aus FAZ.NET, 23. 2. 2022 Minoisches Fresko im Palast von Knossos auf Kreta
Von
Karl-Heinz Kohl
Die Angst der Menschheit vor sich selbst hat nicht nur in der Bezeichnung des gegenwärtigen Erdzeitalters als Anthropozän, sondern auch im populären Genre der globalen Menschheits-geschichten ihren Niederschlag gefunden. Schon lange sind die Zeiten vorbei, in denen man wie Francis Fukuyama nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion noch ein Ende der Geschichte und ein zukünftiges Reich des Friedens und allgemeinen Wohlstands voraussagte. In dessen neueren Schriften über den Ursprung der politischen Ordnung wie auch in den zu internationalen Bestsellern gewordenen Abhandlungen des israelischen Historikers Yuval Noah Harari überwiegen bei Weitem die dystopischen Elemente. Und wenn auch der Grundtenor des Gemeinschaftswerks des Archäologen David Wengrow und des kurz nach Abschluss des Manuskripts verstorbenen Ethnologen David Graeber nicht ganz so pessimistisch ausfällt: Auch für sie steht fest, dass in der Weltgeschichte etwas „entsetzlich schiefgelaufen“ ist.
Anlass für ihr ambitioniertes Unternehmen, diese Geschichte neu zu schreiben, sind aufsehenerregende archäologischen Funde der letzten drei Jahrzehnte. Ihrer Auffassung nach widerlegen sie das klassische Entwicklungsschema, dem zufolge die egalitären Jäger- und Sammlerhorden der Urzeit durch verwandtschaftlich gegliederte Stammesfürstentümer abgelöst wurden, aus denen nach der Erfindung der Landwirtschaft die ersten Städte hervorgingen. Zu ihnen zählt auch die vor etwa neuntausend Jahren angelegte Siedlung Çatalhöyük in Anatolien. Die Häuser ihrer etwa zehntausend Einwohner hat man zwar gefunden, nach einem Königssitz und einem administrativen Zentrum dagegen vergeblich gesucht. Anders als die fest ummauerten Städte im Zweistromland brauchten die Bewohner Çatalhöyüks offenbar keinen Herrscher und Verwaltungsapparat, um ihre Angelegenheiten selbst zu regeln.
Ein einziges soziales Experimentierfeld
Noch ergiebiger für die Kritik der Autoren an den herkömmlichen Entwicklungstheorien ist, was bei Ausgrabungen im Amazonasgebiet zutage trat. Sie zeigten, dass es bereits zur Zeit von Christi Geburt mit einem Netzwerk von Städten, Monumenten und Straßen durchzogen war, dessen Ausläufer bis in das heutige Peru reichten. Die Ausbreitung dieser beeindruckenden Regenwaldzivilisation war offensichtlich durch die bereits einige Jahrtausende zuvor erfolgte Domestikation von tropischen Wildpflanzen begünstigt worden. Doch sei deren Anbau, so Graeber und Wengrow, nur in spielerischer Form betrieben worden. Später hätten die Menschen ihn wieder aufgegeben und wie früher vom Jagen und Sammeln gelebt. Einer der Gründe sei gewesen, dass man für diese Tätigkeit einen weit geringeren Aufwand an Arbeitszeit benötigt. Auch bot die nomadisierende Lebensform Möglichkeiten des Rückzugs in schwer zugängliche Gebiete, die denn auch verstärkt genutzt wurden, als die Kolonisierung Brasiliens durch die Europäer begann.
Diese und viele andere Beispiele beweisen für Graeber und Wengrow, dass die ökonomischen, sozialen und politischen Organisationsformen der frühen Menschheit vielfältiger waren als bisher angenommen. Das trifft nicht nur auf die frühen Städte zu, sondern auch auf das bis heute vorherrschende Bild vom Egalitarismus der steinzeitlichen Jäger- und Sammlerhorden. Gräberfunde zeigten nämlich, dass es auch schon in einigen dieser Gruppen tyrannische Anführer gab, bei deren Tod Dutzende von Menschen umgebracht und mit ihnen bestattet wurden.
Die Frühgeschichte der Menschheit erweist sich so als ein einziges soziales Experimentierfeld. Wieder und wieder habe man neue politische Ordnungen geschaffen, sie aufgegeben und sich an anderen Formen des Zusammenlebens versucht. Allerdings seien die Menschen damals noch so mobil gewesen, dass sie einfach weggezogen sind, wenn es ihnen zu viel wurde. Erst mit der Entstehung des modernen Staates habe sich das geändert. Erst er habe ihnen mit all seinen Zwangsinstitutionen die Möglichkeit genommen, ihre Verhältnisse so zu gestalten, wie sie selbst es wollten. Doch dürfe man die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich dies eines Tages wieder ändern könne.
