Mittwoch, 29. April 2020

Gerettet wird, wer fällig ist.


Es ist ja wahr, wenn heute ein Intensivbett mit Lungenmaschine von einem Achtzigjährigen in Beschlag genommen wird, rettet das vielleicht einen, der sowieso nur noch ein, zwei Jahre zu leben hatte; und setzt in die Warteschleife einen, der noch sein halbes Leben vor sich hat. Aber Politik ist keine mathematische Wahrscheinlichkeitsrechnung. Die wäre hier auch gar nicht am Platze. Ob der Achtzigjährige nicht noch Chancen hätte, die Hundert voll zu ma-chen, und ob der Jüngere nicht drei Wochen später bei einem Verkehrsunfall draufgeht, wer will das wissen? Ein Politiker ja wohl nicht.

Aber ob die zwei, drei Jahre, die der Achtzigjährige vielleicht nur noch vor sich hat, weniger wert wären als das halbe Leben des Jungen, darf ein Politiker gar nicht erst wissen wollen - weil es jenseits seiner Zuständigkeit liegt. Einer, der ein öffentliches Amt bekleidet und das nicht weiß, gehört aus dem Tempel gehauen. Es ist nicht bloß eine Sache der Wortwahl, es ist ein Sache der Kompetenz.

PS. Ich darf das auch sagen, wenn ich
längst schon zur Risikogruppe gehöre.

*

Mit Schäubles diesbezüglichen Einlassungen ist es ganz was anderes. Das Recht auf Leben wird durch das Strafge-setz verbürgt; Menschenwürde und Freiheit der Person sind verfassungsmäßige Grundwerte. Da können sich Kon-flikte ergeben, die dazu nötigen, das eine gegen das andere abzuwägen. Die Frage ist freilich, wer da abzuwägen hat. Im Zweifelsfall sind es die Ärzte, die haben ihren Eid geleistet und sind, anders als die Politiker, wirklich nur ihrem Gewissen verantwortlich. Doch auch sie haben nicht dieses Leben gegen das andere zu gewichten. Ihre Maßstäbe sind wie ihr Risiko medizinischer Natur. Demographische Gesichtspunkte gehören nicht dazu, von arbeitsmarkt-politischen ganz zu schweigen, Herr Palmer!


Dienstag, 28. April 2020

Cultural Anthropology.

 
aus derStandard.at, 27. April 2020   Franz Boas, um 1915

So bunt trieben es die Pionierinnen der Anthropologie
Mit "Die Schule der Rebellen" hat Charles King ein höchst lesenswertes Kollektivporträt der Gründerinnen und Gründer des Kulturrelativismus verfasst

von Klaus Taschwer
Selten war ein wissenschaftshistorisches Buch politisch aktueller: Das liegt vor allem daran, dass seit einigen Jahren rechtsnationalistische Politiker und ihre Anhänger wieder infrage stellen, dass Menschen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Religion, Hautfarbe oder Herkunft nicht diskriminiert werden dürfen. Diese Errungenschaften wurden in den vergangenen Jahrzehnten von Frauen-, Bürgerrechts- oder LGBT*-Bewegungen in der westlichen Welt mühsam erkämpft.

Franz Boas demonstriert den "Kannibalentanz" der Kwakiutl, eines Stamms der First Nations in Kanada. Charles King erzählt darüber in "Schule der Rebellen. Wie ein Kreis verwegener Anthropologen Race, Sex und Gender erfand". Aus dem Englischen von Nikolaus de Palézieux. € 26,80/480 Seiten, Hanser, München 2020. 

Die wissenschaftlichen Grundlagen dafür – und für ein progres-sives Verständnis von "Race", "Sex" und "Gender" – gehen freilich nicht auf Denkerinnen und Denker nach 1945 zurück, wie man vielleicht annehmen könnte. Die Basis für die Zurückweisung des Begriffs "Rasse" und für ein nicht-essentialistisches Verständnis von "Geschlecht" wurde nämlich bereits zu Beginn des 20. Jahr-hunderts von einer höchst unkonventionellen Gruppe von Anthropologen gelegt, deren Pionier der aus Deutschland stammende und nach New York ausgewanderte Franz Boas (1858–1942) war.

Pionier der Feldforschung

Boas, der aus einer jüdischen Familie kam, studierte zunächst Mathematik und Physik an mehreren deutschen Universitäten und dissertierte über die Frage, warum uns das Meer blau erscheint. Anfang der 1880er-Jahre nahm das Mitglied einer schlagenden Burschenschaft dann allerdings an einer Expedition zu den Inuit auf der zu Kanada gehörenden Baffininsel teil und entwickelte da wichtige Grundkonzepte derm ethnologischen Feldforschung, indem er die Inuit mit strengen empirischen Methoden untersuchte.

Ausschnitt einer Dokumentation über Franz Boas und seine antirassistischen Forschungen 

Danach übersiedelte Boas, der auch vermessende Anthropologie betrieb, in die USA und machte – wenn auch nicht ohne Probleme – Karriere an verschiedenen US-Unis. An der Columbia University in New York und am American Museum of Natural History begründete er schließlich mit unerschrockenen Mitstreiterinnen wie Margaret Mead, Ruth Benedict, Ella Deloria oder Zora Neale Hurston die moderne Kultur- und Sozialanthropologie als eigenes Fach und erfand zudem den sogenannten Kulturrelativismus als theoretisches Konzept.

Wider die damalige Rassenkunde

Mit ihren längst klassischen Studien vor allem im Südpazifik widerlegte diese "Schule der Rebellen" – so der deutsche Titel eines neuen, lesenswerten Buchs über diese wackeren Pioniere – nicht nur die damaligen Theorien einflussreicher Rassenkundler und Eugeniker wie Madison Grant, der damals auch einen wesentlichen Einfluss auf die US-Immigrationspolitik und später auf die Ideenwelt von Adolf Hitler hatte. Sie stellten auch die traditionellen Rollenklischees von Mann und Frau infrage und zeigten durch ihre Feldforschungen, wie sehr Sexualität und Geschlechterrollen sozialkulturell geprägt sind.

Charles King, Politikwissenschafter an der Georgetown University in Washington, erzählt nicht nur von den bekanntesten Vertreterinnen dieser Schule – prima inter pares die 1901 geborene Margaret Mead, die mit ihren Studien "Coming of Age in Samoa" (1928) und "Growing Up in New Guinea" (1930) noch vor ihre 30. Geburtstag zwei Klassiker der Sozialwissenschaften verfasste.

Eine TV-Dokumentation über Margaret Mead und ihre Studie "Coming of Age in Samoa".

King erinnert auch an die Pionierarbeiten von Ella Deloria oder Zora Neale Hurston, die in Europa weitaus weniger bekannt sind, aber mit ihren Studien über Afroamerikaner und über die indigenen Völkern Nordamerikas sowohl zum Wissen über diese Bevölkerungsgruppen wie auch zu deren politischer Emanzipation beitrugen.
 
Turbulentes Liebesleben

Neben den wissenschaftlichen Großtaten der frühen Anthropologinnen und Anthropologen schildert King deren private Verstrickungen, was einen besonderen Reiz des stellenweise leider ein wenig holprig übersetzen Buchs ausmacht. Besonders turbulent war dabei das Liebesleben von Margaret Mead, die in zweiter Ehe mit dem Neuseeländer Reo Fortune verheiratet war, mit dem sie auf Papua-Neuguinea in einer Menage à trois mit dem Engländer Gregory Bateson Feldforschung betrieb, Meads späterem dritten Gatten. Zudem unterhielt sie eine langjährige Liebesbeziehung mit ihrer Kollegin Ruth Benedict.

