aus nzz.ch, 15. 2. 2022 Auch wenn die Produktionsmittel in privater Hand blieben, nahm der Staat im Dritten Reich eine immer grössere Rolle im Wirtschaftsleben ein. Hier Arbeiter auf der neu errichteten Reichsautobahn Stuttgart–Ulm (um 1936).
Die Aussage ist sicherlich allzu simpel. Natürlich waren die Nazis keine Sozialisten in dem Sinn, in dem etwa Willy Brandt ein Sozialist war. Aber sie haben sich selbst als solche verstanden: Sie glaubten, der wahre Nationalismus bedeute immer Sozialismus – und andersherum. Dass sie tatsächlich Sozialisten waren, kann man bezweifeln, aber für mich als Historiker, der sich mit Hitlers Gedankenwelt beschäftigt, ist das Entscheidende, wie sich die Nazis selbst sahen.
In Ihrer Hitler-Biografie von 2019 vertreten Sie die These, Hitlers Hass auf den Bolschewismus habe im Vergleich mit seiner Angst vor Amerika und Grossbritannien sowie seiner Ablehnung des Kapitalismus eine untergeordnete Rolle gespielt.
Wobei es wichtig ist, zu betonen, dass sich sein Hass vor allem gegen den internationalen Kapitalismus, so wie er ihn verstand, richtete. Hitlers Hauptaugenmerk lag auf dem, was er selbst «Plutokratie» nannte. Diese assoziierte er mit dem sogenannten Weltjudentum, aber auch mit den angelsächsischen Mächten, die er im Vergleich mit der Sowjetunion für deutlich stärker und gefährlicher hielt. Natürlich hatte er auch Angst vor dem Bolschewismus, doch spielte diese eine untergeordnete Rolle. Den Bolschewismus sah er als eines der Instrumente des internationalen Kapitals, um Deutschland und andere Länder willenlos zu machen.
Also eine klassische Verschwörungstheorie: Die Kapitalisten benutzten den Bolschewismus, um Deutschland zu unterwerfen.
Den Sozialisten sagte Hitler sinngemäss: Ihr dachtet, jetzt unterminieren wir das Kaiserreich und dann haben wir die internationale Völkerverbrüderung. Stattdessen habt ihr Deutschland nur geschwächt, so dass es nun ein reines Objekt der internationalen kapitalistischen Mächte ist. Interessant daran ist, dass das Deutsche Reich diese Taktik im Ersten Weltkrieg tatsächlich angewandt hatte, nämlich indem es Lenin nach Russland brachte. Das war Hitler auch bewusst. Er behauptete, die Russische Revolution sei von den Juden und den Alliierten angefacht worden, obwohl er wusste, dass das deutsche Oberkommando die Revolution erst ermöglicht hatte.
Brendan Simms
Hitlers Antikapitalismus steht für Sie am Ausgangspunkt seines Denkens: Auch seinen Judenhass sehen Sie als eine Folge davon.
Ja, und das lässt sich auch gut belegen, denn er sagt dies mehrfach: Man könne nicht Antisemit sein, ohne Antikapitalist zu sein – und umgekehrt. Seine erste belegbare Äusserung gegen die Juden, im sogenannten Gemlich-Brief vom September 1919, steht eindeutig im Kontext des Antikapitalismus: Hitler legt dort ganz klar dar, sein Antisemitismus stehe im Zusammenhang mit der Macht des Geldes. Obwohl er den Brief fast zwei Jahre nach der Russischen Revolution geschrieben hat, erwähnt er diese mit keinem Wort. Daran sieht man eindeutig, dass ihm der Antikapitalismus wichtiger war als der Antibolschewismus.
Sie sehen bei Hitler auch einen «taktischen Antisemitismus»: dass er geglaubt habe, der Judenhass sei den Massen leichter zu vermitteln als der Antikapitalismus und der Antibolschewismus.
Das hat er selbst so gesagt, aber ich würde diesen Aspekt auch nicht überbetonen: Dass Hitler ein überzeugter Antisemit war, steht ausser Frage. Doch dass er gleichzeitig auch die taktischen Möglichkeiten sah, die im Antisemitismus lagen, ist ebenso klar.
Wie viele Historiker betrachten auch Sie den Ersten Weltkrieg als das zentrale Erlebnis, das Hitlers Denken prägte. Dort stand er Amerikanern und Briten im Feld gegenüber.
Seine zentrale Erkenntnis, nämlich dass «Angloamerika» wirtschaftlich, militärisch, vor allem aber auch demografisch am längeren Hebel sitzt, hatte er aus dem Ersten Weltkrieg mitgebracht. Das Deutsche Reich war seiner Meinung nach über die Jahrzehnte und Jahrhunderte durch Immigration geschwächt worden. Die starken und gesunden Elemente Deutschlands hätten als Dünger für das britische Weltreich und die USA fungiert.
Er glaubte, die Besten verliessen das Land...
... und sah, wie sie im Ersten Weltkrieg als feindliche Soldaten zurückkehrten. Seine Meinung über das real existierende deutsche Volk war ambivalent: Das deutsche Herrenmenschentum war für ihn ein Projekt, keine Tatsache. Hitler hing einer Umvolkungstheorie an: Deutsche wanderten nach Amerika aus und wurden durch Juden ersetzt.
