Freitag, 25. Februar 2022

Nach mir die Sintflut.


Ich kann das Ende der europäischen Friedensordnung nicht unkommentiert lassen.

Vor gut fünf Jahren habe ich hier in diesem Blog  geschrieben:

"Das System ist mehr bonapartistisch als feudal. Persönliche Gefolgschaften ja, aber anders als in der späten Sowjetunion, auf deren Hinterlassenschaft es aufbaut, ist es ohne institutionelle Legitimität, alles hängt vom währenden Charisma des obersten Steuermannes ab. Dazu gehö-ren Erfolge in der Außenpolitik. Nach innen gehört dazu die Austrocknung der mafiösen Strukturen, die die letzen Jahrzehnte des Sowjetregimes gekennzeichnet haben.

Aber das ist ein Kampf gegen Windmühlenflügel. Ein Regime ohne eigene Legitimität hat gar keine andere Wahl, als sich immer wieder durch Korruption abzusichern. Die Idee, die einer haben könnte, man müsse Putin außenpolitisch entgegenkommen, damit er seine interne Sa-nierungsarbeit erledigen kann, wäre naiv: Die wird er nie erledigen."

Die bonapartistische Konstellation, die ihm Jelzin hinterlassen hatte, konnte er sich nicht aussuchen. Und zwei Jahrzehnte zunemender Isolation in seinem Hofstaat bleiben nicht ohne Folgen. Die Illusion der Autokratie mag ihm zu Kopf gestiegen sein.

Doch die innere Stagnation, in der einige sehr Reiche noch reicher werden und wohl auch noch Glücksritter eine Chance finden, die aber die ererbten Strukturen unangetastet lässt, kann er nicht überwinden, ohne die delikaten Kräftegleichgewichte aufs Spiel zu setzen. Eine abenteuerliche Außenpolitik, wo ihm kein ernsthafter Widerstand begegnete, erlaubte ihm eine neue Stabilisierung.

Nach der Annexion der Krim schrieb ich:

"Putin hat keine andere Wahl mehr als die bonapartistische Karte: abenteuerliche Außenpo-litik, um das Regime im Innern so lange zusammenzuhalten, wie es eben geht. Doch wenn es nicht mehr geht - was passiert dann? Auf keinen Fall wird man die Risiken mindern, wenn man ihn jetzt zu appeasen sucht. Das macht nur alles noch unberechenbarer

Hat Putin einen Plan? Es ist wohl schlimmer: Er hat anscheinend keinen Plan. Doch für einen Mann ohne Plan hat er zu viel Macht. Das ist die wunde Stelle, auf die Snyder zum Glück hin-weist, statt der Versuchung nachzugeben, ihn als einen finsteren, zu allem entschlossenen Er-ben Stalins und Iwans der Schrecklichen darzustellen.

Wenn Gerhard Schröder beteuert, Putin sei ein authentischer Demokrat, dann mag er viel-leicht sogar Recht haben, aber davon hat niemand was: Eine Demokratie ist aus Jelzins WildWest-Kapitalismus nicht hervorgegangen, sondern ein bonapartistisches Regime, dem nichts anderes übrigbleibt, als zwischen den tausendfältigen gesellschaftlichen Kräften - von den Oligarchen über die Mafia und die alte Nomenklatura bis zu den wie immer stimmlosen, aber auch ruhebedürftigen Massen - hin und her zu lavieren, mit den KGB-Kadern als seiner loyalen Dezemberbande und den paar mehr oder minder intellektuellen Oppositionellen als Popanz. Wirklich repräsentativ ist dort niemand, jeder läuft seinem unmittelbarsten Vorteil nach, Parteien in einem politischen Sinn sind noch immer nicht entstanden. 

Noch vor wenigen Monaten war Putins Autorität im Keller. Da bot sich ihm die Gelegenheit, die noch jeder Bonaparte ergriffen hat, um sein wankendes Regime im Innern neu zu festigen: ein auswärtiges Abenteuer, ein - nur nach außen, nicht nach innen larvierter - Krieg. Wobei der Griff nach der Krim einen guten strategischen Sinn hatte: die Seeherrschaft im Schwarzen Meer zu sichern. Dagegen sind die Scharmützel am Don völlig aus dem Ruder gelaufen. Zuerst war da der Versuch, die Ukraine als russische Satrapie auszubauen, aber der hat hervorgerufen, was es bis dahin gar nicht gab: ein ukrainisches Massennationalbewusstsein, an dem Putin nun nicht mehr vorbeikommt. 

Genauso wenig kommt er jetzt aber an dem großrussischen Chauvinismus vorbei, den er zu-hause entfacht hat. Was soll er bloß mit den verrosteten Stahlwerken im Donbass? Die sind keine einzige Patrone wert. Aber fahren lassen kann er sie auch nicht mehr, dann ziehn sie ihm daheim das Fell über die Ohren. Mein Gott, wenn er doch nur einen Plan gehabt hätte!"

Hatte er schon damals womöglich doch einen Plan?

Die Träume vom erneurten russischen Großreich sind keine historische Konstante, wie Leitartikler räsonnieren, sondern der stets prekären bonapartischen Situation geschuldet. Anders als der Aufstieg Chinas zur zweiten Weltmacht sind sie kein epochales Datum, mit dem dauerhaft zu rechnen ist. Das macht sie, wie wir sehen, nicht weniger gefährlich. Die bonapartistische Konstellation hat ihre eigene Logik: Sie ist wie eine Spirale und erlaubt immer nur vorwärts!  Jeder Schritt zurück, jedes Einlenken droht das Kartenhaus zum Einsturz zu bringen. Dass Putins Vorstoßen eine Flucht ist, darf niemanden beruhigen.


Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

Donnerstag, 24. Februar 2022

Wie Graeber und Wengrow die Kulturgeschichte umschreiben.


aus FAZ.NET, 23. 2. 2022                                                                 Minoisches Fresko im Palast von Knossos auf Kreta

Anfänge der Zivilisation:  
Seht her, der Staat muss gar nicht sein!
Unsere frühen ökonomischen, sozialen und politischen Organisationsformen waren vielfältiger als angenommen: David Graeber und David Wengrow nehmen es mit großen Theorien zur Geschichte der Menschheit auf. 

Von Karl-Heinz Kohl

Die Angst der Menschheit vor sich selbst hat nicht nur in der Bezeichnung des gegenwärtigen Erdzeitalters als Anthropozän, sondern auch im populären Genre der globalen Menschheits-geschichten ihren Niederschlag gefunden. Schon lange sind die Zeiten vorbei, in denen man wie Francis Fukuyama nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion noch ein Ende der Geschichte und ein zukünftiges Reich des Friedens und allgemeinen Wohlstands voraussagte. In dessen neueren Schriften über den Ursprung der politischen Ordnung wie auch in den zu internationalen Bestsellern gewordenen Abhandlungen des israelischen Historikers Yuval Noah Harari überwiegen bei Weitem die dystopischen Elemente. Und wenn auch der Grundtenor des Gemeinschaftswerks des Archäologen David Wengrow und des kurz nach Abschluss des Manuskripts verstorbenen Ethnologen David Graeber nicht ganz so pessimistisch ausfällt: Auch für sie steht fest, dass in der Weltgeschichte etwas „entsetzlich schiefgelaufen“ ist.