Patriarchat vs. Matriarchat
Graeber und Wengrow verfügen über das Talent, auch komplizierte Sachverhalte auf den Punkt zu bringen, und imponierend ist die Respektlosigkeit, die sie den etablierten großen Theorien entgegenbringen. Mit anhaltender Spannung verfolgt man, wie diese revidiert werden. Hat sich die erste Begeisterung aber erst einmal gelegt, merkt man, dass die geschickte Rhetorik der beiden Autoren leicht dazu verführt, offensichtliche Widersprüche zu übersehen. Kann man zum Beispiel die anhand von steinzeitlichen Gräberfunden aufgestellte Behauptung, dass man damals körperlich oder auch psychisch von der Norm abweichenden Menschen religiöse Sonderstellungen zuwies, damit begründen, dass dies die südsudanesischen Nuer auch heute noch so täten? Hier findet offensichtlich ein Rückfall in jene evolutionistischen Denkschemata statt, gegen die das Buch sich richtet.
Überhaupt gewinnt man den Eindruck, dass die beiden Autoren unilineare Entwicklungstheorien zwar summarisch ablehnen, einige ihrer Argumentationsstränge aber dann doch übernehmen, wenn sie in ihr eigenes Konzept passen. Zu Recht distanzieren sie sich etwa von den im neunzehnten Jahrhundert aufgekommenen Überlegungen, dass dem Patriarchat in der Menschheitsgeschichte ein weltweites Matriarchat vorangegangen sei. Akzeptabel erscheint ihnen dennoch die umstrittene Theorie der litauischen Prähistorikerin Marija Gimbutas über die ursprünglich in Osteuropa verbreitete Kurgan-Kultur, deren Göttinnen-Kult zeige, welch überragende Rollen Frauen in der Frühzeit zukamen. Selbst die alten Hypothesen über deren politische Vorherrschaft im minoischen Kreta werden von ihnen wieder aufgenommen. Als ein Beleg für diese Annahme dient ihnen, dass sie auf minoischen Palastfresken bekleidet und weit größer dargestellt werden als die ihnen zugesellten, kleinen und meist vollständig nackten Männerfiguren.
Rousseau hätte eine sorgfältigere Lektüre verdient
Wie stichhaltig solche „Beweise“ sind, müssen Prähistoriker und Archäologen entscheiden. Ähnliche argumentative Schwachstellen treten noch deutlicher hervor, wenn sich die Überlegungen auf die Forschungsgebiete benachbarter Disziplinen beziehen. So dürften etwa Theologen und Mediävisten der Behauptung heftig widersprechen, dass im Mittelalter keinerlei Konzepte von sozialer Gleichheit und Ungleichheit existiert hätten. Ihre kühnste These aber findet sich gleich auf den ersten Seiten des Buchs. Sie besagt, dass die von den Philosophen der Aufklärung entwickelte Fortschrittsidee nichts anderes gewesen sei als eine Abwehrreaktion auf die Kritik, die von Vertretern indigener Völker an der europäischen Zivilisation geübt wurde.
Als Kronzeuge für diese Behauptung gilt den Autoren der Huronen-Häuptling Kondiaronk, der sich gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts in Kanada als geschickter Unterhändler zwischen den französischen Kolonisten und den einheimischen Bevölkerungsgruppen bewährt hatte und auch selbst einmal Europa besucht haben soll. Unter dem Namen Adario wurde er zur Titelfigur der „Gespräche mit einem Wilden“, die 1703 als Anhang der Reisebeschreibung des ehemaligen französischen Kolonialoffiziers und libertären Freigeists Louis-Armand de Lahontan erschien, der sich nach seiner Flucht aus der Armee zunächst in Holland niedergelassen hatte. Punkt für Punkt werden in dem Dialog die Missstände der französischen Gesellschaft abgehandelt, am Maßstab der allen Menschen gemeinsamen Vernunft gemessen und mit dem so viel freieren und glücklicheren Leben der Huronen verglichen.