Die einflussreichste Absolventin der "Schule der Rebellen": Margaret Mead
 
Prägender Einfluss

All diese Verwicklungen schildert King ohne jeden Voyeurismus, aber aus einem legitimen Erkenntnisinteresse: Denn er kann zeigen, dass diese Revolutionäre unseres Menschenbildes nicht zufällig ziemlich unkonventionelle Privatleben führten, die eng mit den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen verflochten waren. Und so nimmt es wohl auch wenig wunder, dass Mead und ihre Kollegen auch schon zu wissenschaftlichen Wegbereitern der sexuellen Revolution der 1960er- und 1970er-Jahre wurden.

Charles King erinnert ein halbes Jahrhundert später daran, dass der Einfluss der frühen Kulturanthropologinnen und -anthropologen aber noch viel weiter ging: Ihre damals höchst umstrittenen Konzepte, die sich gegen den herrschenden Rassismus, rigide Geschlechterrollen und überkommene sexuelle Normen richteten, sind uns heute zu selbstverständlichen Errungenschaften geworden. Die es aufs Neue zu verteidigen gilt.

Charles King, "Schule der Rebellen. Wie ein Kreis verwegener Anthropologen Race, Sex und Gender erfand". Aus dem Englischen von Nikolaus de Palézieux. € 26,80/480 Seiten, Hanser, München 2020


Nota. - Amerikanische Cultural Anthropology ist nicht das, was wir hierzulande Kulturanthropologie nennen. Bei uns hieße das Vergleichende Ethnologie. In dem Unterschied wird ein Programm deutlich: Die Schule von Boas untersucht zu allererst den Einfluss der Kulturen auf die verschiedenen Prägungen der Völker, und setzt ihrer Forschung mithin eine Prämisse. Ethnologie, zumal wenn sie vergleichen soll, scheint zunächst unbefan-gener: Sie nimmt die Verschiedenheit der Völker als Datum, das es zu analysieren gilt, ohne eine wertende Vorauswahl zu treffen.
 
Wozu aber erwähnt der Wiener Redakteur Franz Boas' jüdische Abstammung? Er ist aus Deutschland ausgewandert, und zwar zu einem reichen Onkel in Amerika,  und zwar nicht, wie der Leser des Standard vielleich annehmen soll, nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, sondern bereit 1887. Wenn Boas aus Trotz gegen den Antisemitismus seine Forschung von Anbeginn antirassistisch orientiert haben sollte, dann nicht gegen den europäischen, sonder gegen den amerikanischen. Das immerhin hätte Klaus Taschwer durchblicken lassen sollen, wenn er Boas' Jüdischsein schon nicht unerwähnt lassen wollte. Die Amerikaner haben ihren autochthonen Rassismus, wie man sich eerinnern sollte.
JE 

Freitag, 24. April 2020

Künstliche Intelligenz und die Urteilskraft.

aus spektrum.de, 19. 4. 2020

Erfülle uns nur einen einzigen Wunsch!
Für das fundamentalste aller KI-Probleme haben Forscher eine neue Lösung gefunden. Sie ist nicht nur einfach, sie ist elegant.

 von Natalie Wolchover

Wer sich von einer künstlichen Intelligenz Wünsche erfüllen lassen möchte, sollte gut aufpassen, was er sich wünscht. Warum, illustriert ein inzwischen klassisch gewordenes Gedankenexperiment des Oxforder Philoso-phen Nick Bostrom. Bostrom stellte sich einen superintelligenten Roboter vor, der mit einem scheinbar harm-losen Ziel programmiert wurde: Büroklammern herzustellen. Es endet damit, dass der Roboter die ganze Welt in eine gewaltige Fabrik zur Produktion von immer mehr Büroklammern vewandelt.

Man kann solche Gedankenspiele als rein akademische Fingerübung abtun, als Szenario, um das wir uns, wenn überhaupt, in ferner Zukunft kümmern müssen. Tatsächlich aber sind KI-Systeme, die Ziele verfolgen, die nicht mit den unseren übereinstimmen, viel früher zum Problem geworden, als die meisten erwartet haben dürften.

Eines der alarmierendsten Beispiele betrifft heute schon Milliarden von Menschen: all jene nämlich, die Videos auf Youtube anschauen. Dem Unternehmen geht es aus wirtschaftlicher Sicht darum, dass die Besucher mög-lichst viele Videos möglichst lang betrachten. Dafür setzt es Algorithmen ein, die mit Hilfe von KI den Zuschau-ern neue Inhalte empfehlen. Vor zwei Jahren fiel Informatikern und Nutzern auf, dass der Youtube-Algorithmus sein Ziel offenbar dadurch zu erreichen versuchte, dass er den Usern Videos mit immer extremeren Inhalten oder Verschwörungstheorien empfahl.

Eine Forscherin berichtete, dass ihr Youtube, nachdem sie sich Filmmaterial von Donald Trumps Wahlkampf-auftritten angesehen hatte, Videos vorschlug, in denen Rassisten auftraten oder Holocaustleugner oder Men-schen, die andere verstörende Inhalte unters Volk streuten. Das Prinzip des Algorithmus, immer noch einen draufzusetzen, gehe über das Thema Politik hinaus, sagt sie: »Videos über Vegetarismus führten zu Videos über Veganismus. Videos über Joggen führten zu Videos über das Laufen von Ultramarathons.« Studien zufolge trägt der Youtube-Algorithmus so dazu bei, dass die Gesellschaft immer weiter polarisiert wird, die Menschen immer extremer werden und sich Falschinformationen verbreiten. Und das alles, um den Zuschauer noch ein paar Mi-nuten länger am Bildschirm zu halten. Man würde sich wünschen, dass nicht ausgerechnet ein Medienunterneh-men von der Größe Youtubes zum ersten gigantischen Testfall einer Empfehlungs-KI geworden wäre, sagt Dylan Hadfield-Menell, ein KI-Forscher an der University of Cali-fonia in Berkeley.

Weder Entwickler noch Computer führen Böses im Schilde

Die Entwickler bei Youtube hatten wahrscheinlich nie die Absicht, die Menschheit zu radikalisieren. Aber Programmierer können unmöglich an alles denken. »So, wie KI derzeit entwickelt wird, liegt die Verantwor-tung vor allem bei denjenigen, die das System designen. Sie müssen sich überlegen, welche Auswirkungen die Anreize haben, die sie ihren Systemen geben«, sagte Hadfield-Menell. »Und eine Sache, die wir gelernt haben, ist, dass viele Entwickler Fehler gemacht haben.«

Der Knackpunkt liegt darin, dass wir unseren KI-Systemen deshalb keine geeigneten Ziele vorgeben können, weil wir selbst gar nicht wissen, was wir eigentlich wollen. »Wenn man den Laien fragt: ›Was soll dein autono-mes Auto können?‹, bekommt man zur Antwort: ›Kollisionen vermeiden‹«, sagt Dorsa Sadigh, eine auf Mensch-Roboter-Interaktion spezialisierte KI-Wissenschaftlerin an der Stanford University. »Aber wenn man genau hinschaut, sieht man, dass es noch viel mehr gibt; Menschen haben eine Menge Wünsche und Präferen-zen.« Autos, die nur auf Nummer sicher gehen, fahren zu langsam und bremsen so oft, dass es den Passagieren irgendwann schlecht wird.

Und selbst wenn Programmierer versuchen, alle Ziele und Vorlieben aufzulisten, die ein Roboterauto anstreben sollte, gleichzeitig zu erfüllen, am Ende wäre die Liste trotzdem unvollständig. In San Francisco sei sie schon öfter hinter einem selbstfahrenden Auto stecken geblieben, das weder vor noch rückwärts konnte, erzählt Sadigh: Seine Sicherheitsroutinen verhinderten die Kollision mit einem sich bewegenden Objekt, genau wie es ihm die Programmierer vorgegeben haben. Problem nur, dass es sich bei dem Objekt um eine flatternde Plastik-tüte oder ähnliches handelte.