Anlass für ihr ambitioniertes Unternehmen, diese Geschichte neu zu schreiben, sind aufsehenerregende archäologischen Funde der letzten drei Jahrzehnte. Ihrer Auffassung nach widerlegen sie das klassische Entwicklungsschema, dem zufolge die egalitären Jäger- und Sammlerhorden der Urzeit durch verwandtschaftlich gegliederte Stammesfürstentümer abgelöst wurden, aus denen nach der Erfindung der Landwirtschaft die ersten Städte hervorgingen. Zu ihnen zählt auch die vor etwa neuntausend Jahren angelegte Siedlung Çatalhöyük in Anatolien. Die Häuser ihrer etwa zehntausend Einwohner hat man zwar gefunden, nach einem Königssitz und einem administrativen Zentrum dagegen vergeblich gesucht. Anders als die fest ummauerten Städte im Zweistromland brauchten die Bewohner Çatalhöyüks offenbar keinen Herrscher und Verwaltungsapparat, um ihre Angelegenheiten selbst zu regeln.

Ein einziges soziales Experimentierfeld

Noch ergiebiger für die Kritik der Autoren an den herkömmlichen Entwicklungstheorien ist, was bei Ausgrabungen im Amazonasgebiet zutage trat. Sie zeigten, dass es bereits zur Zeit von Christi Geburt mit einem Netzwerk von Städten, Monumenten und Straßen durchzogen war, dessen Ausläufer bis in das heutige Peru reichten. Die Ausbreitung dieser beeindruckenden Regenwaldzivilisation war offensichtlich durch die bereits einige Jahrtausende zuvor erfolgte Domestikation von tropischen Wildpflanzen begünstigt worden. Doch sei deren Anbau, so Graeber und Wengrow, nur in spielerischer Form betrieben worden. Später hätten die Menschen ihn wieder aufgegeben und wie früher vom Jagen und Sammeln gelebt. Einer der Gründe sei gewesen, dass man für diese Tätigkeit einen weit geringeren Aufwand an Arbeitszeit benötigt. Auch bot die nomadisierende Lebensform Möglichkeiten des Rückzugs in schwer zugängliche Gebiete, die denn auch verstärkt genutzt wurden, als die Kolonisierung Brasiliens durch die Europäer begann.

David Graeber und David Wengrow: „Anfänge“. Eine neue Geschichte der Menschheit.David Graeber und David Wengrow: „Anfänge“. Eine neue Geschichte der Menschheit. 

Diese und viele andere Beispiele beweisen für Graeber und Wengrow, dass die ökonomischen, sozialen und politischen Organisationsformen der frühen Menschheit vielfältiger waren als bisher angenommen. Das trifft nicht nur auf die frühen Städte zu, sondern auch auf das bis heute vorherrschende Bild vom Egalitarismus der steinzeitlichen Jäger- und Sammlerhorden. Gräberfunde zeigten nämlich, dass es auch schon in einigen dieser Gruppen tyrannische Anführer gab, bei deren Tod Dutzende von Menschen umgebracht und mit ihnen bestattet wurden.

Die Frühgeschichte der Menschheit erweist sich so als ein einziges soziales Experimentierfeld. Wieder und wieder habe man neue politische Ordnungen geschaffen, sie aufgegeben und sich an anderen Formen des Zusammenlebens versucht. Allerdings seien die Menschen damals noch so mobil gewesen, dass sie einfach weggezogen sind, wenn es ihnen zu viel wurde. Erst mit der Entstehung des modernen Staates habe sich das geändert. Erst er habe ihnen mit all seinen Zwangsinstitutionen die Möglichkeit genommen, ihre Verhältnisse so zu gestalten, wie sie selbst es wollten. Doch dürfe man die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich dies eines Tages wieder ändern könne.

Patriarchat vs. Matriarchat

Graeber und Wengrow verfügen über das Talent, auch komplizierte Sachverhalte auf den Punkt zu bringen, und imponierend ist die Respektlosigkeit, die sie den etablierten großen Theorien entgegenbringen. Mit anhaltender Spannung verfolgt man, wie diese revidiert werden. Hat sich die erste Begeisterung aber erst einmal gelegt, merkt man, dass die geschickte Rhetorik der beiden Autoren leicht dazu verführt, offensichtliche Widersprüche zu übersehen. Kann man zum Beispiel die anhand von steinzeitlichen Gräberfunden aufgestellte Behauptung, dass man damals körperlich oder auch psychisch von der Norm abweichenden Menschen religiöse Sonderstellungen zuwies, damit begründen, dass dies die südsudanesischen Nuer auch heute noch so täten? Hier findet offensichtlich ein Rückfall in jene evolutionistischen Denkschemata statt, gegen die das Buch sich richtet.

Überhaupt gewinnt man den Eindruck, dass die beiden Autoren unilineare Entwicklungstheorien zwar summarisch ablehnen, einige ihrer Argumentationsstränge aber dann doch übernehmen, wenn sie in ihr eigenes Konzept passen. Zu Recht distanzieren sie sich etwa von den im neunzehnten Jahrhundert aufgekommenen Überlegungen, dass dem Patriarchat in der Menschheitsgeschichte ein weltweites Matriarchat vorangegangen sei. Akzeptabel erscheint ihnen dennoch die umstrittene Theorie der litauischen Prähistorikerin Marija Gimbutas über die ursprünglich in Osteuropa verbreitete Kurgan-Kultur, deren Göttinnen-Kult zeige, welch überragende Rollen Frauen in der Frühzeit zukamen. Selbst die alten Hypothesen über deren politische Vorherrschaft im minoischen Kreta werden von ihnen wieder aufgenommen. Als ein Beleg für diese Annahme dient ihnen, dass sie auf minoischen Palastfresken bekleidet und weit größer dargestellt werden als die ihnen zugesellten, kleinen und meist vollständig nackten Männerfiguren.

Rousseau hätte eine sorgfältigere Lektüre verdient

Wie stichhaltig solche „Beweise“ sind, müssen Prähistoriker und Archäologen entscheiden. Ähnliche argumentative Schwachstellen treten noch deutlicher hervor, wenn sich die Überlegungen auf die Forschungsgebiete benachbarter Disziplinen beziehen. So dürften etwa Theologen und Mediävisten der Behauptung heftig widersprechen, dass im Mittelalter keinerlei Konzepte von sozialer Gleichheit und Ungleichheit existiert hätten. Ihre kühnste These aber findet sich gleich auf den ersten Seiten des Buchs. Sie besagt, dass die von den Philosophen der Aufklärung entwickelte Fortschrittsidee nichts anderes gewesen sei als eine Abwehrreaktion auf die Kritik, die von Vertretern indigener Völker an der europäischen Zivilisation geübt wurde.

Als Kronzeuge für diese Behauptung gilt den Autoren der Huronen-Häuptling Kondiaronk, der sich gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts in Kanada als geschickter Unterhändler zwischen den französischen Kolonisten und den einheimischen Bevölkerungsgruppen bewährt hatte und auch selbst einmal Europa besucht haben soll. Unter dem Namen Adario wurde er zur Titelfigur der „Gespräche mit einem Wilden“, die 1703 als Anhang der Reisebeschreibung des ehemaligen französischen Kolonialoffiziers und libertären Freigeists Louis-Ar­mand de Lahontan erschien, der sich nach seiner Flucht aus der Armee zunächst in Holland niedergelassen hatte. Punkt für Punkt werden in dem Dialog die Missstände der französischen Gesellschaft abgehandelt, am Maßstab der allen Menschen gemeinsamen Vernunft gemessen und mit dem so viel freieren und glücklicheren Leben der Huronen verglichen.

