Samstag, 15. Dezember 2018

Hat Merkel Geschichte geschrieben?



In der ZEIT vom 9. 12. stellt der Mannheimer Zeithistoriker Phillipp Gassert die Frage, ob Angela Merkel mit ihrere Kanzlerschaft Epoche gemacht hat.


...Welche historischen Maßstäbe haben wir an der Hand? Hat Merkel das Zeugs zur epochalen Namensgeberin? Ich glaube ja. Dabei ist erstens die Länge der Amtszeit ein Faktor. Das zweite, nicht quantifizierbare Kriterium für ein Kanzlerrating aber ist, ob wir im kulturellen Gedächtnis der Zukunft Platz für eine Ära Merkel schaffen. Dazu muss etwas von der Person auf ihre Epoche abfärben, sie ein Problem wirkmächtig verkörpern: Merkels Politikstil, auch ihre floskelhafte Sprache, die kaum angekündigten, dann urplötzlich durchgezogenen Wenden (Atomstrom, Wehrpflicht, Migration), ihr auf Konsens zielender Pragmatismus, der eine implizierte Moderni- sierung des Konservativen verlangte, ohne es klar zu sagen, ist typisch für eine saturierte Gesellschaft, die sich vor Reformen fürchtet. Dann wird auch Äußerliches wie Merkel-Raute und Blazer plötzlich Kult. Drittens muss es ein signifikantes Thema, keine Petitesse, sein, für das die fragliche Persönlichkeit künftig steht.

Was nach Merkel selbstverständlich ist

Bei Merkel ging es in Kontinuität zu Gerhard Schröder um zwei große Fragen: Wie halten wir es mit Europa und der Globalisierung einerseits sowie wie mit unserem neuen Selbstverständnis als Einwanderungsgesell- schaft andererseits? Als erste Ostdeutsche und erste Frau im Kanzleramt stand sie, nach ihrer anfänglich neo- liberalen und übrigens auch stark migrationsskeptischen "Leipziger" Phase um 2003, für den Versuch, die CDU in die liberale Mitte zu rücken. Sie wollte das konservative Spektrum in den neudeutschen umwelt-, europa- und migrationspolitischen Konsens einbeziehen. ...

Der Übergang zur Einwanderungsgesellschaft

... Die Ära Merkel steht mit dem von ihr sträflich unerklärt gelassenen Satz "Wir schaffen das" für den Über- gang zur Einwanderungsgesellschaft, der mental noch nicht vollständig nachvollzogen wurde. Dieser neue Status quo wird mit Merkel untrennbar verbunden bleiben: In der postmerkelschen Republik werden wir hoffentlich nicht mehr über den bloßen Fakt streiten, dass viele Deutsche eben auch "Migrationshintergrund" haben. Es ist längst eine unaufgeregte Selbstverständlichkeit. Künftig streiten wir besser darüber, wie wir Einwanderung vernünftig regulieren und welcher Strategien der Integration es bedarf: Das sind klassische Diskurse eines Einwanderungslands.

Paradoxerweise wirkt die Gesellschaft so gespalten, weil Merkel einen neuen Konsens zu bauen versuchte. Damit hat sie Mut bewiesen und einen Übergang zu einem neuen deutschen Selbstverständnis ermöglicht, das künftig mit ihrem Namen verbunden bleiben wird.


Nota. -  Das ist ein wenig dünn geraten. Wer Migration sagt, muss auch Globalisierung sagen. Und wer Glo- balisierung sagt, darf zu Digitalisierung nicht schweigen.

Geschwiegen hat sie nicht, aber ihre Beiträge dazu waren mehr rhetorischer Art, und da liegt nicht gerade ihre Stärke. Das Kapitel hat sie ihrer Nachfolgerin im CDU-Vorsitz hinterlassen, die ja auch eine Chance zu histo- rischer Bedeutung bekommen will.

Doch ausschlaggebend ist Merkels Beitrag zur Neubestimmung von Deutschlands Rolle in der Welt. Der begann mit ihrem - oder war es das ihres Finanzministers? - Auftreten in der Griechenland-Krise. Ihr scheinbar rein tagesopportunes Tasten entsprach aber ihrem energischen Entschluss, die europäische Einigung nicht in Frage stellen zu lassen. Der wurde auf weltpolitisch spektakuläre Weise durch die Flüchtlingskrise auf die Probe ge- stellt.

Die Probe hat sie bestanden. Wir haben das geschafft, und dass die Migration ein Weltproblem ist, dem Europa nur gewachsen ist, wenn es sie als Kontinent angeht, ist seither im Bewusstsein festgeschrieben. Natürlich gibt es Krakeeler, die aufgeregt hinterherrennen. Aber sie hat Tatsachen geschaffen, in Deutschland wie in Europa. Sie hat Deutschland  zu Weltgeltung gebracht.

Nur vaterlandslose Gesellen können davor die Augen verschließen.
JE

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