Am Ende ist jedes Ziel das falsche

Solche Fälle, in denen die Ziele von Mensch und Maschine nicht mehr deckungsgleich sind, nennen Fachleute auch Alignment-Probleme. Nun könnte eine völlig neue Methode zur Programmierung sie künftig vermeiden helfen. Wie genau, das hat maßgeblich mit den Ideen Stuart Russells zu tun. Der vielfach ausgezeichnete Infor-matiker aus Berkeley, Jahrgang 1962, leistete in den 1980er und 1990er Jahren Pionierarbeit in den Bereichen Rationalität, Entscheidungsfindung und maschinellen Lernens; er ist auch Hauptautor des Standardlehrbuchs »Künstliche Intelligenz: Ein moderner Ansatz«. Der höfliche, zurückhaltende Brite im schwarzen Anzug ist in den letzten fünf Jahren zu einem einflussreichen Ideengeber für das Alignment-Problem geworden.

 
Aus Russells Sicht wird die heutige zielorientierte KI irgendwann an ihre Grenzen stoßen – trotz aller Erfolge bei Spezialaufgaben, sei es Jeopardy!, Go oder die Verarbeitung von Bildern, Sprache oder Tönen. Egal, worum es im Einzelfall gehe, argumentiert der Berkeley-Forscher, sobald sich eine Maschine an einer vorgegebenen Beschreibung ihrer Ziele orientieren müsse, erhalte man über kurz oder lang eine fehlgeleitete KI. Denn es sei unmöglich, alle Ziele, Unterziele, Ausnahmen und Vorbehalte in diese so genannte Belohnungsfunktion einzu-preisen oder auch nur zu wissen, was die richtigen sind. Einem autonomen Roboter konkrete Ziele vorzugeben, bringe uns unweigerlich in Schwierigkeiten, und zwar in umso größere, je intelligenter er ist. Ganz einfach, weil Roboter ihre Belohnungsfunktion rücksichtslos verfolgen. Im Zweifel, indem sie uns daran hindern, sie daran zu hindern.

Russells drei neue Robotergesetze

Kernpunkt des neuen Ansatzes ist folgende Überlegung: Statt Maschinen ihre eigenen Ziele verfolgen zu lassen, sollten sie ausschließlich das Ziel haben, mehr über die Wünsche der Menschen herauszufinden und diese zu befriedigen. Dass die Maschinen nie mit 100-prozentiger Gewissheit sagen können, was ihre Erbauer eigentlich wollen, nehme ihnen auf Dauer ihre Gefährlichkeit, davon ist Russell überzeugt. In seinem kürzlich erschiene-nen Buch »Human Compatible« legt Russell seine These in Form von drei »Prinzipien nützlicher Maschinen« dar. Er greift dazu die drei Gesetze der Robotik von Isaac Asimov aus dem Jahr 1942 wieder auf, allerdings mit weniger Naivität als der Sciencefiction-Autor. In Russells Version heißt es:

  1. Das einzige Ziel der Maschine ist es, menschliche Präferenzen so gut wie möglich in die Tat umzusetzen.
  2. Die Maschine weiß zu Beginn nicht, was diese Präferenzen sind.
  3. Die ultimative Informationsquelle über diese Präferenzen ist das Verhalten der Menschen.

Im Verlauf der vergangenen Jahre haben Russell und sein Team in Berkeley sowie Gleichgesinnte in Stanford, Texas und dem Rest der Welt innovative Verfahren entwickelt, mit denen man dem Computer vermitteln kann, was wir von ihm wollen, ohne ihm alles auszubuchstabieren – und manchmal sogar, ohne dass wir es selbst wissen müssten. In diesen Labors lernen Roboter, indem sie beispielsweise Menschen bei einer Tätigkeit zu-schauen. Dazu müssen diese Demonstrationen nicht einmal perfekt sein. Der Computer lernt trotzdem. Mitunter erfindet die KI sogar gänzlich neue Verhaltensweisen. So haben die selbstfahrenden Autos einer der Forschungs-gruppen an unbeschilderten Kreuzungen die Gewohnheit entwickelt, ein Stück zurückzufahren, um anderen Autofahrern zu signalisieren, dass sie ihnen die Vorfahrt lassen. Solche Ergebnisse legen nahe, dass die KI überraschend gut darin sein kann, unsere Denkweisen und Präferenzen abzuleiten, sogar wenn wir selbst nur eine vage Vorstellung davon haben.

Roboter Gemini deckt den Tisch

In Scott Niekums Labor an der University of Texas in Austin werden keine abstrakten Szenarien durchgespielt, sondern echte Roboter auf das Präferenzenlernen losgelassen. Gemini, der zweiarmige Roboter des Labors, be-obachtet beispielsweise, wie ein Mensch einen Tisch deckt: Die Person legt dazu eine Gabel links neben einen Teller. Gemini kann nun zunächst nicht sagen, ob Gabeln immer links von den Tellern liegen oder immer an dieser bestimmten Stelle auf dem Tisch; doch neue Algorithmen, die Niekum und Team entwickelt haben, er-möglichen es Gemini, das korrekte Muster nach einigen Demonstrationen zu erlernen. Die Forscher konzen-trieren sich dabei darauf, wie man KI-Systeme dazu bringt, ihre eigene Unsicherheit über die Präferenzen eines Menschen zu quantifizieren. So könnten sie abschätzen, wann sie genug wissen, um sicher zu handeln. »Wir stellen Hypothesen darüber auf, was die wahre Verteilung von Zielen im Kopf eines Menschen sein könnte und welche Unsicherheiten in Bezug auf eine solche Verteilung entstehen«, sagt Niekum. 

Kürzlich fanden Niekum und seine Mitarbeiter einen effizienten Algorithmus, mit dem Roboter lernen können, Aufgaben weitaus besser auszuführen als ihre menschlichen Demonstrationsobjekte. Es kann für ein Roboter-fahrzeug rechnerisch sehr anspruchsvoll sein, Fahrmanöver durch reine Beobachtung menschlicher Fahrer zu lernen. Doch Niekum und seine Kollegen entdeckten, dass sie den Lernvorgang verbessern und dramatisch beschleunigen können, wenn sie einem Roboter Demonstrationen zeigen, die danach sortiert sind, wie gut der Mensch sie ausführte. »Der Agent kann sich dann die Rangliste ansehen und sich fragen: ›Wenn das die Rang-liste ist, was erklärt die Rangliste?‹«, sagt Niekum. »Was passiert öfter, wenn die Demonstrationen besser werden, was passiert weniger oft?«

Die neueste Version des Lernalgorithmus, genannt Bayesian T-REX (für »trajectory-ranked reward extrapo-lation«), sucht in den Ranglisten-Demos nach Mustern, die darauf hinweisen, welchen Belohnungsfunktionen die Menschen möglicherweise folgen. Der Algorithmus misst auch die relative Wahrscheinlichkeit verschie-dener Belohnungsfunktionen. Ein Roboter, der mit Bayesian T-REX läuft, kann effizient ableiten, welchen Regeln Menschen beim Tischdecken voraussichtlich folgen oder was man tun muss, um bei einem Atari-Spiel zu gewinnen, »selbst wenn er nie eine perfekte Demonstration gesehen hat«, sagt Niekum.