Eine Begegnung zwischen den beiden hat sicher stattgefunden. Und die Bedeutung des Textes für die Frühaufklärung steht außer Frage. Anders steht es dagegen um die Authentizität der Äußerungen Adarios. Denn unschwer lassen sich viele der Positionen, die er vertritt, bis zurück zu den antiken Naturrechtslehren verfolgen. Auch die höhnische Kritik, die er am Christentum vorbringt, orientiert sich eindeutig am zeitgenössischen Deismus. Dennoch nehmen die beiden Autoren alle Worte, die La Hontan seinem Gesprächspartner in den Mund gelegt hat, für bare Münze. Es wird gar nicht erst in Betracht gezogen, dass ihm der Hurone auch als Sprachrohr seiner eigenen Auffassungen gedient haben könnte. Unerwähnt bleibt ebenso, dass einige der radikalsten sozialkritischen Ausführungen der im frühen achtzehnten Jahrhundert unter Philosophen weitverbreiteten Schrift weder von Adario noch von La Hontan stammen. Eingefügt hat sie vielmehr später der ebenfalls ins holländische Exil geflüchtete Calvinist und Freidenker Nicolaus Gueudeville, der sicher nie einen kanadischen Ureinwohner zu Gesicht bekommen hat.

Auch Rousseau hätte eine sorgfältigere Lektüre verdient. Graebner und Wengrow werfen ihm vor, den Mythos vom „dummen Wilden“ in die Welt gesetzt zu haben, der im neunzehnten Jahrhundert rassistisch weiter gesponnen und zur Rechtfertigung des europäischen Kolonialismus herangezogen worden sei. Doch beziehen sich die entsprechenden Passagen bei Rousseau auf seine Gedankenkonstruktion des einsam und ungesellig umherstreifenden Naturmenschen, der in den Tag hinein lebt und weder an das Gestern noch an das Morgen denkt. Dagegen repräsentieren die damals als Wilde bezeichneten indigenen Völker Amerikas für ihn ein bereits fortgeschritteneres Stadium der Geschichte: einen Zustand der lockeren Vergesellschaftung, in dem die Freiheit des Einzelnen noch nicht eingeschränkt ist. Für ihn stellt er das Goldene Zeitalter der Menschheit dar, das sie nie hätte verlassen dürfen. Dies bewiese auch, wie viele Franzosen in Amerika zu den Wilden übergelaufen seien, während es den Europäern nie gelungen sei, auch nur einen Einzigen von jenen zu ihrer Lebensweise zu bekehren. Seinen La Hontan hatte Rousseau offensichtlich auch gelesen.

Wahrscheinlich ist es die Nähe zu ihren eigenen Konzeptionen, die die Autoren der „Anfänge“ dazu bewogen hat, sich in aller Schärfe von Rousseau zu distanzieren. Denn ähnlich romantisch geprägt sind auch die Bilder, die sie selbst von einigen frühen Etappen der Menschheitsgeschichte zeichnen. Und allzu groß ist der Unterschied ja nun auch nicht, wenn man den Beginn der Verfallsprozesse nicht wie Rousseau mit der Erfindung des Eigentums, sondern mit der Entstehung des modernen Staats beginnen lässt.

David Graeber und David Wengrow: „Anfänge“. Eine neue Geschichte der Menschheit. Aus dem Englischen von H. Dedekind, H. Dierlamm und A. Thomsen. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2022. 667 S., Abb., geb., 28.– €.

 

 Kronzeuge der Autoren. Huronenhäuptling Kondiaronk im dipolonatischen Gespräch mit den Irokesen (1688).

 aus Tagesspiegel.de, 15. 2. 2022                 Kronzeuge der Autoren. Huronenhäuptling Kondiaronk im dipolonatischen Gespräch mit den Irokesen (1688)
 
Anarchistische Anthropologie 
Häuptlinge durch Gelächter vertreiben 
David Graeber und David Wengrow entdecken indigenes Denken als Wurzel der Aufklärung

von 

Am 6. August 2020 war es geschafft, nach zehn Jahren Arbeit. David Graeber kommentierte: „Mein Geist ist wie geprellt von dumpfer Überraschung.“ Einen Monat später, am 2. September starb der Anthropologie-Professor, Anarchist und Miterfinder der Occupy-Wallstreet-Bewegung während einer Urlaubsreise in Venedig.

Zehn Jahre. Soviel braucht wohl, wer „eine neue Geschichte der Menschheit“ schreiben will. Der Co-Autor und Archäologe David Wengrow musste „The Dawn of Everything“, so der Originaltitel, nun allein herausgegeben.

Die Autoren wenden sich gegen die gängige Vorstellung, die menschliche Entwicklung könne nach gut definierbaren Entwicklungsschritten verstanden werden: Auf einfache, egalitäre Jäger- und Sammlergruppen folgen komplexere, Ackerbau betreibende Gesellschaften, womit zwangsläufig die Zunahme von Ungleichheit, Zentralismus und Herrschaft verbunden sei. Für einen Anarchisten wie Graeber kein willkommener Gedanke.

Überschätzte Philosophen der Aufklärung

Wengrow und Graeber zufolge sei dieses Stufenmodell entstanden „in einer konservativen Gegenreaktion gegen die Kritik an der europäischen Zivilisation, die in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts an Boden gewann.“

Wir befinden uns demnach mitten im Zeitalter der Aufklärung. Und jetzt kommt die Pointe: Die Ursprünge der aufklärerischen Kritik selbst lägen jedoch „nicht bei den Philosophen der Aufklärung, sondern bei den indigenen Kommentatoren und Beobachtern der europäischen Gesellschaft.“

Fürwahr eine steile These. Vielleicht lag eine Übertreibung zur Kenntlichkeit in der Absicht der Autoren, unhaltbar ist sie wohl trotzdem. Das Verdienst dieses Buches liegt woanders, nämlich in der Sichtung und Zusammenschau jüngster archäologischer Befunde. Graeber und Wengrow lassen uns gleichsam die Vorgeschichte in Farbe sehen.

Die Monumente von Göbekli Tepe waren lange ein Rätsel: Solche Bauten wie die in Südostanatolien traute man Jägern und Sammlern nicht zu. Sie erforderten planmäßig zusammenwirkende Menschen und vor allem solche, die gerade nicht jagten. Graeber und Wengrow verweisen auf das Muster „großer saisonaler Versammlungen“, zu denen die sonst in kleinen Verbänden Lebenden zusammenströmten, in „festlicher Arbeit“ gemeinsam Riesenwerke schufen, während die großen Gazellenherden schussgerecht vorbeiströmten.

Hierarchien aufbauen und einreißen

Einen Staat bilden für eine Saison! Diese Existenzform hat die volle Sympathie der Autoren, und sie entdecken sie rund um den Globus. Die Völker der Great Plains in Nordamerika schufen zur Büffeljagd sogar eine stammesübergreifende Polizei, die kurz darauf nichts mehr zu sagen hatte. Hierarchien aufbauen und wieder einreißen!

Die ersten Könige könnten, vermuten Graeber und Wengrow, Könige für eine Saison gewesen sein: „Das wirkliche Rätsel ist nicht, wann erstmals Häuptlinge oder Chefs oder sogar Könige und Königinnen auf der Bildfläche erschienen, sondern ab wann es nicht mehr möglich war, sie einfach durch Gelächter zu vertreiben.“ So absurd ist die Frage nicht.