Eine Begegnung zwischen den beiden hat sicher stattgefunden. Und die Bedeutung des Textes für die Frühaufklärung steht außer Frage. Anders steht es dagegen um die Authentizität der Äußerungen Adarios. Denn unschwer lassen sich viele der Positionen, die er vertritt, bis zurück zu den antiken Naturrechtslehren verfolgen. Auch die höhnische Kritik, die er am Christentum vorbringt, orientiert sich eindeutig am zeitgenössischen Deismus. Dennoch nehmen die beiden Autoren alle Worte, die La Hontan seinem Gesprächspartner in den Mund gelegt hat, für bare Münze. Es wird gar nicht erst in Betracht gezogen, dass ihm der Hurone auch als Sprachrohr seiner eigenen Auffassungen gedient haben könnte. Unerwähnt bleibt ebenso, dass einige der radikalsten sozialkritischen Ausführungen der im frühen achtzehnten Jahrhundert unter Philosophen weitverbreiteten Schrift weder von Adario noch von La Hontan stammen. Eingefügt hat sie vielmehr später der ebenfalls ins holländische Exil geflüchtete Calvinist und Freidenker Nicolaus Gueudeville, der sicher nie einen kanadischen Ureinwohner zu Gesicht bekommen hat.
Auch Rousseau hätte eine sorgfältigere Lektüre verdient. Graebner und Wengrow werfen ihm vor, den Mythos vom „dummen Wilden“ in die Welt gesetzt zu haben, der im neunzehnten Jahrhundert rassistisch weiter gesponnen und zur Rechtfertigung des europäischen Kolonialismus herangezogen worden sei. Doch beziehen sich die entsprechenden Passagen bei Rousseau auf seine Gedankenkonstruktion des einsam und ungesellig umherstreifenden Naturmenschen, der in den Tag hinein lebt und weder an das Gestern noch an das Morgen denkt. Dagegen repräsentieren die damals als Wilde bezeichneten indigenen Völker Amerikas für ihn ein bereits fortgeschritteneres Stadium der Geschichte: einen Zustand der lockeren Vergesellschaftung, in dem die Freiheit des Einzelnen noch nicht eingeschränkt ist. Für ihn stellt er das Goldene Zeitalter der Menschheit dar, das sie nie hätte verlassen dürfen. Dies bewiese auch, wie viele Franzosen in Amerika zu den Wilden übergelaufen seien, während es den Europäern nie gelungen sei, auch nur einen Einzigen von jenen zu ihrer Lebensweise zu bekehren. Seinen La Hontan hatte Rousseau offensichtlich auch gelesen.
Wahrscheinlich ist es die Nähe zu ihren eigenen Konzeptionen, die die Autoren der „Anfänge“ dazu bewogen hat, sich in aller Schärfe von Rousseau zu distanzieren. Denn ähnlich romantisch geprägt sind auch die Bilder, die sie selbst von einigen frühen Etappen der Menschheitsgeschichte zeichnen. Und allzu groß ist der Unterschied ja nun auch nicht, wenn man den Beginn der Verfallsprozesse nicht wie Rousseau mit der Erfindung des Eigentums, sondern mit der Entstehung des modernen Staats beginnen lässt.
David Graeber und David Wengrow: „Anfänge“. Eine neue Geschichte der Menschheit. Aus dem Englischen von H. Dedekind, H. Dierlamm und A. Thomsen. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2022. 667 S., Abb., geb., 28.– €.
von
Am 6. August 2020 war es geschafft, nach zehn Jahren Arbeit. David Graeber kommentierte: „Mein Geist ist wie geprellt von dumpfer Überraschung.“ Einen Monat später, am 2. September starb der Anthropologie-Professor, Anarchist und Miterfinder der Occupy-Wallstreet-Bewegung während einer Urlaubsreise in Venedig.
Zehn Jahre. Soviel braucht wohl, wer „eine neue Geschichte der Menschheit“ schreiben will. Der Co-Autor und Archäologe David Wengrow musste „The Dawn of Everything“, so der Originaltitel, nun allein herausgegeben.
Die Autoren wenden sich gegen die gängige Vorstellung, die menschliche Entwicklung könne nach gut definierbaren Entwicklungsschritten verstanden werden: Auf einfache, egalitäre Jäger- und Sammlergruppen folgen komplexere, Ackerbau betreibende Gesellschaften, womit zwangsläufig die Zunahme von Ungleichheit, Zentralismus und Herrschaft verbunden sei. Für einen Anarchisten wie Graeber kein willkommener Gedanke.