(Mindestens) zwei große Herausforderungen

Russells Ideen »finden langsam ihren Weg in die Köpfe der KI-Community«, sagt Yoshua Bengio, wissen-schaftlicher Direktor von Mila, einem führenden Institut für KI-Forschung in Montreal. Deep Learning, das mächtigste Werkzeug der jüngsten KI-Revolution, könne bei der Umsetzung helfen, meint der Montrealer Wissenschaftler. Ein komplexes neuronales Netz durchsucht dabei gewaltige Datenmengen, um Muster ausfindig zu machen. »Natürlich ist da noch mehr Forschungsarbeit nötig, um all das Wirklichkeit werden zu lassen«, sagt Bengio.

Russell selbst sieht zwei große Herausforderungen. »Die eine ist die Tatsache, dass unser Verhalten so weit davon entfernt ist, rational zu sein, dass es sehr schwierig sein könnte, unsere wahren Präferenzen dahinter zu rekonstruieren.« KI-Systeme müssten über die Hierarchie der langfristigen, mittelfristigen und kurzfristigen Ziele nachdenken – über die unzähligen Vorlieben und Verpflichtungen, die uns umtreiben. Wenn Roboter uns helfen sollen (und dabei schwere Fehler vermeiden), müssten sie sich im Dschungel unserer unbewussten Überzeugungen und unausgesprochenen Wünsche zurechtfinden.

Die zweite Herausforderung besteht darin, dass sich die menschlichen Präferenzen wandeln. Wir ändern Meinungen im Laufe des Lebens, aber manchmal eben auch von jetzt auf gleich, je nach Stimmung oder Situation. Ein Roboter kann all das vermutlich nur schwer registrieren.

Außerdem entsprechen unsere Handlungen gar nicht immer unseren Idealen. Menschen können zur selben Zeit zwei Werte vertreten, die sich wechselseitig ausschließen. Auf welchen der beiden sollte ein Roboter optimie-ren? Wie vermeidet man, dass er sich die schlechtesten Eigenschaften aussucht und den dunkelsten Trieben Nahrung gibt (oder schlimmer noch, sie so verstärkt, dass er sie noch leichter erfüllen kann, wie etwa der You-tube-Algorithmus)? Die Lösung könnte darin bestehen, dass Roboter das lernen, was Russell »Metapräferen-zen« nennt: »Präferenzen darüber, welche Arten von Prozessen, die unsere Präferenzen verändern, für uns akzeptabel sind«. Ganz schön viel für einen armen kleinen Roboter!

Vom Wahren, Schönen, Guten

Genau wie dieser wüssten wir selbst zu gerne, was unsere Vorlieben sind oder was sie sein sollten. Und auch wir suchen nach Wegen, mit Unklarheiten und Widersprüchen umzugehen. Wie die ideale KI bemühen wir uns – zumindest einige von uns und das vielleicht nur manchmal – die »Idee des Guten« zu verstehen, wie Platon das Ziel aller Erkenntnis nannte. KI-Systeme könnten sich ebenfalls in ein ewiges Fragen und Zweifeln verstrik-ken – oder gleich ganz in der Off-Position verharren, zu unsicher, um auch nur irgendetwas zu tun.

»Ich gehe nicht davon aus, dass wir demnächst genau wissen, was ›das Gute‹ ist«, sagt Christiano, »oder dass wir perfekte Antworten auf unsere empirischen Fragen finden. Aber ich hoffe, dass die KI-Systeme, die wir aufbauen, diese Fragen zumindest ebenso gut beantworten können wie ein Mensch und dass sie an denselben Prozessen teilhaben können, mit denen die Menschen – zumindest an ihren guten Tagen – Schritt für Schritt nach besseren Antworten suchen.«

Es gibt jedoch noch ein drittes großes Problem, das es nicht auf Russells Liste der Bedenken geschafft hat: Was ist mit den Vorlieben schlechter Menschen? Was soll einen Roboter davon abhalten, die verwerflichen Ziele seines bösartigen Besitzers zu befriedigen? KI-Systeme sind genauso gut darin, Verbote zu unterlaufen, wie manche Reichen Schlupflöcher in den Steuergesetzen finden. Ihnen schlicht zu verbieten, ein Verbrechen zu begehen, würde wahrscheinlich keinen Erfolg haben.

Oder, um ein noch düstereres Bild zu zeichnen: Was, wenn wir alle irgendwie schlecht sind? Es ist Youtube nicht leicht gefallen, seinen Empfehlungsalgorithmus zu korrigieren, der tat schließlich nichts anderes, als sich an den allgegenwärtigen menschlichen Bedürfnissen zu orientieren.

Dennoch ist Russell optimistisch. Obwohl mehr Algorithmen und spieltheoretische Forschung nötig seien, sage ihm sein Bauchgefühl, dass die Programmierer den Einfluss solcher schädlichen Präferenzen herunterregeln könnten – womöglich helfe ein ähnlicher Ansatz sogar bei der Kindererziehung oder Bildung, sagt der Forscher aus Berkeley. Mit anderen Worten: Indem wir den Robotern beibringen, gut zu sein, könnten wir einen Weg finden, dasselbe uns beizubringen. »Ich habe das Gefühl, dass dies eine Gelegenheit sein könnte, die Dinge in die richtige Richtung zu lenken.«

Von Spektrum.de übersetzte und bearbeitete Fassung des Artikels »Artificial Intelligence Will Do What We Ask. That’s a Problem.« aus »Quanta Magazine«, einem inhaltlich unabhängigen Magazin der Simons Foundation, die sich die Verbreitung von Forschungsergebnissen aus Mathematik und den Naturwissenschaften zum Ziel gesetzt hat. 


Nota. - Der Transzendentalphilosoph Johann G. Fichte hat als Wesen der Vernunft defniert die Fähigkeit, aus Freiheit Zwecke zu setzen. Was ein Zweck ist, wissen wir: Es ist nicht allein die Voraussicht auf das Mögliche Ergebnis einer Handlung, sondern vor allem die Billigung dieser Handlung. Nicht allein das Vermögen, spontan, nämlich ex sponte sua, aus eigenem Antrieb das Ergebnis einer vorgestellten Handlung vorauszusehen, sondern das Vermögen, diese Folge zu begrüßen oder abzulehnen; ist nicht bloß die Einbildungskraft, sondern das Ur-teilsvermögen. 

In einer Welt, wo jeder freie Bürger seine eignen Zwecke setzt, wird ihr Zusammenleben zu einem Problem. Die Zwecke können und werden nach aller Wahrscheinlichkeit immer wieder kollidieren. Es bedarf eines Verfah-rens, sie mit einander zu vermitteln; direkt durch Kompromiss oder indirekt durch Zusammenfassung unter übergeordnete Zwecke. Über die zu entscheiden ist wiederum Sache eines vernünftigen Urteils, doch nicht mehr nur des Einen, sondern Aller gemeinsam. So wird idealiter der gesellschaftliche Streit zu einem systemischen Prozess vergesellschaftlichter Suche nach einem Obersten Zweck. Dies wäre eine vernünftige Ordnung, nämlich ein Rechts system. Die Idee des obersten Zwecks liegt ihr zu Grunde als eine zweckhafte Fiktion - so wie die Idee der Freiheit und Gleichheit, die Vertragsidee und - die Idee der Vernunft.

Das alles kommt bei Russell überhaupt nicht vor. Bei ihm geht es umd "Intelligenz, Rationalität, Funktionieren, Verstärkungslernen"... Unter Intelligenz versteht er hoffentlich nicht "das, was der IQ-Test misst", sondern im-merhin die Fähigkeit zu logischem Kombinieren, und unter Rationalität wird er die Fähigkeit verstehen, einen Zweck unter Einsatz geringstmöglicher Mittel zu erreichen; was Funktionieren heißt, ergibt sich daraus zwang-los von selbst, und Zweifel daran, dass es sich durch Verstärkungslernen einüben lässt, sind vernünftigerweise nicht zulässig. Doch vernünftiger Weise sind nicht erst die Schlussfolgerungen, sondern waren bereits die Ein-gangsprämissen zu... beurteilen!

