenmerk lag auf dem, was er selbst «Plutokratie» nannte. Diese
assoziierte er mit dem sogenannten Weltjudentum, aber auch mit den
angelsächsischen Mächten, die er im Vergleich mit der Sowjetunion für
deutlich stärker und gefährlicher hielt. Natürlich hatte er auch Angst
vor dem Bolschewismus, doch spielte diese eine untergeordnete Rolle. Den
Bolschewismus sah er als eines der Instrumente des internationalen
Kapitals, um Deutschland und andere Länder willenlos zu machen.
Also eine klassische Verschwörungstheorie: Die Kapitalisten benutzten den Bolschewismus, um Deutschland zu unterwerfen.
Den
Sozialisten sagte Hitler sinngemäss: Ihr dachtet, jetzt unterminieren
wir das Kaiserreich und dann haben wir die internationale
Völkerverbrüderung. Stattdessen habt ihr Deutschland nur geschwächt, so
dass es nun ein reines Objekt der internationalen kapitalistischen
Mächte ist. Interessant daran ist, dass das Deutsche Reich diese Taktik
im Ersten Weltkrieg tatsächlich angewandt hatte, nämlich indem es Lenin
nach Russland brachte. Das war Hitler auch bewusst. Er behauptete, die
Russische Revolution sei von den Juden und den Alliierten angefacht
worden, obwohl er wusste, dass das deutsche Oberkommando die Revolution
erst ermöglicht hatte.
Brendan Simms
hmü.
· Der Ire Brendan Simms, 55, ist einer der originellsten Vertreter
seines Fachs: Ob Brexit, Napoleon oder Hitler, immer wieder fällt der
Historiker, der als Professor in Cambridge lehrt, durch neue Zugänge
auf. Seine monumentale Hitler-Biografie erschien 2020 auf Deutsch
(Hitler. Eine globale Biografie. Deutsche Verlags-Anstalt. 1050 S., Fr.
61.90). Derzeit arbeitet Simms an einem Buch über die Schlacht um
Midway, bei der sich im Sommer 1942 das Kriegsglück im Pazifik wendete.
Hitlers Antikapitalismus steht für Sie am Ausgangspunkt seines Denkens: Auch seinen Judenhass sehen Sie als eine Folge davon.
Ja,
und das lässt sich auch gut belegen, denn er sagt dies mehrfach: Man
könne nicht Antisemit sein, ohne Antikapitalist zu sein – und umgekehrt.
Seine erste belegbare Äusserung gegen die Juden, im sogenannten Gemlich-Brief vom September 1919,
steht eindeutig im Kontext des Antikapitalismus: Hitler legt dort ganz
klar dar, sein Antisemitismus stehe im Zusammenhang mit der Macht des
Geldes. Obwohl er den Brief fast zwei Jahre nach der Russischen
Revolution geschrieben hat, erwähnt er diese mit keinem Wort. Daran
sieht man eindeutig, dass ihm der Antikapitalismus wichtiger war als der
Antibolschewismus.
Sie
sehen bei Hitler auch einen «taktischen Antisemitismus»: dass er
geglaubt habe, der Judenhass sei den Massen leichter zu vermitteln als
der Antikapitalismus und der Antibolschewismus.
Das
hat er selbst so gesagt, aber ich würde diesen Aspekt auch nicht
überbetonen: Dass Hitler ein überzeugter Antisemit war, steht ausser
Frage. Doch dass er gleichzeitig auch die taktischen Möglichkeiten sah,
die im Antisemitismus lagen, ist ebenso klar.
Wie
viele Historiker betrachten auch Sie den Ersten Weltkrieg als das
zentrale Erlebnis, das Hitlers Denken prägte. Dort stand er Amerikanern
und Briten im Feld gegenüber.
Seine
zentrale Erkenntnis, nämlich dass «Angloamerika» wirtschaftlich,
militärisch, vor allem aber auch demografisch am längeren Hebel sitzt,
hatte er aus dem Ersten Weltkrieg mitgebracht. Das Deutsche Reich war
seiner Meinung nach über die Jahrzehnte und Jahrhunderte durch
Immigration geschwächt worden. Die starken und gesunden Elemente
Deutschlands hätten als Dünger für das britische Weltreich und die USA
fungiert.
Er glaubte, die Besten verliessen das Land...
... und
sah, wie sie im Ersten Weltkrieg als feindliche Soldaten zurückkehrten.
Seine Meinung über das real existierende deutsche Volk war ambivalent:
Das deutsche Herrenmenschentum war für ihn ein Projekt, keine Tatsache.
Hitler hing einer Umvolkungstheorie an: Deutsche wanderten nach Amerika
aus und wurden durch Juden ersetzt.
Auch
Hitlers Bild von den USA beschreiben Sie als ambivalent. Könnte man
sagen, dass er Amerika als eine Art Apartheidsstaat betrachtete und
nicht als den Schmelztiegel, als den man es später gerne bezeichnete?