Fest steht, dass es nie leicht war, Häuptling zu sein. Der Häuptling war eine große Umverteilungsinstanz, er musste die Bedürftigen versorgen und wenn er Missfallen erregte, wurde er einfach verlassen. So fing das an. Und was haben die Völker der Great Plains nach 1600 und die Erbauer von Stonehenge gemeinsam? Sie waren alle schon einmal Bauern gewesen, um schließlich – ohne jeden Sinn für gesellschaftlichen Fortschritt – doch wieder zum Sammeln zurückzukehren. Allerdings behielten die Erbauer von Stonehenge ihre Hausschweine und die Cheyenne die Pferde der Spanier.

Lob der Schismogenese

Wunderbar auch das Porträt des kriegerischen, Sklaven haltenden amerikanischen Nordwestküsten-Fischer-Adels und seiner südlichen Nachbarn in Kalifornien. Beide Völker pflegten geradezu entgegengesetzte Lebensweisen, höchstwahrscheinlich sogar, weil sie voneinander wussten. Graeber und Wengrow nennen das Schismogenese.

Über 600 Seiten frühe Unordnung. Aber spätestens mit der Erfindung der Stadt ist Ordnung da, meinte man immer, also Hierarchie, Herrschaft, Priesterkaste, das ganze Patriarchat. An dieser Stelle präsentieren Graeber und Wengrow ihre erstaunlichsten Befunde wie Nebelivka oder Taljanky in der heutigen Ukraine, mit über 1000 kreisförmig angeordneten Häusern, bewohnt zwischen 4100 bis 3300 v.u.Z. und ganz ohne Anzeichen zentralistischer Herrschaft.

Selbst die Heimstatt der Schrift Uruk in Mesopotamien soll anfangs eher durch städtischen Selbstverwaltungen als durch absolute Herrscher regiert worden sein. Es ist ein wunderbarer Ansatz, diese Befunde in direkten Bezug zum Herzstück des europäischen Selbstverständnisses zu setzen, zur Aufklärung.

Kondiaronk vom Volk der Huronen wird zum Kronzeugen der Autoren, er war es bereits für die Aufklärer: Unter dem Namen Adario trat er in dem 1704 veröffentlichten Bestseller „Dialogues avec le sauvage Adario“ des Barons de Lahontan auf. Graeber und Wengrow machen von Anfang an klar, in welcher Rolle sie ihn sehen: als „amerikanischen Intellektuellen“. Als Intellektuellen definieren sie „alle, die sich gewohnheitsmäßig über abstrakte Gedanken streiten“.

Kondiaronk war vor dem Hintergrund des eigenen Götter- als Ahnenhimmels sehr empfänglich für die Absurditäten des Glaubens an den christlichen Eingott. Und mit dem Blick des Fremden erkannte er, was wohl alle amerikanischen Ureinwohner wahrnahmen, die europäische Gesellschaften je mit eigenen Augen sahen: Im Vergleich zu uns lebt ihr wie Sklaven!

Hauptschuldiger Geld

Wie kann man zuschauen, wenn ein Mensch auf offener Straße verhungert? Nur Europäer können das. Und Kondiaronk identifizierte auch den Hauptschuldigen dieser Gabe: das Geld, das alle menschlichen Verhältnisse bestimmt.

Schade, dass niemand dem Huronen-Diplomaten Kondiaronk Thomas Hobbes’ „Leviathan“ vorgelesen hat. Hobbes hat das Urbild der Geschichtserzählung geschaffen, das bis heute gilt: Der Mensch ist ein egoistisches Wesen, das nur durch starke Institutionen zu zähmen ist. Und Adam Smith machte genau dort weiter und erfand den homo oeconomicus. Kondarionk und wahrscheinlich alle frühen Völker der Erde hätten Hobbes ausgelacht, und Smith gleich mit. Und dem Anarchisten Graeber dabei aus der Seele gelacht. Völlig zurecht.

Aber was ist mit dem Anti-Hobbesianer Rousseau und seiner Anarchisten-Seele? Sollte er nicht alle Sympathien der Autoren auf sich ziehen? Das Gegenteil ist der Fall. Rousseaus „eigene Erfahrungen mit sozialer Gleichheit reichten vermutlich kaum weiter als die Ausgabe gleich großer Stücke Kuchen auf einem Abendempfang“, behaupten die Autoren. Leider ist ein solcher Satz offenkundigen Unfugs kein Einzelfall.

Rousseau hat bereits seine erste Abhandlung als „Citoyen de Geneve“ unterschrieben, nicht als Hurone (was folgerichtig gewesen wäre, hätte die „indigene Kritik“ die Aufklärung auf den Plan gerufen). Wirklich ärgerlich ist, dass Graeber und Wengrow Rousseau beschuldigen, den „Mythos vom dummen Wilden“ in die Welt gesetzt zu haben, samt aller rassistischen Stereotype der Zukunft. Haben sie diesen Autor denn nie gelesen?

Der Citoyen – das Wort bekam erst durch Rousseau seinen heutigen Klang – das war der Horizont der Aufklärung. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Für alle Huronen und ihre Freunde!, hätte Kondiaronk hinzufügen müssen: Und Tod unseren Feinden! Diese Ambivalenz der conditio humana und aller frühen Gesellschaften – Solidarität nach innen, erbitterte Feindschaft nach außen – lösen Graeber und Wengrow nicht auf.

Lieber 1000 Marterpfähle als ein manifester Staat, mögen sie sich gesagt haben. Dem muss man nicht folgen. Und überall scheint am Ende doch das so befehdete „Stufenmodell“ durch. Aber „Anfänge“ schärft unseren Sinn für die ungeheure Vielfalt beginnender Vergesellschaftung, und das ist großartig.

 

Nota. - Mit der politischen und Kulturgeschichte der Menschheit ist es nicht viel anders ge-gangen als mit Darwins Naturgeschichte: Es hat immer wieder verschiedenste Versuche ge-geben, oft aber auch immer wieder dieselben. Bewährt haben sich immer die, die den zu ihrer Zeit vorherrschenden Zwecken am besten gerecht wurden; egal, wie alt und ehrwürdig oder neu und unerhört sie waren. Alles in allem haben sie zu unserer heutigen Welt geführt - zweihundert Jahre lang (oder länger oder kürzer) wurde sie vom Weltmarkt und dem ihn be-herrschenden Wertgesetz geformt und genormt. Daraus ist die globalisierte Welt unserer Tage hervorgegangen, in der das Wertgesetz durch die fortschreitende Digitalisierung progressiv entleert wird. 

Wer je geglaubt hat, dem hätten überzeitliche und übernatürliche Geschichtsgesetze zugrunde gelegen, muss sich inzwischen erstaunt die Augen reiben. Ob die Soldschreiber der Partei- und Staatsapparate östlich der Elbe bis ans Gelbe Meer das wirklich geglaubt haben, spielt keine Rolle. Gedruckt wurde dort jedenfalls nichts anderes. Dortige Historiker haben darum noch heute mildernde Umstände, wenn sies glauben. Alle andern nicht, aber das waren nicht so viele, wie Graeber und Wengrow es marktschreierisch darstellen.
JE

Freitag, 18. Februar 2022

War der Nationalsozialismus aber nicht auch ein Sozialismus?