Von the true objectives of the Human Kind redet Russell dann aber auch. Darunter versteht er what the humans would prefer their life to be like, das sei vernünftig und soll Maßstab werden fürs decision making in our real world. Für künstliche Intelligenz soll das ebenso verbindlich werden wie für unsere natürliche. Man kann Mr. Russell nur raten, sich an Stelle der Algorithmen doch eher den Meinungsforschern anzuvertrauen - denen ist das Problem der maschinellen Filterblasen immerhin bekannt. Über den Wert der öffentlichen Meinungen haben sie vermutlich ganz unterschiedliche Urteile. Doch immer noch besser als gar keine: Gar keine hat der Algorith-mus.
JE




Nota. Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.  
JE

Montag, 20. April 2020

Die Zukunft der Arbeit - eine Idylle?

Puvis de Chavannes, Arbeit
aus brandeins

Das Ende der Maloche
Werden Roboter und künstliche Intelligenz Jobs vernichten? Zunächst ja, doch in 30 Jahren könnten sie die Arbeit und das Leben sehr angenehm machen, sagt das Zukunftsbild „Arbeit 2050“.
 

Im Best-Case-Szenario ist ein geschichtlich einmaliger Wandel fast abgeschlossen: Maschinen haben die Arbeit der Menschen ersetzt. „Die Menschheit ist davon befreit, einer Arbeit zum Broterwerb und aus Gründen der Selbstachtung nachgehen zu müssen“, schreiben die Autoren. So wie die industrielle Revolution Muskeln ersetzt hat, soll künstliche Intelligenz geistige Tätigkeiten ersetzen.

Doch was offenbart ein genauerer Blick in das hoffnungsvolle Szenario des Jahres 2050? Welche Entscheidun-gen waren nötig? Und wie finanziert sich die Utopie vom Hightech-Schlaraffenland?

Die Mehrheit wird selbstständig sein

Arbeitslosigkeit bleibt nach diesem Zukunftsbild bis in die Dreißigerjahre dieses Jahrhunderts in vielen Ländern eine Geißel, ist aber 2050 zumindest statistisch so gut wie nicht mehr existent. Die digitalen Technologien, so die Autoren der Studie, haben „mehr neue Arten von Arbeit geschaffen als alte vernichtet“. Von den weltweit sechs Milliarden Menschen im erwerbsfähigen Alter ist nur noch eine Milliarde fest angestellt (heute rund drei Milliarden), eine Milliarde schlägt sich in der Schattenwirtschaft durch, und eine Milliarde befindet sich „im Übergang zur Selbstständigkeit“. Die restlichen drei Milliarden Menschen sind selbstständig. „Der Begriff der Arbeitslosigkeit hat für die neue Generation der Globals keine Bedeutung mehr“, heißt es in der Studie.

Mit körperlicher Arbeit muss sich dank Automatisierung und Denkmaschinen kaum noch jemand quälen, der Wandel von der auf Erwerbsarbeit fixierten Wirtschaft zur sogenannten Selbstaktualisierungs-Ökonomie ist im Jahr 2050 abgeschlossen. Die Menschen arbeiten nicht, weil sie müssen, sondern weil sie wollen. Beispielswei-se als Berater und Freiwillige in großen Agrikultur-Farmen, die Shrimps oder Biomasse für künstliches Fleisch heranzüchten und gleichzeitig CO2 absorbieren.

Doch der Weg dorthin war steil und steinig. Roboter und Algorithmen haben nicht nur repetitive Jobs an Fließ-band oder Kasse überflüssig gemacht; auch Wissensarbeiter sind zu Millionen von Maschinen verdrängt worden. Es sind nicht mehr die Menschen, die auf der Welt am intelligentesten sind. Dadurch stieg im Krisenjahrzehnt der 2030er-Jahre die Arbeitslosigkeit global auf Rekordhöhe.

Was tun mit dem Heer der Automatisierungs-Verlierer? Viele Regierungen – zuerst in reichen Staaten wie Norwegen oder Golfstaaten wie Bahrain, Katar oder den Vereinigten Arabischen Emiraten – griffen in dieser Situation zurück auf Erkenntnisse aus erfolgreichen Pilotversuchen mit einem bedingungslosen Grundeinkom-men zu Beginn des Jahrhunderts vor allem in Afrika und Asien. Es verführte, anders als von vielen befürchtet, die meisten Bezieher nicht zu Trägheit. Im Gegenteil: Laut der Zukunfts-Studie machten sie klugen Gebrauch von der staatlichen Daseinsprämie, nutzten das Geld für eine bessere Bildung, bauten sich eine kleine Firma auf. „Die Leute verwendeten das Einkommen, um mehr Geld zu verdienen, sie waren gesünder, es gab weniger Kriminalität, Bildungsniveau und Selbst- ständigkeit stiegen.“

Der Mensch wird mit weniger Geld auskommen

Je höher die Arbeitslosigkeit stieg, desto lauter wurde der Ruf nach einem Grundeinkommen. Ein bedingungs- loses Weltbürgergeld könnte einen Aufruhr der Modernisierungsverlierer im Keim ersticken. Wer genug zu essen hat, stürmt keine Roboterfabrik. „Die finanziellen Risiken eines Grundeinkommens dürften geringer sein als das soziale Risiko von Millionen Habenichtsen, die herumlungern und durch die Straßen streunen“, so das Szenario.

Doch woher das Geld nehmen für ein Grundeinkommen? Ausgerechnet der Siegeszug der Maschinen ebnete dem Szenario zufolge seiner Einführung den Weg: Ab Mitte der 2030er-Jahre beginnen die Lebenshaltungs-kosten dramatisch zu sinken. Da die Politik keinerlei Schranken für die Einführung neuer Techniken errichtet hat, erobern sie schnell nicht nur die Fabrikhallen, sondern krempeln auch weite Teile der Infrastruktur um – den Nahverkehr, den Bau, die Abfallentsorgung, die Verwaltung, das Gesundheitssystem, Schulen und Hochschulen, Wasser- und Energieversorgung. In den Städten verkehren kostenlose Robo-Busse und -bahnen sowie Lufttaxis; Wohn-, Büro- und Fabrikgebäude kommen aus dem 3D-Drucker. Roboter bringen Lebensmittel von der Farm direkt in den Haushalt – bei geringen Kosten. Ein globales KI-basiertes Bildungssystem ermöglicht Gratis-Bildung vom Kindergarten bis zur Doktorarbeit, der Einsatz von Robotik verwirklicht die Vision von der kostenlosen Gesundheitsversorgung für alle. Der Mensch kommt also mit viel weniger Geld aus.

Parallel dazu erschließen die Regierungen neue Steuerquellen für das bedingungslose Grundeinkommen. Schlupflöcher werden geschlossen, CO2-Steuern und andere Umweltabgaben drastisch erhöht, eine weltweite Finanztransaktionssteuer eingeführt, die Profite der Internet-Monopolisten kräftig geschröpft. Alles KI-gestützt, damit keiner davonkommt. Allein 18 Billionen Dollar, die weltweit in Steuerschlupflöchern versteckt werden, können so zutage gefördert werden. Nach und nach werden auch Roboter und der Einsatz künstlicher Intelligenz besteuert – eine fast unerschöpfliche Quelle des Wohlstands.


Nota. -  Gegen Modellrechnungen unkritisch zu sein, können wir uns spätestens seit Corona gar nicht leisten. Die obige Darstellung hat aber doch den Vorzug, dass sie dem "Das geht nicht!" pointiert entgegentritt; theo-retisch ist es möglich.