Hauptsächlich
sah er die USA als Ziel der gesunden Elemente aus Europa. Das schwarze
Amerika interessierte ihn dabei fast gar nicht, auch wenn er sich am
Rand über den Jazz ausliess. Eher ging es ihm um die osteuropäische und
jüdische Einwanderung. Dass die Amerikaner diese 1924 begrenzt hatten,
fand er richtig. Die Deutschen sollten seiner Meinung nach das Gleiche
tun.
Einerseits
betrachtete Hitler England und Amerika als stark, andererseits meinte
er, diese Länder würden von Juden beherrscht, die er für minderwertig
hielt. Roosevelt war für ihn ein Agent des Finanzjudentums. Versuchte
Hitler, diesen Widerspruch zu erklären, oder ging er einfach darüber
hinweg?
Er
erklärte es sich so, dass England und Amerika zwar über ein enormes
Potenzial verfügten und sich lange Zeit auch sehr gut entwickelt hätten,
dann aber unterwandert worden seien und sich nun nicht mehr gemäss
ihren eigenen Interessen verhielten. Darin sah er auch den Grund dafür,
dass sich die Beziehungen des Deutschen Reiches zu Grossbritannien und
den USA nach 1936 verschlechterten. Roosevelt drohte er mit Angriffen
auf die Juden, weil er glaubte, er könne ihn damit zum Einlenken
bringen.
Wenn
Hitler über England und Amerika sprach, redete er von Ländern, die er
gar nicht kannte. Woraus speiste sich sein Bild vom Westen?
Das
ist schwer zu sagen, denn er legte seine Quellen nur sehr selten offen.
Umso auffälliger ist, dass er explizit erwähnte, Madison Grant gelesen
zu haben, einen berühmt-berüchtigten amerikanischen Rassetheoretiker.
Dessen 1916 erschienenes Buch «The Passing of the Great Race» war Anfang
der 1920er Jahre ins Deutsche übersetzt worden. Interessant ist, dass
Grant die Deutschen zwar für höherwertig als die Osteuropäer hielt, die
Angelsachsen oder die Kelten der britischen Inseln aber für noch
höherwertiger. Damit eckte er in Deutschland in rechten Kreisen an, doch
Hitler sagte, Grant habe recht: Die Deutschen seien nicht nordisch
genug, daher brauche man eine neue Politik.
Hitlers
England-Bild erinnert an jenes des Kaiserreichs: Deutschland, die
verspätete Nation, die die Briten einholen wollte und im Grunde gern
gewesen wäre wie diese.
Diese
Komplexe gab es in der Tat auch im Kaiserreich, vor allem bei
Wilhelm II. Man wäre den Engländern gerne ebenbürtig gewesen. 1944
sprach Hitler in geheimen Reden vor Offiziersanwärtern von den
Engländern als der wahren Herrenrasse. Es war eine Art Hassliebe.
Gegenüber den Angelsachsen hatte er einen Minderwertigkeitskomplex, was
sich auch daran zeigte, dass er hin und wieder behauptete, er habe
keinen solchen Komplex. Das ist meist der sicherste Beweis dafür, dass
jemand einen Komplex hat.
Waren die Briten für Hitler auch ein Vorbild, wenn es darum ging, eroberte Landstriche zu kolonisieren?
Ja,
wobei für ihn allerdings eher die Besiedlung Amerikas ein Vorbild war
als die Eroberung Indiens: Hitler wollte ja ein Gebiet kolonisieren, das
direkt an das eigene Land angrenzte. Den Wilhelminismus kritisierte er
für seine Bestrebungen, sich ein Kolonialreich in Übersee zuzulegen.
Dadurch lege man sich nur überflüssigerweise mit den Engländern an und
laufe Gefahr, von der Royal Navy von seinen Besitzungen abgeschnitten zu
werden. Dabei liess Hitler ausser acht, dass eine deutsche Dominanz
über Festlandeuropa für die Briten niemals akzeptabel gewesen wäre.
Um noch einmal zu unserer Ausgangsfrage zurückzukommen: Wie sozialistisch war die Politik der Nazis tatsächlich?
Man
kann nicht sagen, dass ihre Politik nach 1933 wirklich sozialistisch
war, aber sie enthielt sozialistische Elemente, etwa die Einführung
neuer Steuern sowie einen Ausbau des Wohlfahrtsstaats und der
Arbeitnehmerrechte. Hitler machte einen Unterschied zwischen dem
internationalen Kapitalismus und dem, was er den nationalen Kapitalismus
nannte, wenn man so will zwischen Wall Street und Krupp. Den nationalen
Kapitalismus akzeptierte er. Sozialismus bedeutete für ihn, dass die
Unternehmer in erster Linie für die Nation arbeiten müssten und nicht
für ihren Profit.
Dass die Produktionsmittel in privater Hand bleiben würden, war aber immer klar?
Ja,
obwohl sie in gewisser Weise doch unter staatlicher Kontrolle standen.