Auch wenn die Produktionsmittel in privater Hand blieben, nahm der Staat im Dritten Reich eine immer grössere Rolle im Wirtschaftsleben ein. Hier Arbeiter auf der neu errichteten Reichsautobahn Stuttgart–Ulm (um 1936). 

aus nzz.ch, 15. 2. 2022                                            Auch wenn die Produktionsmittel in privater Hand blieben, nahm der Staat im Dritten Reich eine immer grössere Rolle im Wirtschaftsleben ein. Hier Arbeiter auf der neu errichteten Reichsautobahn Stuttgart–Ulm (um 1936).

Historiker Brendan Simms: 
«Hitler glaubte, man könne nicht Antisemit sein, ohne Antikapitalist zu sein – und umgekehrt»
Wer behauptet, die Nazis seien Sozialisten gewesen, kann im deutschen Sprachraum seinen Job verlieren. Dabei habe sich Adolf Hitler selbst in erster Linie für einen Antikapitalisten gehalten, sagt der Historiker Brendan Simms.
 
von Hansjörg Friedrich Müller
 
Herr Simms, im deutschen Sprachraum löste jüngst der Fall einer Journalistin eine gewisse Aufregung aus. Auf Twitter hatte sie geschrieben, die Nazis seien nicht nur Mörder, sondern auch «durch und durch Sozialisten» gewesen. Von ihrem Arbeitgeber, einem österreichischen Onlineportal, wurde sie daraufhin entlassen. Ist die Empörung über ihre Aussage berechtigt?

Die Aussage ist sicherlich allzu simpel. Natürlich waren die Nazis keine Sozialisten in dem Sinn, in dem etwa Willy Brandt ein Sozialist war. Aber sie haben sich selbst als solche verstanden: Sie glaubten, der wahre Nationalismus bedeute immer Sozialismus – und andersherum. Dass sie tatsächlich Sozialisten waren, kann man bezweifeln, aber für mich als Historiker, der sich mit Hitlers Gedankenwelt beschäftigt, ist das Entscheidende, wie sich die Nazis selbst sahen.

In Ihrer Hitler-Biografie von 2019 vertreten Sie die These, Hitlers Hass auf den Bolschewismus habe im Vergleich mit seiner Angst vor Amerika und Grossbritannien sowie seiner Ablehnung des Kapitalismus eine untergeordnete Rolle gespielt.

Wobei es wichtig ist, zu betonen, dass sich sein Hass vor allem gegen den internationalen Kapitalismus, so wie er ihn verstand, richtete. Hitlers Hauptaugenmerk lag auf dem, was er selbst «Plutokratie» nannte. Diese assoziierte er mit dem sogenannten Weltjudentum, aber auch mit den angelsächsischen Mächten, die er im Vergleich mit der Sowjetunion für deutlich stärker und gefährlicher hielt. Natürlich hatte er auch Angst vor dem Bolschewismus, doch spielte diese eine untergeordnete Rolle. Den Bolschewismus sah er als eines der Instrumente des internationalen Kapitals, um Deutschland und andere Länder willenlos zu machen.

Also eine klassische Verschwörungstheorie: Die Kapitalisten benutzten den Bolschewismus, um Deutschland zu unterwerfen.

Den Sozialisten sagte Hitler sinngemäss: Ihr dachtet, jetzt unterminieren wir das Kaiserreich und dann haben wir die internationale Völkerverbrüderung. Stattdessen habt ihr Deutschland nur geschwächt, so dass es nun ein reines Objekt der internationalen kapitalistischen Mächte ist. Interessant daran ist, dass das Deutsche Reich diese Taktik im Ersten Weltkrieg tatsächlich angewandt hatte, nämlich indem es Lenin nach Russland brachte. Das war Hitler auch bewusst. Er behauptete, die Russische Revolution sei von den Juden und den Alliierten angefacht worden, obwohl er wusste, dass das deutsche Oberkommando die Revolution erst ermöglicht hatte.

Brendan Simms

hmü. · Der Ire Brendan Simms, 55, ist einer der originellsten Vertreter seines Fachs: Ob Brexit, Napoleon oder Hitler, immer wieder fällt der Historiker, der als Professor in Cambridge lehrt, durch neue Zugänge auf. Seine monumentale Hitler-Biografie erschien 2020 auf Deutsch (Hitler. Eine globale Biografie. Deutsche Verlags-Anstalt. 1050 S., Fr. 61.90). Derzeit arbeitet Simms an einem Buch über die Schlacht um Midway, bei der sich im Sommer 1942 das Kriegsglück im Pazifik wendete.

 

Hitlers Antikapitalismus steht für Sie am Ausgangspunkt seines Denkens: Auch seinen Judenhass sehen Sie als eine Folge davon.

Ja, und das lässt sich auch gut belegen, denn er sagt dies mehrfach: Man könne nicht Antisemit sein, ohne Antikapitalist zu sein – und umgekehrt. Seine erste belegbare Äusserung gegen die Juden, im sogenannten Gemlich-Brief vom September 1919, steht eindeutig im Kontext des Antikapitalismus: Hitler legt dort ganz klar dar, sein Antisemitismus stehe im Zusammenhang mit der Macht des Geldes. Obwohl er den Brief fast zwei Jahre nach der Russischen Revolution geschrieben hat, erwähnt er diese mit keinem Wort. Daran sieht man eindeutig, dass ihm der Antikapitalismus wichtiger war als der Antibolschewismus.

Sie sehen bei Hitler auch einen «taktischen Antisemitismus»: dass er geglaubt habe, der Judenhass sei den Massen leichter zu vermitteln als der Antikapitalismus und der Antibolschewismus.

Das hat er selbst so gesagt, aber ich würde diesen Aspekt auch nicht überbetonen: Dass Hitler ein überzeugter Antisemit war, steht ausser Frage. Doch dass er gleichzeitig auch die taktischen Möglichkeiten sah, die im Antisemitismus lagen, ist ebenso klar.

Wie viele Historiker betrachten auch Sie den Ersten Weltkrieg als das zentrale Erlebnis, das Hitlers Denken prägte. Dort stand er Amerikanern und Briten im Feld gegenüber.

Seine zentrale Erkenntnis, nämlich dass «Angloamerika» wirtschaftlich, militärisch, vor allem aber auch demografisch am längeren Hebel sitzt, hatte er aus dem Ersten Weltkrieg mitgebracht. Das Deutsche Reich war seiner Meinung nach über die Jahrzehnte und Jahrhunderte durch Immigration geschwächt worden. Die starken und gesunden Elemente Deutschlands hätten als Dünger für das britische Weltreich und die USA fungiert.

Er glaubte, die Besten verliessen das Land...

... und sah, wie sie im Ersten Weltkrieg als feindliche Soldaten zurückkehrten. Seine Meinung über das real existierende deutsche Volk war ambivalent: Das deutsche Herrenmenschentum war für ihn ein Projekt, keine Tatsache. Hitler hing einer Umvolkungstheorie an: Deutsche wanderten nach Amerika aus und wurden durch Juden ersetzt.

Auch Hitlers Bild von den USA beschreiben Sie als ambivalent. Könnte man sagen, dass er Amerika als eine Art Apartheidsstaat betrachtete und nicht als den Schmelztiegel, als den man es später gerne bezeichnete?