Es ist ein Best-Case-Szenario. Zum besten Fall gehört energischer Willen bei den Entscheidern und Loyalität bei den Ausführenden (und der Wegfall äußerer Störungen). Um damit rechnen zu können, ist es freilich nicht emp-fehlenswert, den Blick auf "die nächsten zehn Jahre" zu richten. Denn das ist die Zeit, in der sich obige günstig-ste Bedingungen einstellen werden oder nicht.

Das ist aber das einzige wirkliche Problem. Dass unter den sich abzeichnenden Zukunftsbedingungen ein Garan-tiertes Grundeinkommen nicht nur möglich, sondern auch nötig scheint, sage ich seit langem. Doch dass es unter den vofindlichen Gegenwartsbedingungen möglich sein wird, den Übergang zu bewerkstelligen, bezweifle ich immer mehr. Es würde sich um eine wahre Revolution der bürgerlichen Lebensweise handeln, aber auf revolu-tionärem Weg wird sie gerade nicht machbar sein. Die Revolution ist eine Freisetzung ungeahnter Energien, an-ders kann sie nicht siegen, und ist das Risiko schlechthin: Vor keiner Überraschung ist sie sicher.

Die Einführung des Garantierten Grundeinkommens müsste dagegen minutiös geplant und mit penibler Diszi-plin umgesetzt werden. Wenn da die Massen in Bewegung kommen, ist alles im Eimer. Vorstellbar ist es nur unter den Bedingungen einer totalitären Technokratie und einer wachsamen Polizei. Dass die aber freiwillig das Feld räumen, sobald ihre Mission erfüllt ist, wer mag das glauben?

Auch an dem Punkt wird uns die gegenwärtige Pandemie noch zu größter Skepsis veranlassen.
JE


Samstag, 11. April 2020

Die Wirtschaft nach der Seuche.


Die Ökonomie des Todes

Die Pest war eine der größten Katastrophen der Menschheitsgeschichte. Trotzdem hat sie langfristig der wirtschaftlichen Entwicklung genutzt. Über die paradoxen Spätfolgen von Seuchen.

Wahrscheinlich begann alles in China. Dort war 1332 die Pest ausgebrochen, eine extrem ansteckende Seuche, deren Ursache man damals nicht kannte und gegen die es kein Mittel gab. Von China aus dehnte sie sich nach Westen aus und erreichte schließlich Europa, und zwar über eine Handelsgaleere aus der genuesischen Handelskolonie Caffa auf der Krim (heute: Feodossia), die Ende 1347 in den Hafen von Messina (Sizilien) einlief. Die Mannschaft war von der Seuche befallen und steckte die Menschen an Land an, die sie zunächst gastfreundlich aufgenommen hatten.



Von Messina aus breitete sich die Pest auf dem ganzen Kontinent aus. Die Pandemie, die man später den "Schwarzen Tod" nennen sollte, wurde eine der größten Katastrophen der Geschichte. Vermutlich ist dabei ein Drittel der Bevölkerung Europas gestorben, mindestens 25 Millionen Menschen. Einige Länder, etwa Frankreich und Italien, dürften die Hälfte ihre Einwohner verloren haben. Auslöser der Seuche ist das Bakterium Yersinia pestis; der sogenannte Rattenfloh überträgt es auf Ratten ebenso wie auf Menschen. Wer damals an der Pest erkrankte, bekam schwarze Eiterbeulen und starb oft schon wenige Stunden nach der Ansteckung.
Nach der Pest folgte ein goldenes Zeitalter für die Arbeit

Die gegenwärtige Corona-Epidemie, der bis Freitag weltweit mehr als 96 000 Menschen zum Opfer gefallen sind, hat ganz sicher auch nicht annähernd die Dimension der mittelalterlichen Pest. Aber in einem wichtigen Punkt lohnt sich trotzdem ein Vergleich. Epidemien haben oft langfristige und überraschende wirtschaftliche Konsequenzen. Die Pest ist dafür ein besonders gutes Beispiel. Kurzfristig waren die Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft furchtbar. Der Dichter Francesco Petrarca schrieb 1350, nachdem er die Stadt Rom besuchte: "Die Häuser liegen nieder, die Mauern fallen, die Tempel stürzen, die Heiligtümer gehen unter, die Gesetze werden mit Füßen getreten." Anders als der Coronavirus traf die Pest vor allem junge Leute, was den wirtschaftlichen Schaden noch erhöhte.

Langfristig jedoch führte die Katastrophe paradoxerweise dazu, dass es den Überlebenden substanziell besser ging und Europas Wirtschaft sich schneller entwickelte. Im Mittelalter, als es noch keine Industrie gab, hing das Wohlergehen der Menschen davon ab, wie viel und welches Land sie für die Landwirtschaft zur Verfügung hatten. Weniger Menschen bedeuteten mehr und besseres Land - also auch weniger Hunger und höhere Reallöhne. Der Wirtschaftshistoriker Hans-Joachim Voth von der Universität Zürich sagt: "Die Pestepidemie ist einer der Auslöser der Großen Divergenz zwischen Europa und dem Rest der Welt." Unter der Großen Divergenz verstehen Historiker die Tatsache, dass die europäische Wirtschaft spätestens nach 1700 sehr viel leistungsfähiger wurde als die anderer Kulturen wie China und Arabien. Zusammen mit seinem Kollegen Nico Voigtländer ( Universität Yale) veröffentlichte Voth eine Studie, die den Zusammenhang beschreibt: Der Bevölkerungsrückgang durch die Pest war so massiv, dass er auch mit mehr Geburten so schnell nicht ausgeglichen werden konnte. Deshalb wurde Arbeit knapp und teuer: "Über ein paar Generationen erlebte der alte Kontinent ein goldenes Zeitalter der Arbeit," heißt in dem Papier.
25 Millionen Menschen oder mehr

...fielen zwischen 1347 und 1353 der Pest zum Opfer. Das war mindestens ein Drittel der damaligen Bevölkerung Europas. In Frankreich, Italien und anderen Ländern starb sogar die Hälfte der Einwohner. Die Überlebenden allerdings hatten Vorteile von der Entvölkerung des Kontinents. Mehr Land pro Einwohner stand jetzt zur Verfügung, die Menschen hatten mehr zu essen. Die Wohlhabenderen leisteten sich auch mehr Luxuswaren, was die Wirtschaftsentwicklung förderte. Beispielhaft für die Zeit nach der Pest war der Aufstieg der Familie Fugger in der alten Reichsstadt Augsburg.

Die höheren Löhne reichten nicht nur fürs Überleben, viele Menschen konnten sich jetzt auch Luxusprodukte leisten. Die wurden in Städten hergestellt, weshalb die Verstädterung zunahm, der Geldumlauf und das Steueraufkommen. Beispielhaft dafür ist der Aufstieg der Fugger. Er begann kurz nach dem Ende der Pestzeit, als 1367 Hans Fugger, der Sohn eines Bauern aus Graben im Lechfeld, in die Freie Reichsstadt Augsburg zog und sich bei einem Leineweber verdingte. Er verwob Flachs mit feiner, importierter Baumwolle zu luxuriösem Barchent und begründete so ein Familienimperium, das jahrhundertelang Bestand hatte.