Auch Hitlers Bild von den USA beschreiben Sie als ambivalent. Könnte man sagen, dass er Amerika als eine Art Apartheidsstaat betrachtete und nicht als den Schmelztiegel, als den man es später gerne bezeichnete?
Hauptsächlich sah er die USA als Ziel der gesunden Elemente aus Europa. Das schwarze Amerika interessierte ihn dabei fast gar nicht, auch wenn er sich am Rand über den Jazz ausliess. Eher ging es ihm um die osteuropäische und jüdische Einwanderung. Dass die Amerikaner diese 1924 begrenzt hatten, fand er richtig. Die Deutschen sollten seiner Meinung nach das Gleiche tun.
Einerseits betrachtete Hitler England und Amerika als stark, andererseits meinte er, diese Länder würden von Juden beherrscht, die er für minderwertig hielt. Roosevelt war für ihn ein Agent des Finanzjudentums. Versuchte Hitler, diesen Widerspruch zu erklären, oder ging er einfach darüber hinweg?
Er erklärte es sich so, dass England und Amerika zwar über ein enormes Potenzial verfügten und sich lange Zeit auch sehr gut entwickelt hätten, dann aber unterwandert worden seien und sich nun nicht mehr gemäss ihren eigenen Interessen verhielten. Darin sah er auch den Grund dafür, dass sich die Beziehungen des Deutschen Reiches zu Grossbritannien und den USA nach 1936 verschlechterten. Roosevelt drohte er mit Angriffen auf die Juden, weil er glaubte, er könne ihn damit zum Einlenken bringen.
Wenn Hitler über England und Amerika sprach, redete er von Ländern, die er gar nicht kannte. Woraus speiste sich sein Bild vom Westen?
Das ist schwer zu sagen, denn er legte seine Quellen nur sehr selten offen. Umso auffälliger ist, dass er explizit erwähnte, Madison Grant gelesen zu haben, einen berühmt-berüchtigten amerikanischen Rassetheoretiker. Dessen 1916 erschienenes Buch «The Passing of the Great Race» war Anfang der 1920er Jahre ins Deutsche übersetzt worden. Interessant ist, dass Grant die Deutschen zwar für höherwertig als die Osteuropäer hielt, die Angelsachsen oder die Kelten der britischen Inseln aber für noch höherwertiger. Damit eckte er in Deutschland in rechten Kreisen an, doch Hitler sagte, Grant habe recht: Die Deutschen seien nicht nordisch genug, daher brauche man eine neue Politik.
Hitlers England-Bild erinnert an jenes des Kaiserreichs: Deutschland, die verspätete Nation, die die Briten einholen wollte und im Grunde gern gewesen wäre wie diese.
Diese Komplexe gab es in der Tat auch im Kaiserreich, vor allem bei Wilhelm II. Man wäre den Engländern gerne ebenbürtig gewesen. 1944 sprach Hitler in geheimen Reden vor Offiziersanwärtern von den Engländern als der wahren Herrenrasse. Es war eine Art Hassliebe. Gegenüber den Angelsachsen hatte er einen Minderwertigkeitskomplex, was sich auch daran zeigte, dass er hin und wieder behauptete, er habe keinen solchen Komplex. Das ist meist der sicherste Beweis dafür, dass jemand einen Komplex hat.
Waren die Briten für Hitler auch ein Vorbild, wenn es darum ging, eroberte Landstriche zu kolonisieren?
Ja, wobei für ihn allerdings eher die Besiedlung Amerikas ein Vorbild war als die Eroberung Indiens: Hitler wollte ja ein Gebiet kolonisieren, das direkt an das eigene Land angrenzte. Den Wilhelminismus kritisierte er für seine Bestrebungen, sich ein Kolonialreich in Übersee zuzulegen. Dadurch lege man sich nur überflüssigerweise mit den Engländern an und laufe Gefahr, von der Royal Navy von seinen Besitzungen abgeschnitten zu werden. Dabei liess Hitler ausser acht, dass eine deutsche Dominanz über Festlandeuropa für die Briten niemals akzeptabel gewesen wäre.
Um noch einmal zu unserer Ausgangsfrage zurückzukommen: Wie sozialistisch war die Politik der Nazis tatsächlich?
Man kann nicht sagen, dass ihre Politik nach 1933 wirklich sozialistisch war, aber sie enthielt sozialistische Elemente, etwa die Einführung neuer Steuern sowie einen Ausbau des Wohlfahrtsstaats und der Arbeitnehmerrechte. Hitler machte einen Unterschied zwischen dem internationalen Kapitalismus und dem, was er den nationalen Kapitalismus nannte, wenn man so will zwischen Wall Street und Krupp. Den nationalen Kapitalismus akzeptierte er. Sozialismus bedeutete für ihn, dass die Unternehmer in erster Linie für die Nation arbeiten müssten und nicht für ihren Profit.
Dass die Produktionsmittel in privater Hand bleiben würden, war aber immer klar?