Hauptsächlich sah er die USA als Ziel der gesunden Elemente aus Europa. Das schwarze Amerika interessierte ihn dabei fast gar nicht, auch wenn er sich am Rand über den Jazz ausliess. Eher ging es ihm um die osteuropäische und jüdische Einwanderung. Dass die Amerikaner diese 1924 begrenzt hatten, fand er richtig. Die Deutschen sollten seiner Meinung nach das Gleiche tun.

Einerseits betrachtete Hitler England und Amerika als stark, andererseits meinte er, diese Länder würden von Juden beherrscht, die er für minderwertig hielt. Roosevelt war für ihn ein Agent des Finanzjudentums. Versuchte Hitler, diesen Widerspruch zu erklären, oder ging er einfach darüber hinweg?

Er erklärte es sich so, dass England und Amerika zwar über ein enormes Potenzial verfügten und sich lange Zeit auch sehr gut entwickelt hätten, dann aber unterwandert worden seien und sich nun nicht mehr gemäss ihren eigenen Interessen verhielten. Darin sah er auch den Grund dafür, dass sich die Beziehungen des Deutschen Reiches zu Grossbritannien und den USA nach 1936 verschlechterten. Roosevelt drohte er mit Angriffen auf die Juden, weil er glaubte, er könne ihn damit zum Einlenken bringen.

Wenn Hitler über England und Amerika sprach, redete er von Ländern, die er gar nicht kannte. Woraus speiste sich sein Bild vom Westen?

Das ist schwer zu sagen, denn er legte seine Quellen nur sehr selten offen. Umso auffälliger ist, dass er explizit erwähnte, Madison Grant gelesen zu haben, einen berühmt-berüchtigten amerikanischen Rassetheoretiker. Dessen 1916 erschienenes Buch «The Passing of the Great Race» war Anfang der 1920er Jahre ins Deutsche übersetzt worden. Interessant ist, dass Grant die Deutschen zwar für höherwertig als die Osteuropäer hielt, die Angelsachsen oder die Kelten der britischen Inseln aber für noch höherwertiger. Damit eckte er in Deutschland in rechten Kreisen an, doch Hitler sagte, Grant habe recht: Die Deutschen seien nicht nordisch genug, daher brauche man eine neue Politik.

Hitlers England-Bild erinnert an jenes des Kaiserreichs: Deutschland, die verspätete Nation, die die Briten einholen wollte und im Grunde gern gewesen wäre wie diese.

Diese Komplexe gab es in der Tat auch im Kaiserreich, vor allem bei Wilhelm II. Man wäre den Engländern gerne ebenbürtig gewesen. 1944 sprach Hitler in geheimen Reden vor Offiziersanwärtern von den Engländern als der wahren Herrenrasse. Es war eine Art Hassliebe. Gegenüber den Angelsachsen hatte er einen Minderwertigkeitskomplex, was sich auch daran zeigte, dass er hin und wieder behauptete, er habe keinen solchen Komplex. Das ist meist der sicherste Beweis dafür, dass jemand einen Komplex hat.

Waren die Briten für Hitler auch ein Vorbild, wenn es darum ging, eroberte Landstriche zu kolonisieren?

Ja, wobei für ihn allerdings eher die Besiedlung Amerikas ein Vorbild war als die Eroberung Indiens: Hitler wollte ja ein Gebiet kolonisieren, das direkt an das eigene Land angrenzte. Den Wilhelminismus kritisierte er für seine Bestrebungen, sich ein Kolonialreich in Übersee zuzulegen. Dadurch lege man sich nur überflüssigerweise mit den Engländern an und laufe Gefahr, von der Royal Navy von seinen Besitzungen abgeschnitten zu werden. Dabei liess Hitler ausser acht, dass eine deutsche Dominanz über Festlandeuropa für die Briten niemals akzeptabel gewesen wäre.

Um noch einmal zu unserer Ausgangsfrage zurückzukommen: Wie sozialistisch war die Politik der Nazis tatsächlich?

Man kann nicht sagen, dass ihre Politik nach 1933 wirklich sozialistisch war, aber sie enthielt sozialistische Elemente, etwa die Einführung neuer Steuern sowie einen Ausbau des Wohlfahrtsstaats und der Arbeitnehmerrechte. Hitler machte einen Unterschied zwischen dem internationalen Kapitalismus und dem, was er den nationalen Kapitalismus nannte, wenn man so will zwischen Wall Street und Krupp. Den nationalen Kapitalismus akzeptierte er. Sozialismus bedeutete für ihn, dass die Unternehmer in erster Linie für die Nation arbeiten müssten und nicht für ihren Profit.

Dass die Produktionsmittel in privater Hand bleiben würden, war aber immer klar?

Ja, obwohl sie in gewisser Weise doch unter staatlicher Kontrolle standen. Es war keine reine Privatwirtschaft mehr. Auch wenn es keine Nivellierung der Einkommen gab, hatte der Staat doch immer das letzte Wort. Auch was die Erteilung von Aufträgen anging, nahm er eine grössere Rolle ein, und dies nicht erst im Krieg, sondern bereits Mitte der 1930er Jahre.

Mit Ihren Thesen erregten Sie 2019 einiges Aufsehen. Teilweise wurden schwere Vorwürfe gegen Sie erhoben. Im «Guardian» schrieb Ihr Historikerkollege Richard Evans, Sie seien ein Stichwortgeber der rechtsextremen «Alt-Right»-Bewegung. Wie sehen Sie die Debatte im Rückblick?

Die Heftigkeit einiger Vorwürfe hat mich überrascht. Was Evans schrieb, war indiskutabel, ja beinahe diffamierend. Aber im Grossen und Ganzen wurde das Buch positiv aufgenommen, und ich habe den Eindruck, dass es von mehr und mehr Menschen gelesen und verstanden wird.

Wurde Ihr Buch in Deutschland grundlegend anders rezipiert als in England und den USA?

Die Resonanz war im angelsächsischen Raum etwas stärker, doch grosse Unterschiede gab es dabei nicht. Starke Gegenstimmen gab es auch in Deutschland, so stellte etwa Ulrich Herbert in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» meine Wissenschaftlichkeit infrage. Aber ich will mich nicht beklagen: Man schreibt ein Buch, und es kommen Vorwürfe, so ist das Leben. Vielleicht war es auch eine Generationenfrage: Ich hatte jedenfalls den Eindruck, dass jüngere Historiker mein Werk positiver aufnahmen.

Interessant fand ich eine Rezension von Alan Posener, die damals in der «Welt» erschien. Schon sein deutscher Geschichtslehrer in den 1960er Jahren sei überzeugt gewesen, dass Hitler vor allem von seinem Hass auf den Westen motiviert gewesen sei, und in England habe man dies ohnehin lange Zeit so gesehen. Demnach hätten Sie nur eine verschüttete These wieder freigelegt.

Zum Teil ist das so. Der Antagonismus zwischen Grossbritannien und dem Deutschen Reich wurde in England natürlich sehr hoch veranschlagt. Erst später nahm man davon Abstand und dachte, der Krieg sei vor allem an der Ostfront gewonnen worden. Insofern bedeuteten meine Thesen eine Rückkehr zum alten Modell. Mit Hitlers Antikapitalismus hatten sich auch schon andere beschäftigt. Neu waren vor allem meine Thesen über die Bedeutung, die Deutschlands angebliche rassische Schwäche und die Demografie in Hitlers Denken einnahmen. Diese Thesen wurden bis jetzt auch nicht widerlegt.