Auch die Inflation in Europa ging zurück, wie der Historiker Klaus Schmelzing in einem neuen Arbeitspapier für die Bank von England schreibt: von 1,58 Prozent jährlich auf nur noch 0,65 Prozent von 1360 bis 1460. Es gab also keine Teuerung mehr, vor der die Menschen hätten Angst haben müssen. Die Pest hatte auch die Einstellung zum Konsum verändert. Die traumatische Erfahrung, dass das Leben plötzlich vorbei sein kann, führte, so Schmelzing, zum Wunsch, dieses wenigstens in vollen Zügen zu genießen. Das hatte zur Folge, dass der Anteil des Vermögens, der für den Konsum verwendet wird, zwischen 1350 und 1450 stark gestiegen ist. Ein Indiz dafür sind die Gesetze gegen übertriebenen Luxus, die viele italienische Städte erlassen haben. Venedig zum Beispiel verfügte 1430 eine Obergrenze für die Absatzhöhe von Damenschuhen.

Dieser Luxuskonsum war, nach Meinung einiger Forscher, die Voraussetzung für die Renaissance und den Abschied vom Mittelalter. Die höheren Löhne bedeuteten aber nicht unbedingt, dass es den Menschen in der Zeit gut ging. Tatsächlich nutzten Fürsten und Könige die höheren Steueraufkommen, um mehr Kriege zu führen. Die Städte wurden größer, aber das Leben in diesen Städten war extrem ungesund: Menschen und Tiere lebten eng beieinander, die Bürger entleerten ihre Nachttöpfe einfach auf die Straße, und Stadtmauern begrenzten das räumliche Wachstum. Krieg, Verstädterung und importierte Seuchen begleiteten den Fortschritt in Europa wie drei "apokalyptische Reiter", schreiben die Forscher Voth und Voigtländer in Anlehnung an die Offenbarung des Johannes in der Bibel.

Sowohl vor als auch nach dem Schwarzen Tod wurde die Menschheit von mörderischen Epidemien heimgesucht. Auch deren wirtschaftliche und politische Folgen waren unabsehbar. So brach 542 in Konstantinopel die Beulenpest aus. Diese nach dem oströmischen Kaiser Justinian benannte "Justinianische Pest" verheerte den gesamten Mittelmeerraum und könnte den Aufstieg des islamischen Weltreichs hundert Jahre später begünstigt haben.

Eine besondere Rolle im kollektiven Gedächtnis von Europäern und Nordamerikanern spielt die Spanische Grippe, die gegen Ende des Ersten Weltkriegs ausbrach. Von den absoluten Zahlen her war sie schlimmer als der Schwarze Tod: Mindestens 500 Millionen Menschen - ein Viertel der damaligen Erdbevölkerung - wurden angesteckt, mehr als 50 Millionen starben, viel mehr als im Krieg selbst. Die wirtschaftlichen Folgen waren aber zu vernachlässigen. Nach einer Schätzung des kanadischen Finanzministeriums kostete die Grippe ganze 0,1 Prozent Wirtschaftswachstum. Das mag damit zusammenhängen, dass als Folge der Demobilisierung nach dem Krieg sowieso eine Rezession ausgebrochen war.

Allerdings entfällt in Industriegesellschaften auch der langfristige Wachstumseffekt der Entvölkerung, wie er nach der Pestepidemie im Mittelalter festgestellt wurde. Wenn die meisten Waren in Fabriken hergestellt werden, wird es für die Reallöhne im Verhältnis weniger wichtig, wie viel Land für die Produktion von Lebensmitteln zur Verfügung steht.

Lernen kann man am Beispiel der Spanischen Grippe, wie wichtig Social Distancing in einer Pandemie ist. Nach einem Bericht des Wall Street Journal wartete die Stadtverwaltung von Philadelphia 16 Tage, bis sie die Bewegungsfreiheit ihrer Bürger einschränkte. Sogar eine Parade wurde noch genehmigt. Der Preis war hoch: Auf dem Höhepunkt der Seuche lag die Sterberate in Philadelphia fünfmal so hoch wie in St. Louis, das nach zwei Tagen mit Social Distancing begonnen hatte.

Das gab es noch nie: Die ganze Welt riskiert eine Rezession, um die Pandemie zu bekämpfen

Heute weiß man, dass es während einer Pandemie eine klare Wahl gibt: Entweder eine Gesellschaft akzeptiert kurzfristig wirtschaftliche Schäden, um die Seuche einzudämmen. Oder sie bezahlt dafür mit vielen Toten in der Zukunft. Was die jetzige Pandemie von allen anderen in der bisherigen Geschichte unterscheidet, ist die Tatsache, dass der größte Teil der Welt diese ökonomischen Kosten akzeptiert, dass sie eine schwere Rezession zulässt, um den Kollaps der Gesundheitssysteme zu verhindern und Menschenleben zu retten. In einigen Ländern, vor allem in Donald Trumps Amerika, kam die Reaktion verspätet, aber sie kam irgendwann doch. Gleichzeitig geben Politiker und Notenbanker Billionen Dollar und Euro aus für Programme, die vor wenigen Wochen noch unvorstellbar waren.

All dies hat es bisher noch nie gegeben. Auch wenn die Seuche eingedämmt ist und es einen Impfstoff gibt, wird sich die Politik daher mit den Spätfolgen der Rettungsprogramme befassen müssen. Über die Einzelheiten kann man heute nur spekulieren. Droht angesichts des vielen gedruckten Geldes jetzt wieder Inflation? Wird die Erfahrung mit den Lieferschwierigkeiten für Atemmasken und Beatmungsgeräte den Wunsch nach Autarkie in vielen Staaten verstärken? Werden Experimente wie das bedingungslose Grundeinkommen beliebter? Wird die Europäische Union das alles aushalten?

Nur eines ist sicher: Nach Corona wird die Welt anders aussehen als zuvor.


Nota. - Doch ob sie nur ein bisschen anders aussehen wird oder sehr viel anders, ist ganz und gar nicht sicher.
JE




Nota. Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

Freitag, 10. April 2020

Neolithische Revolution am Amazonas.

aus spektrum.de, 9. 4. 2020

Eine neue Keimzelle uralter Landwirtschaft
Mit dem Ackerbau hat die Menschheit ihre Lebensweise fundamental verändert. Doch die Kulturtechnik wurde mehrfach erfunden. Einen weiteren Hotspot haben Archäologen in Bolivien entdeckt.

von Karin Schlott

Im Grunde beruht das moderne Leben auf zwei rund 12 000 Jahre alten Erfindungen: Ackerbau und Viehzucht. Diese »neolithische Revolution«, das wissen Archäologen inzwischen, fand allerdings unabhängig voneinander in mindestens vier verschiedenen Regionen der Welt statt: im Nahen Osten, in China, in Mexiko und im Nordwesten des südamerikanischen Kontinents. Nun beschreiben Forscher um Umberto Lombardo von der Universität Bern im Fachblatt »Nature«, dass auch in der Moxos-Ebene im Norden Boliviens Menschen vor rund 10 000 Jahren den Ackerbau erfunden hatten. Dafür hatten die Vorkolumbianer einst hunderte Erdhügel angelegt, auf denen sie Kürbis, Mais und Maniok anpflanzten.



Schon seit Längerem vermuten Genetiker, dass sich in dieser Region eine Keimzelle der Landwirtschaft befunden haben muss. So zeigten Erbgutanalysen: Moderne Nutzpflanzen wie Kürbisse, Bohnengewächse (Canavalia plagiosperma), die Pfirischpalme (Bactris gasipaes) oder Chilis (Capsicum baccatum var. Pendulum) ähneln den wilden Sorten in der Moxos-Ebene. Was bislang aber fehlte, war der archäologische Nachweis für diese These, den Lombardo und sein Team nun erbracht haben wollen. Schon zuvor haben sie in der Savanne der Moxos-Ebene ungefähr 4700 auffällige Erdhügel kartiert und über 80 Stück davon genauer untersucht. Bei mehr als 60 Erhebungen stellte sich heraus, dass sie künstlich angelegt worden waren. Der wahrscheinliche Grund laut der Forscher: Einmal pro Jahr wird die Ebene überschwemmt. Die Hügel bleiben dann aber über Wasser, Pflanzen können auf ihnen gedeihen.

