Ostrazismus*
Was ist der Vorzug
der Demokratie vor anderen Regierungsformen?
Wer irgend mit gesundem
Menschenverstand (sensus communis) begabt ist, wird auf die Frage Wer
soll regieren? unfehlbar die Antwort geben: der am besten dazu geeignet ist.* Das eigentliche Problem war und bleibt immer: Wer entscheidet darüber,
wer die Besten sind - wenn nicht die Besten selber?
Es ist die Quadratur des Zirkels, landläufig: Die
Katze beißt sich in den Schwanz. Denn dass die relativ
größere Weisheit stets bei dem relativ größeren Haufen wäre, wird kein
verständiger Mann behaupten wollen. Eher darf man annehmen, dass die höhere
Weisheit in den meisten Fällen bei einer Minderheit liegt. Das Kreuz ist nur:
Man weiß nie im voraus, bei welcher.
Unter diesen Gesichtspunkten ist die Herrschaft der
Volksmehrheit, wie seit Plato bekannt ist, sogar eine ganz besonders unkluge
Regierungsform. Sie ist nur dadurch zu rechtfertigen, dass einerseits kein
gesellschaftliches Korps a priori zu bevorrechten ist, und dass sie anderersits
erlaubt, die Mehrheiten auszuwechseln – so dass Minderheiten ihrerseits an die
Macht kommen können. Und dieses dann und darum, wenn und weil sich die bislang
machthaben-de Partei als weniger geeignet erwiesen hat, als eine Mehrheit zuvor
glaubte: Man kann es mit einer anderen noch einmal versuchen. Die Voraussetzung ist: die Repräsentation der Meinungen
durch Parteien, und die Periodizität der Mandate. Und das alles ganz prosaisch
und pragmatisch, ohne Glanz und Pathos, weil es sich von allen Regie-rungsformen
als die dem Gemeinwohl am wenigsten schädliche bewährt hat. Demokratie ist kein
Ideal, sondern das erwiesenermaßen kleinste Übel.
*
Das demokratische Gleichheitsgebot beruht nur
redensartlich auf den von Gott oder der Natur verliehenen ewig unveräußerlichen
Rechten einer jeden Person. Pragmatisch beruht es darauf, dass nach
vernünftigen Maßstäben keiner von vornherein einem andern vorgezogen oder ihm
hintangesetzt werden kann - und was für die zu Wählen-den gilt, tut es für die
Wähler nicht minder.
Und dass ein jeder nach unverkürzter
Selbstverwirklichung strebt, ist kein unmittelbarer, sondern erst ein
abgeleite-ter Grund politischer Gleichheit. Unmittelbar ist es ein
Privatanliegen ohne öffentliche Geltung. Erst wenn man aus anderen, eben: pragmatischen
Gründen die demokratische Staatsform als die verhältnismäßig zweckmäßigste
schon gewählt hat, kommt sekundär der Gesichtspunkt in Betracht, dass diese
Verfahrensweise besser funktioniert, wenn die öffentlichen Angelegenheit von
den Staatsbürgern nicht als lästige Pflicht, sondern als ihr ureigenster Beruf
angesehen werden. Doch das ist keine Lösung, sondern das Problem selbst. Aber
ein politisches Problem und keines der ausgefeilten Verfahrensweise.
*
Dieses sind die tatsächlichen, sachlichen Gründe
dafür, eine demokratische Staatsverfassung zu wählen. Es sind zugleich die
Gründe für die Ausbildung politischer Parteien. Eine Partei ist eine
Körperschaft, die vor die Wähler hintritt und sagt: Die Besseren, um euch zu
regieren, sind wir. Besser in Hinblick worauf? In Hinblick auf die Kompetenz
zur Vertretung. Historisch unterscheidet man zwischen Interessenparteien und
Programmparteien. Während die Tories im englischen Unterhaus die Interessen des
Hochadels vertraten, sammelten sich bei den Whigs die Vertreter des Kleinadels
und des Bürgertums.
Die sozialistischen Parteien traten später als
Interessenvertreter der Arbeiterklasse auf, aber zugleich als Reprä-sentanten
eines Programms, der Gesellschaft der Freien und Gleichen: Was heute noch
unmittelbar Interesse der Arbeiterschaft sei, wären auf lange Sicht die
Interessen der Ganzen Menschheit. Und während heute eine Partei die Interessen
der Besserverdienenden oder der Hoteliers und der Zahnärzte zu vertreten
beansprucht, verschreibt sich eine andere der Bewahrung der Schöpfung und den
Anliegen der höheren Staatsdiener und der gebildeten Mittel-schicht. Und
schließlich tritt eine Partei auf, die alle konstituierten Interessen als Residuen
einer verfließenden industriellen Zivilisation betrachtet und die Ausgestaltung
der digitalen Gesellschaft zu ihrem Programm macht – wiederum im Interesse
Aller, aber unmittelbar zum Vorteil der kreativen Prekariats in der IT-Branche.**
Doch ob Interesse oder Programm: in jedem Fall
vertreten sie, und das ist es, woran sie gemessen zu werden bean-spruchen. Und
daran kann man sie messen: nämlich nachdem man sie eine Weile hat agieren
sehen. Und aus diesem Grund treten auch in ihrem Innern nicht alle als
gleich-berechtigt auf (und lösen einander turnusmäßig bei den leitenden
Tätigkeiten ab), sondern der eine oder die andre sagt: Ich kann es besser als
dieser oder jener. Besser nämlich in Hinblick auf die Vertretung – der
Interessen und des Programms. Und auch das können alle – nämlich alle, die
dieser Partei angehören – beurteilen: nachdem man sie eine Weile hat machen
lassen.
Nachdem man sich darüber einmal verständigt hat, kommt
fernerhin in Betracht, dass sich "ein jeder einbringen kann": nämlich weil es
für die Partei besser ist, wenn alle den Parteizweck als ihre ureigenste Sache
auffassen können, als wenn nur ein paar die Partei zum Vehikel ihrer persönlich
Ambitionen machen.
*
Die praktischen Nutzanwendungen aus alledem ergeben
sich wie von selbst.
*) Die kokette Antwort Keine Macht für niemand braucht
hier nicht erörtert zu werden, solange sie, nämlich unter sonst unverändert
bleibenden Bedingungen, nur die Macht der jeweils Stärkeren bedeutet – und wenn
es selbst "das Volk" wäre.
**) (geschrieben im Jahre des Herrn 2011)
*) Foto von Gösta Hellner; Ostraka aus dem Kerameikos, Deutsches Archäologisches Institut Athen, 1963
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