Warum wurde die Bedeutung des Westens für Hitlers Denken mit der Zeit als weniger bedeutend betrachtet?

Wahrscheinlich wegen des Kriegsverlaufs. Man betrachtete die Ereignisse im Nachhinein teleologisch, dachte an die Schlacht von Stalingrad und den Einmarsch der Roten Armee in Berlin, obwohl der Hauptteil der deutschen Kriegswirtschaft auch nach 1941 gegen den Westen gerichtet war. Hitler glaubte, er würde die Sowjetunion rasch unterwerfen und dann käme die eigentliche Konfrontation mit den USA und Grossbritannien. Wäre ihm dies geglückt, würde man heute kaum noch über die Ostfront reden.

 

Nota. - Der Faschismus in Italien ist entstanden als ein Beitrag zur Kriegsmobilmachung, und stark geworden ist er, als dem Land trotz seines Sieges kaum Gewinne zugefallen waren. Mussolini war übrigens, bevor er Kriegshetzer geworden ist, Frontmann des linken Flügels der Sozialistischen Partei gewesen.

Wäre Hitler am Tag nach der deutscheen Niederlage mit dem Programm einer totalitären rassistischen Welteroberung angetreten, hätte man ihn ins Irrenhaus gesperrt. Er hat aber, als Europa vor der Wahl zwischen Weltrevolution und fortwährender Finanzherrschaft stand, den nationalen Sozialismus als unausweichlichen völkischen Ausweg aus dieser jüdischen Schein-alternative vorgetragen. Auch das zunächst ohne Resonanz, doch als die leichte Stabilisierung nach der Währunsgreform schon 1929 in der Weltwirtschaftskrise wieder unterging und die durch Sozialdemokratie und Stalinismus absichtsvoll gespaltende Arbeiterbewegung keine glaubhafte Perspektive bot, stand er da als die fix und fertige Überwindung aller Widersprüche.

Sozialistisch war dieses System so weit, wie man das verwandte Projekt von Rossevelts New Deal sozialistisch nennen mag - und natürlich die Programme der Sozialdemokatie selber. Es bedurfte zu seiner Ausführung allerdings eines Weltkriegs - übrigens genauso dringend wie Roosevelt. Und der letztere hat gesiegt, auch in der Alten Welt.
JE

Donnerstag, 17. Februar 2022

Demokratie weshalb?

Ostrazismus* 

Was ist  der Vorzug der Demokratie vor anderen Regierungsformen?

Wer irgend mit gesundem Menschenverstand (sensus communis) begabt ist, wird auf die Frage Wer soll regieren? unfehlbar die Antwort geben: der am besten dazu geeignet ist.* Das eigentliche Problem war und bleibt immer: Wer entscheidet darüber, wer die Besten sind - wenn nicht die Besten selber? 

Es ist die Quadratur des Zirkels, landläufig: Die Katze beißt sich in den Schwanz. Denn dass die relativ größere Weisheit stets bei dem relativ größeren Haufen wäre, wird kein verständiger Mann behaupten wollen. Eher darf man annehmen, dass die höhere Weisheit in den meisten Fällen bei einer Minderheit liegt. Das Kreuz ist nur: Man weiß nie im voraus, bei welcher.

Unter diesen Gesichtspunkten ist die Herrschaft der Volksmehrheit, wie seit Plato bekannt ist, sogar eine ganz besonders unkluge Regierungsform. Sie ist nur dadurch zu rechtfertigen, dass einerseits kein gesellschaftliches Korps a priori zu bevorrechten ist, und dass sie anderersits erlaubt, die Mehrheiten auszuwechseln  so dass Minderheiten ihrerseits an die Macht kommen können. Und dieses dann und darum, wenn und weil sich die bislang machthaben-de Partei als weniger geeignet erwiesen hat, als eine Mehrheit zuvor glaubte: Man kann es mit einer anderen noch einmal versuchen. Die Voraussetzung ist: die Repräsentation der Meinungen durch Parteien, und die Periodizität der Mandate. Und das alles ganz prosaisch und pragmatisch, ohne Glanz und Pathos, weil es sich von allen Regie-rungsformen als die dem Gemeinwohl am wenigsten schädliche bewährt hat. Demokratie ist kein Ideal, sondern das erwiesenermaßen kleinste Übel. 

*
 
Das demokratische Gleichheitsgebot beruht nur redensartlich auf den von Gott oder der Natur verliehenen ewig unveräußerlichen Rechten einer jeden Person. Pragmatisch beruht es darauf, dass nach vernünftigen Maßstäben keiner von vornherein einem andern vorgezogen oder ihm hintangesetzt werden kann - und was für die zu Wählen-den gilt, tut es für die Wähler nicht minder.

Und dass ein jeder nach unverkürzter Selbstverwirklichung strebt, ist kein unmittelbarer, sondern erst ein abgeleite-ter Grund politischer Gleichheit. Unmittelbar ist es ein Privatanliegen ohne öffentliche Geltung. Erst wenn man aus anderen, eben: pragmatischen Gründen die demokratische Staatsform als die verhältnismäßig zweckmäßigste schon gewählt hat, kommt sekundär der Gesichtspunkt in Betracht, dass diese Verfahrensweise besser funktioniert, wenn die öffentlichen Angelegenheit von den Staatsbürgern nicht als lästige Pflicht, sondern als ihr ureigenster Beruf angesehen werden. Doch das ist keine Lösung, sondern das Problem selbst. Aber ein politisches Problem und keines der ausgefeilten Verfahrensweise. 

* 

Dieses sind die tatsächlichen, sachlichen Gründe dafür, eine demokratische Staatsverfassung zu wählen. Es sind zugleich die Gründe für die Ausbildung politischer Parteien. Eine Partei ist eine Körperschaft, die vor die Wähler hintritt und sagt: Die Besseren, um euch zu regieren, sind wir. Besser in Hinblick worauf? In Hinblick auf die Kompetenz zur Vertretung. Historisch unterscheidet man zwischen Interessenparteien und Programmparteien. Während die Tories im englischen Unterhaus die Interessen des Hochadels vertraten, sammelten sich bei den Whigs die Vertreter des Kleinadels und des Bürgertums.

Die sozialistischen Parteien traten später als Interessenvertreter der Arbeiterklasse auf, aber zugleich als Reprä-sentanten eines Programms, der Gesellschaft der Freien und Gleichen: Was heute noch unmittelbar Interesse der Arbeiterschaft sei, wären auf lange Sicht die Interessen der Ganzen Menschheit. Und während heute eine Partei die Interessen der Besserverdienenden oder der Hoteliers und der Zahnärzte zu vertreten beansprucht, verschreibt sich eine andere der Bewahrung der Schöpfung und den Anliegen der höheren Staatsdiener und der gebildeten Mittel-schicht. Und schließlich tritt eine Partei auf, die alle konstituierten Interessen als Residuen einer verfließenden industriellen Zivilisation betrachtet und die Ausgestaltung der digitalen Gesellschaft zu ihrem Programm macht – wiederum im Interesse Aller, aber unmittelbar zum Vorteil der kreativen Prekariats in der IT-Branche.**

Doch ob Interesse oder Programm: in jedem Fall vertreten sie, und das ist es, woran sie gemessen zu werden bean-spruchen. Und daran kann man sie messen: nämlich nachdem man sie eine Weile hat agieren sehen. Und aus diesem Grund treten auch in ihrem Innern nicht alle als gleich-berechtigt auf (und lösen einander turnusmäßig bei den leitenden Tätigkeiten ab), sondern der eine oder die andre sagt: Ich kann es besser als dieser oder jener. Besser nämlich in Hinblick auf die Vertretung – der Interessen und des Programms. Und auch das können alle – nämlich alle, die dieser Partei angehören – beurteilen: nachdem man sie eine Weile hat machen lassen.