Waldinseln von oben | In der Moxos-Ebene in Bolivien haben Archäologen zirka 4700 künstlich aufgeschüttete Erdhügel kartiert. Im frühen Holozän hatten die Menschen dort Landwirtschaft betrieben.

Inzwischen haben der Schweizer Geograf und seine Kollegen Proben aus drei Dutzend der Hügel genommen und mit Hilfe der Radiokarbonmethode datiert. Offenbar waren die ersten Waldinseln vor rund 10 000 Jahren aufgeschüttet worden. Aus den Proben extrahierten die Wissenschaftler auch Phytolithen. Das sind winzige Überreste von Pflanzen, die aus Kieselsäure bestehen. Lombardo und sein Team haben die Mikrofossilien analysiert und einige Arten von gezüchteten Pflanzen bestimmt: »Wir konnten zeigen, dass das früheste Alter für Maniok im Amazonas 10 350 Jahre ist, für Kürbis 10 250 Jahre und für Mais 6850 Jahre.« Daraus folgt nach Ansicht der Forscher, dass die Menschen im Südwesten des Amazonas 8000 Jahre früher als bislang angenommen Pflanzen kultivierten.

In der Alten Welt begannen Menschen vor ungefähr 10 000 bis 12 000 Jahren, Feldbau und auch Viehzucht zu betreiben. Genetische Studien haben gezeigt, dass im Nahen Osten, in der Region des so genannten Fruchtbaren Halbmonds, diese Erfindungen in zwei Regionen gemacht wurden: in der südlichen Levante und im Zagros-Gebirge (heute Iran).

Donnerstag, 9. April 2020

Grundeinkommen in Spanien?

Daumier
aus taz.de, 7. 4. 2020

Lebenslang Geld für jeden
Die Corona-Pandemie könnte es möglich machen: In Spanien plant die Regierung Sánchez ein lebenslanges Grundeinkommen für alle. 

MADRID taz | Die sozialen Opfer der Coronavirus-Krise in Spanien können hoffen. Das Sozialministerium „sei dabei, ein lebenslanges Grundeinkommen“ zu koordinieren, erklärte am Sonntagabend Wirtschaftsministerin Nadia Calviño in einem Interview gegenüber dem Privatfernsehen LaSexta.

„Es steht in der Regierungsvereinbarung und wir werden es im Laufe der Legislatur umsetzen“, erklärte die Ministerin und eine der Vizechefinnen der Koalitionsregierung aus der sozialistischen PSOE und der linksalternativen Unidas Podemos (UP) unter Ministerpräsident Pedro Sánchez. Das Grundeinkommen sei „nicht nur für diese Ausnahmesituation“, bekräftigte Calviño, „sondern für immer“.

Der Vizeregierungschef für soziale Fragen und UP-Vorsitzende Pablo Iglesias hatte bereits am Wochenende angekündigt, dass eine Einigung im Kabinett für die Einführung der Grundrente kurz bevorstehe. Es sei gerade jetzt notwendig, eine solche Maßnahme umzusetzen.

„Denn das Virus versteht sich sehr wohl auf soziale Klassen“, erklärte der linksalternative Politiker gegenüber den Medien. Insgesamt verloren durch die Pandemie in Spanien bisher 3,5 Millionen Menschen ihre Anstellung oder ihre Aufträge als Selbstständige. „Das Grundeinkommen ist eine demokratische Pflicht, um unsere Verfassung zu erfüllen. Wir können keinen Bürger zurücklassen“, fügte er hinzu. Er hoffe, dass die Regierung mit diesem Vorhaben ein breites, lagerübergreifendes Abkommen erziele.

Als Sozialisten und Linksalternative vergangenen Dezember die Grundlage für eine Koalition schufen, war von einem Grundeinkommen von 1.100 Euro für eine Familie mit zwei Kindern die Rede. Die Presse schätzt die Kosten auf jährlich bis zu 3,5 Milliarden Euro. ...


aus business insider, 8. April 2020

Von wegen bedingungsloses Grundeinkommen: 
Was Spanien in der Corona-Krise wirklich plant

  • Führt Spanien in der Tat ein bedingungsloses Grundeinkommen ein? Nein.
  • Vielmehr handelt es sich dabei um eine soziale Mindestabsicherung für Familien mit geringem oder gar keinem Einkommen.
  • Die soll aber nicht nur für die Krise gelten, lässt die spanische Wirtschaftsministerin wissen, sondern „für immer“.
von Andreas Baumer

Es ist eine Idee mit Reiz für viele, die sich in der Corona-Krise vor dem sozialen Abstieg fürchten. Wäre jetzt nicht Zeit für ein bedingungsloses Grundeinkommen? Das jenen Schutz bietet, die plötzlich Job und Einkommen verloren haben? Da schien es stimmig, dass Spanien, eines der am schwersten vom Coronavirus betroffenen Länder der Erde, vorpreschte. „Wir werden das existenzsichernde Grundeinkommen einführen — so schnell wie möglich“, verkündete Wirtschaftsministerin Nadia Calviño in einem Interview mit dem spanischen Sender „La Sexta“.

Tatsächlich mag Grundeinkommen als Übersetzung für das spanische ingreso mínimo vital irreführen. Was Calviño meinte, ist eher eine soziale Mindestabsicherung, gedacht für Familien mit geringem oder gar keinem Einkommen. So haben es die sozialdemokratische PSOE und ihr linker Koalitionspartner Unidas Podemos im Regierungsabkommen im Dezember 2019 festgehalten. Auf Seite 15, Punkt 2.4.2. Nähere Details sind noch nicht bekannt.

  
So viel aber steht fest: Es handelt sich nicht um ein bedingungsloses Grundeinkommen, das prinzipiell jedem, ob arm oder reich, alt oder jung, mit Familie oder ohne, zustehen würde, und wohl ungleich kostspieliger werden würde.

Selbst die von der spanischen Regierung angestrebte Leistung dürfte so schnell nicht kommen. Einen konkreten Zeitrahmen nannte die Wirtschaftsministerin jedenfalls nicht. „Die Arbeit ist kompliziert“, erklärte Calviño. „Wir haben aktuell an vielen Fronten zu kämpfen.“ Ihren spanischen Mitbürgern versicherte sie aber, dass ihre Regierung „eine Reihe von Maßnahmen ergreift, damit niemand […] zurückgelassen wird.“


Ob Spanien zumindest bis Sommer mit dem Grundeinkommen rechnen könne, hakte die „La Sexta“-Journalistin zum Schluss noch einmal nach. „Wir werden es so schnell wie möglich tun“, antwortete Calviño. „Aber nicht nur für diese Ausnahmesituation, sondern für immer.“


Nota. - Fake News in der taz? Hart an der Grenze. Das Wort "bedingungslos" kommt zwar nicht vor, aber deren Redakteure werden wohl wissen, in welchem Sinn das Grundeinkommen in Deutschland gebräuchlich ist. Dass sie auf eine Klarstellung wohlweislich verzichtet haben, ist eines Günther Jauchs würdig.

Die angesetzten 3,5 Mrd. € wären wohl auch etwas knapp berechnet. Nicht zu reden von den 1.100 € "für eine dreiköpfige Familie"! Das ist weniger als die deutsche Grundsicherung in Anlehnung an den Hartz-IV-Satz. Die wird allerdings nicht 'lebenslänglich' gewährt, sondern gegen regelmäßige Überprüfung der Bedürftigkeit. Wenn die spanische Leistung für Haushalte mit geringem oder gar keinem Einkommen sein soll, wird denen auch nichts anderes übrigbleiben.
JE