Überschätzte Philosophen der Aufklärung
Wengrow und Graeber zufolge sei dieses Stufenmodell entstanden „in einer konservativen Gegenreaktion gegen die Kritik an der europäischen Zivilisation, die in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts an Boden gewann.“
Wir befinden uns demnach mitten im Zeitalter der Aufklärung. Und jetzt kommt die Pointe: Die Ursprünge der aufklärerischen Kritik selbst lägen jedoch „nicht bei den Philosophen der Aufklärung, sondern bei den indigenen Kommentatoren und Beobachtern der europäischen Gesellschaft.“
Fürwahr eine steile These. Vielleicht lag eine Übertreibung zur Kenntlichkeit in der Absicht der Autoren, unhaltbar ist sie wohl trotzdem. Das Verdienst dieses Buches liegt woanders, nämlich in der Sichtung und Zusammenschau jüngster archäologischer Befunde. Graeber und Wengrow lassen uns gleichsam die Vorgeschichte in Farbe sehen.
Die Monumente von Göbekli Tepe waren lange ein Rätsel: Solche Bauten wie die in Südostanatolien traute man Jägern und Sammlern nicht zu. Sie erforderten planmäßig zusammenwirkende Menschen und vor allem solche, die gerade nicht jagten. Graeber und Wengrow verweisen auf das Muster „großer saisonaler Versammlungen“, zu denen die sonst in kleinen Verbänden Lebenden zusammenströmten, in „festlicher Arbeit“ gemeinsam Riesenwerke schufen, während die großen Gazellenherden schussgerecht vorbeiströmten.
Hierarchien aufbauen und einreißen
Einen Staat bilden für eine Saison! Diese Existenzform hat die volle Sympathie der Autoren, und sie entdecken sie rund um den Globus. Die Völker der Great Plains in Nordamerika schufen zur Büffeljagd sogar eine stammesübergreifende Polizei, die kurz darauf nichts mehr zu sagen hatte. Hierarchien aufbauen und wieder einreißen!
Die ersten Könige könnten, vermuten Graeber und Wengrow, Könige für eine Saison gewesen sein: „Das wirkliche Rätsel ist nicht, wann erstmals Häuptlinge oder Chefs oder sogar Könige und Königinnen auf der Bildfläche erschienen, sondern ab wann es nicht mehr möglich war, sie einfach durch Gelächter zu vertreiben.“ So absurd ist die Frage nicht.
Fest steht, dass es nie leicht war, Häuptling zu sein. Der Häuptling war eine große Umverteilungsinstanz, er musste die Bedürftigen versorgen und wenn er Missfallen erregte, wurde er einfach verlassen. So fing das an. Und was haben die Völker der Great Plains nach 1600 und die Erbauer von Stonehenge gemeinsam? Sie waren alle schon einmal Bauern gewesen, um schließlich – ohne jeden Sinn für gesellschaftlichen Fortschritt – doch wieder zum Sammeln zurückzukehren. Allerdings behielten die Erbauer von Stonehenge ihre Hausschweine und die Cheyenne die Pferde der Spanier.
Lob der Schismogenese
Wunderbar auch das Porträt des kriegerischen, Sklaven haltenden amerikanischen Nordwestküsten-Fischer-Adels und seiner südlichen Nachbarn in Kalifornien. Beide Völker pflegten geradezu entgegengesetzte Lebensweisen, höchstwahrscheinlich sogar, weil sie voneinander wussten. Graeber und Wengrow nennen das Schismogenese.
Über 600 Seiten frühe Unordnung. Aber spätestens mit der Erfindung der Stadt ist Ordnung da, meinte man immer, also Hierarchie, Herrschaft, Priesterkaste, das ganze Patriarchat. An dieser Stelle präsentieren Graeber und Wengrow ihre erstaunlichsten Befunde wie Nebelivka oder Taljanky in der heutigen Ukraine, mit über 1000 kreisförmig angeordneten Häusern, bewohnt zwischen 4100 bis 3300 v.u.Z. und ganz ohne Anzeichen zentralistischer Herrschaft.
Selbst die Heimstatt der Schrift Uruk in Mesopotamien soll anfangs eher durch städtischen Selbstverwaltungen als durch absolute Herrscher regiert worden sein. Es ist ein wunderbarer Ansatz, diese Befunde in direkten Bezug zum Herzstück des europäischen Selbstverständnisses zu setzen, zur Aufklärung.
Kondiaronk vom Volk der Huronen wird zum Kronzeugen der Autoren, er war es bereits für die Aufklärer: Unter dem Namen Adario trat er in dem 1704 veröffentlichten Bestseller „Dialogues avec le sauvage Adario“ des Barons de Lahontan auf. Graeber und Wengrow machen von Anfang an klar, in welcher Rolle sie ihn sehen: als „amerikanischen Intellektuellen“. Als Intellektuellen definieren sie „alle, die sich gewohnheitsmäßig über abstrakte Gedanken streiten“.