Es war keine reine Privatwirtschaft mehr. Auch wenn es keine
Nivellierung der Einkommen gab, hatte der Staat doch immer das letzte
Wort. Auch was die Erteilung von Aufträgen anging, nahm er eine grössere
Rolle ein, und dies nicht erst im Krieg, sondern bereits Mitte der
1930er Jahre.
Mit Ihren Thesen erregten Sie 2019 einiges Aufsehen. Teilweise wurden schwere Vorwürfe gegen Sie erhoben. Im «Guardian» schrieb Ihr Historikerkollege Richard Evans, Sie seien ein Stichwortgeber der rechtsextremen «Alt-Right»-Bewegung. Wie sehen Sie die Debatte im Rückblick?
Die
Heftigkeit einiger Vorwürfe hat mich überrascht. Was Evans schrieb, war
indiskutabel, ja beinahe diffamierend. Aber im Grossen und Ganzen wurde
das Buch positiv aufgenommen, und ich habe den Eindruck, dass es von
mehr und mehr Menschen gelesen und verstanden wird.
Wurde Ihr Buch in Deutschland grundlegend anders rezipiert als in England und den USA?
Die
Resonanz war im angelsächsischen Raum etwas stärker, doch grosse
Unterschiede gab es dabei nicht. Starke Gegenstimmen gab es auch in
Deutschland, so stellte etwa Ulrich Herbert in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» meine Wissenschaftlichkeit infrage.
Aber ich will mich nicht beklagen: Man schreibt ein Buch, und es kommen
Vorwürfe, so ist das Leben. Vielleicht war es auch eine
Generationenfrage: Ich hatte jedenfalls den Eindruck, dass jüngere
Historiker mein Werk positiver aufnahmen.
Interessant fand ich eine Rezension von Alan Posener, die damals in der «Welt» erschien.
Schon sein deutscher Geschichtslehrer in den 1960er Jahren sei
überzeugt gewesen, dass Hitler vor allem von seinem Hass auf den Westen
motiviert gewesen sei, und in England habe man dies ohnehin lange Zeit
so gesehen. Demnach hätten Sie nur eine verschüttete These wieder
freigelegt.
Zum
Teil ist das so. Der Antagonismus zwischen Grossbritannien und dem
Deutschen Reich wurde in England natürlich sehr hoch veranschlagt. Erst
später nahm man davon Abstand und dachte, der Krieg sei vor allem an der
Ostfront gewonnen worden. Insofern bedeuteten meine Thesen eine
Rückkehr zum alten Modell. Mit Hitlers Antikapitalismus hatten sich auch
schon andere beschäftigt. Neu waren vor allem meine Thesen über die
Bedeutung, die Deutschlands angebliche rassische Schwäche und die
Demografie in Hitlers Denken einnahmen. Diese Thesen wurden bis jetzt
auch nicht widerlegt.
Warum wurde die Bedeutung des Westens für Hitlers Denken mit der Zeit als weniger bedeutend betrachtet?
Wahrscheinlich
wegen des Kriegsverlaufs. Man betrachtete die Ereignisse im Nachhinein
teleologisch, dachte an die Schlacht von Stalingrad und den Einmarsch
der Roten Armee in Berlin, obwohl der Hauptteil der deutschen
Kriegswirtschaft auch nach 1941 gegen den Westen gerichtet war. Hitler
glaubte, er würde die Sowjetunion rasch unterwerfen und dann käme die
eigentliche Konfrontation mit den USA und Grossbritannien. Wäre ihm dies
geglückt, würde man heute kaum noch über die Ostfront reden.
Nota. - Der Faschismus in Italien ist entstanden als ein Beitrag zur Kriegsmobilmachung, und stark geworden ist er, als dem Land trotz seines Sieges kaum Gewinne zugefallen waren. Mussolini war übrigens, bevor er Kriegshetzer geworden ist, Frontmann des linken Flügels der Sozialistischen Partei gewesen.
Wäre Hitler am Tag nach der deutscheen Niederlage mit dem Programm einer totalitären rassistischen Welteroberung angetreten, hätte man ihn ins Irrenhaus gesperrt. Er hat aber, als Europa vor der Wahl zwischen Weltrevolution und fortwährender Finanzherrschaft stand, den nationalen Sozialismus als unausweichlichen völkischen Ausweg aus dieser jüdischen Schein-alternative vorgetragen. Auch das zunächst ohne Resonanz, doch als die leichte Stabilisierung nach der Währunsgreform schon 1929 in der Weltwirtschaftskrise wieder unterging und die durch Sozialdemokratie und Stalinismus absichtsvoll gespaltende Arbeiterbewegung keine glaubhafte Perspektive bot, stand er da als die fix und fertige Überwindung aller Widersprüche.
Sozialistisch war dieses System so weit, wie man das verwandte Projekt von Rossevelts New Deal sozialistisch nennen mag - und natürlich die Programme der Sozialdemokatie selber. Es bedurfte zu seiner Ausführung allerdings eines Weltkriegs - übrigens genauso dringend wie Roosevelt. Und der letztere hat gesiegt, auch in der Alten Welt.
JE