Nachdem man sich darüber einmal verständigt hat, kommt fernerhin in Betracht, dass sich "ein jeder einbringen kann": nämlich weil es für die Partei besser ist, wenn alle den Parteizweck als ihre ureigenste Sache auffassen können, als wenn nur ein paar die Partei zum Vehikel ihrer persönlich Ambitionen machen.

*

Die praktischen Nutzanwendungen aus alledem ergeben sich wie von selbst.


*) Die kokette Antwort Keine Macht für niemand braucht hier nicht erörtert zu werden, solange sie, nämlich unter sonst unverändert bleibenden Bedingungen, nur die Macht der jeweils Stärkeren bedeutet 
 und wenn es selbst "das Volk" wäre.
 

**) (geschrieben im Jahre des Herrn 2011)

 



*) Foto von Gösta Hellner; Ostraka aus dem Kerameikos, Deutsches Archäologisches Institut Athen, 1963

Sonntag, 13. Februar 2022

Die Schwarze Pest hat Europa ganz unterschiedlich heimgesucht.

aus derStandard.at, 11. 2. 2022               Triumph des Todes, Fresco aus dem Bürgerhospital im Palazzo Sclafani in Palermo. um 1445

Der Schwarze Tod wütete nicht überall gleich verheerend
Pollendaten aus 19 europäischen Ländern zeigen, dass die Pest in einigen Teilen Europas nur geringe Spuren hinterließ

Das mittelalterliche Europa hatte mit einer ganzen Reihe von Krankheiten zu kämpfen. Während Typhus, Ruhr, Lepra oder Pocken jedoch im Allgemeinen meist nur lokal grassierten, sorgte ein Erreger im 14. Jahrhundert für eine kontinentale Katastrophe: Das Pest-Bakterium Yersinia pestis brachte den Schwarzen Tod über Europa, Westasien und Nordafrika, alleine zwischen 1346 und 1353 raubte es einem Drittel der europäischen Bevölkerung das Leben. DNA-Analysen weisen darauf hin, dass dieser Peststamm mit dem Pelzhandel aus Russland und Zentralasien nach Europa gelangt war.

Die Pest wurde für zahlreiche Veränderungen in Religion, Politik und Kultur verantwortlich gemacht. Wie sich die Seuche jedoch demographisch auswirkte, wo sie wie stark wütete, blieb bislang an relativ wenige Schriftquellen gebunden und wurde nicht abschließend verstanden. Nun haben Forschende durch Analysen von Pollendaten aus 19 europäischen Ländern gezeigt, dass die Pest zwar in bestimmten Regionen durchaus verheerende Folgen hatte, in anderen Teilen Europas jedoch sehr viel weniger stark oder auch gar nicht auftrat.

Landschaftlichen Veränderungen auf der Spur

Ein internationales Forschungsteam unter der Leitung der Palaeo-Science and History-Gruppe des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte (MPI-SHH) analysierte dafür fossile Pollen von 261 Untersuchungsorten aus 19 europäischen Ländern. Ziel war es zu bestimmen, wie sich Landschaft und landwirtschaftliche Aktivität zwischen 1250 und 1450 veränderten. Ihre Analysen unterstützen die bisherigen Erkenntnisse, dass bestimmte europäische Regionen besonders schwer von der Pest getroffen wurden. Sie zeigen jedoch auch, dass einige Regionen weniger stark von der Seuche heimgesucht wurden.

Die Palynologie – die Untersuchung von Sporen und Pollenkörnern – diente dabei als ein besonders wichtiges Werkzeug zur Untersuchung der demographischen Auswirkungen der Pest. Mithilfe eines neuen Ansatzes, genannt Big-data paleoecology (BDP), analysierten die Forschenden 1.634 Pollenproben, die in ganz Europa gesammelt wurden. Dadurch konnte das Team abschätzen, welche Pflanzen in welchen Mengen angebaut wurden. In welcher Region der Ackerbau völlig zum Stillstand kam, konnte mit dieser Methode ebenso nachgewiesen werden, wie die Wildpflanzenarten, die auf den früheren Feldern nachwuchsen.

Quellen bestätigen die Pollen

Einen besonders starken Rückgang landwirtschaftlicher Aktivität erlebten Skandinavien, Frankreich, Südwestdeutschland, Griechenland und Mittelitalien. Dies korreliert mit den hohen Sterblichkeitsraten, die bereits in mittelalterlichen Quellen beschrieben wurden. Zentral- und Osteuropa sowie Teile Westeuropas, darunter Irland und die Iberische Halbinsel, zeigten hingegen Anzeichen für Kontinuität und ununterbrochenes Wachstum. Auch Regionen wie Böhmen, Ungarn und Polen könnten ihre Blüteperiode ab 1350 nicht zuletzt dem Ausbleiben des Schwarzen Todes verdanken, wie die Forschenden im Fachjournal "Nature Ecology and Evolution" berichten.


Auf Grundlage der Pollenuntersuchungen erstellten die Forschenden regionale Szenarien der demografischen Pest-Auswirkungen. Die markierten Bereich zeigen, wo die Bevölkerungszahlen gewachsen bzw. gesunken sind.
Grafik: Hans Sell, Michelle O’Reilly, Adam Izdebski / Izdebski et al., Nature Ecology & Evolution, 2022

"Diese signifikante Variabilität in der Mortalität muss erst noch vollständig erklärt werden. Doch lokale Gegebenheiten hatten wahrscheinlich einen Einfluss auf die Verbreitung, die Infektionsrate sowie die Sterblichkeit von Y. pestis", so Alessia Masi vom MPI-SHH und der Universität La Sapienza in Rom.

Verfälschte Daten

Ein Grund für diese überraschenden Ergebnisse liegt darin, dass viele der quantitativen Quellen aus urbanen Gebieten stammen, welche besonders durch beengte Räumlichkeiten und schlechte Hygiene gekennzeichnet waren. In der Mitte des 14. Jahrhunderts lebte jedoch mehr als drei Viertel der europäischen Bevölkerung in ländlichen Regionen. Die aktuelle Studie zeigt, dass für die Untersuchung der Mortalität in einer bestimmten Region Daten aus lokalen Quellen rekonstruiert werden müssen, darunter auch mit dem BDP-Ansatz, um etwaige Veränderungen der örtlichen Landschaft zu bestimmen.

"Es gibt kein universelles Modell für ‚die eine Pandemie‘ oder den ‚einen Pestausbruch‘, welches für jeden Ort und jeden Zeitpunkt angewendet werden kann", sagt Adam Izdebski vom MPI-SHH. "Pandemien sind komplexe Phänomene, die jedoch auch immer regionale und lokal unterschiedliche Ausprägungen aufweisen. Was wir schon während der Covid-19-Pandemie erlebten, konnten wir nun auch für die damaligen Pestausbrüche zeigen." (red.)

Studie
Nature Ecology and Evolution: "Palaeoecological data indicates land-use changes across Europe linked to spatial heterogeneity in mortality during the Black Death pandemic."