Kondiaronk war vor dem Hintergrund des eigenen Götter- als Ahnenhimmels sehr empfänglich für die Absurditäten des Glaubens an den christlichen Eingott. Und mit dem Blick des Fremden erkannte er, was wohl alle amerikanischen Ureinwohner wahrnahmen, die europäische Gesellschaften je mit eigenen Augen sahen: Im Vergleich zu uns lebt ihr wie Sklaven!
Hauptschuldiger Geld
Wie kann man zuschauen, wenn ein Mensch auf offener Straße verhungert? Nur Europäer können das. Und Kondiaronk identifizierte auch den Hauptschuldigen dieser Gabe: das Geld, das alle menschlichen Verhältnisse bestimmt.
Schade, dass niemand dem Huronen-Diplomaten Kondiaronk Thomas Hobbes’ „Leviathan“ vorgelesen hat. Hobbes hat das Urbild der Geschichtserzählung geschaffen, das bis heute gilt: Der Mensch ist ein egoistisches Wesen, das nur durch starke Institutionen zu zähmen ist. Und Adam Smith machte genau dort weiter und erfand den homo oeconomicus. Kondarionk und wahrscheinlich alle frühen Völker der Erde hätten Hobbes ausgelacht, und Smith gleich mit. Und dem Anarchisten Graeber dabei aus der Seele gelacht. Völlig zurecht.
Aber was ist mit dem Anti-Hobbesianer Rousseau und seiner Anarchisten-Seele? Sollte er nicht alle Sympathien der Autoren auf sich ziehen? Das Gegenteil ist der Fall. Rousseaus „eigene Erfahrungen mit sozialer Gleichheit reichten vermutlich kaum weiter als die Ausgabe gleich großer Stücke Kuchen auf einem Abendempfang“, behaupten die Autoren. Leider ist ein solcher Satz offenkundigen Unfugs kein Einzelfall.
Rousseau hat bereits seine erste Abhandlung als „Citoyen de Geneve“ unterschrieben, nicht als Hurone (was folgerichtig gewesen wäre, hätte die „indigene Kritik“ die Aufklärung auf den Plan gerufen). Wirklich ärgerlich ist, dass Graeber und Wengrow Rousseau beschuldigen, den „Mythos vom dummen Wilden“ in die Welt gesetzt zu haben, samt aller rassistischen Stereotype der Zukunft. Haben sie diesen Autor denn nie gelesen?
Der Citoyen – das Wort bekam erst durch Rousseau seinen heutigen Klang – das war der Horizont der Aufklärung. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Für alle Huronen und ihre Freunde!, hätte Kondiaronk hinzufügen müssen: Und Tod unseren Feinden! Diese Ambivalenz der conditio humana und aller frühen Gesellschaften – Solidarität nach innen, erbitterte Feindschaft nach außen – lösen Graeber und Wengrow nicht auf.
Lieber 1000 Marterpfähle als ein manifester Staat, mögen sie
sich gesagt haben. Dem muss man nicht folgen. Und überall scheint am
Ende doch das so befehdete „Stufenmodell“ durch. Aber „Anfänge“ schärft
unseren Sinn für die ungeheure Vielfalt beginnender Vergesellschaftung,
und das ist großartig.
Nota. - Mit der politischen und Kulturgeschichte der Menschheit ist es nicht viel anders ge-gangen als mit Darwins Naturgeschichte: Es hat immer wieder verschiedenste Versuche ge-geben, oft aber auch immer wieder dieselben. Bewährt haben sich immer die, die den zu ihrer Zeit vorherrschenden Zwecken am besten gerecht wurden; egal, wie alt und ehrwürdig oder neu und unerhört sie waren. Alles in allem haben sie zu unserer heutigen Welt geführt - zweihundert Jahre lang (oder länger oder kürzer) wurde sie vom Weltmarkt und dem ihn be-herrschenden Wertgesetz geformt und genormt. Daraus ist die globalisierte Welt unserer Tage hervorgegangen, in der das Wertgesetz durch die fortschreitende Digitalisierung progressiv entleert wird.
Wer je geglaubt hat, dem hätten überzeitliche und übernatürliche Geschichtsgesetze zugrunde gelegen, muss sich inzwischen erstaunt die Augen reiben. Ob die Soldschreiber der Partei- und Staatsapparate östlich der Elbe bis ans Gelbe Meer das wirklich geglaubt haben, spielt keine Rolle. Gedruckt wurde dort jedenfalls nichts anderes. Dortige Historiker haben darum noch heute mildernde Umstände, wenn sies glauben. Alle andern nicht, aber das waren nicht so viele, wie Graeber und Wengrow es marktschreierisch darstellen.
JE
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