Ja, obwohl sie in gewisser Weise doch unter staatlicher Kontrolle standen. Es war keine reine Privatwirtschaft mehr. Auch wenn es keine Nivellierung der Einkommen gab, hatte der Staat doch immer das letzte Wort. Auch was die Erteilung von Aufträgen anging, nahm er eine grössere Rolle ein, und dies nicht erst im Krieg, sondern bereits Mitte der 1930er Jahre.
Mit Ihren Thesen erregten Sie 2019 einiges Aufsehen. Teilweise wurden schwere Vorwürfe gegen Sie erhoben. Im «Guardian» schrieb Ihr Historikerkollege Richard Evans, Sie seien ein Stichwortgeber der rechtsextremen «Alt-Right»-Bewegung. Wie sehen Sie die Debatte im Rückblick?
Die Heftigkeit einiger Vorwürfe hat mich überrascht. Was Evans schrieb, war indiskutabel, ja beinahe diffamierend. Aber im Grossen und Ganzen wurde das Buch positiv aufgenommen, und ich habe den Eindruck, dass es von mehr und mehr Menschen gelesen und verstanden wird.
Wurde Ihr Buch in Deutschland grundlegend anders rezipiert als in England und den USA?
Die Resonanz war im angelsächsischen Raum etwas stärker, doch grosse Unterschiede gab es dabei nicht. Starke Gegenstimmen gab es auch in Deutschland, so stellte etwa Ulrich Herbert in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» meine Wissenschaftlichkeit infrage. Aber ich will mich nicht beklagen: Man schreibt ein Buch, und es kommen Vorwürfe, so ist das Leben. Vielleicht war es auch eine Generationenfrage: Ich hatte jedenfalls den Eindruck, dass jüngere Historiker mein Werk positiver aufnahmen.
Interessant fand ich eine Rezension von Alan Posener, die damals in der «Welt» erschien. Schon sein deutscher Geschichtslehrer in den 1960er Jahren sei überzeugt gewesen, dass Hitler vor allem von seinem Hass auf den Westen motiviert gewesen sei, und in England habe man dies ohnehin lange Zeit so gesehen. Demnach hätten Sie nur eine verschüttete These wieder freigelegt.
Zum Teil ist das so. Der Antagonismus zwischen Grossbritannien und dem Deutschen Reich wurde in England natürlich sehr hoch veranschlagt. Erst später nahm man davon Abstand und dachte, der Krieg sei vor allem an der Ostfront gewonnen worden. Insofern bedeuteten meine Thesen eine Rückkehr zum alten Modell. Mit Hitlers Antikapitalismus hatten sich auch schon andere beschäftigt. Neu waren vor allem meine Thesen über die Bedeutung, die Deutschlands angebliche rassische Schwäche und die Demografie in Hitlers Denken einnahmen. Diese Thesen wurden bis jetzt auch nicht widerlegt.
Warum wurde die Bedeutung des Westens für Hitlers Denken mit der Zeit als weniger bedeutend betrachtet?
Wahrscheinlich wegen des Kriegsverlaufs. Man betrachtete die Ereignisse im Nachhinein teleologisch, dachte an die Schlacht von Stalingrad und den Einmarsch der Roten Armee in Berlin, obwohl der Hauptteil der deutschen Kriegswirtschaft auch nach 1941 gegen den Westen gerichtet war. Hitler glaubte, er würde die Sowjetunion rasch unterwerfen und dann käme die eigentliche Konfrontation mit den USA und Grossbritannien. Wäre ihm dies geglückt, würde man heute kaum noch über die Ostfront reden.
Nota. - Der Faschismus in Italien ist entstanden als ein Beitrag zur Kriegsmobilmachung, und stark geworden ist er, als dem Land trotz seines Sieges kaum Gewinne zugefallen waren. Mussolini war übrigens, bevor er Kriegshetzer geworden ist, Frontmann des linken Flügels der Sozialistischen Partei gewesen.
Wäre Hitler am Tag nach der deutscheen Niederlage mit dem Programm einer totalitären rassistischen Welteroberung angetreten, hätte man ihn ins Irrenhaus gesperrt. Er hat aber, als Europa vor der Wahl zwischen Weltrevolution und fortwährender Finanzherrschaft stand, den nationalen Sozialismus als unausweichlichen völkischen Ausweg aus dieser jüdischen Schein-alternative vorgetragen. Auch das zunächst ohne Resonanz, doch als die leichte Stabilisierung nach der Währunsgreform schon 1929 in der Weltwirtschaftskrise wieder unterging und die durch Sozialdemokratie und Stalinismus absichtsvoll gespaltende Arbeiterbewegung keine glaubhafte Perspektive bot, stand er da als die fix und fertige Überwindung aller Widersprüche.
Sozialistisch war dieses System so weit, wie man das verwandte Projekt von Rossevelts New Deal sozialistisch nennen mag - und natürlich die Programme der Sozialdemokatie selber. Es bedurfte zu seiner Ausführung allerdings eines Weltkriegs - übrigens genauso dringend wie Roosevelt. Und der letztere hat gesiegt, auch in der Alten Welt.
JE
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