Mittwoch, 26. August 2020

Kinderkriegen im Mittelalter.

 
aus nzz.ch, 25.08.2020             Empfängnis eines kinderlosen Paares. Miniatur aus der «Vita Christi» von Jean Mansel, 15. Jahrhundert.

Im Mittelalter waren doppelt so viele Paare kinderlos wie heute – und was Luther mit der Idee der Fruchtbarkeit zu tun hat: Viele alte Muster vom Kinderkriegen prägen immer noch unser Denken

Ein neues Buch zeigt, wie die Menschen im Mittelalter mit ersehnter, verweigerter und bereuter Elternschaft umgingen. Dabei kommen auch zur Sprache: Keuschheit, die Sexualität von Hexen und handfeste Sterilitätsprüfungen bei Männern vor Gericht.

von Tobias Bulang
 
Elternschaft, Kinderwunsch und Kinderlosigkeit sind heute Reizthemen. Ausgestelltes Kinderglück von Helikoptereltern konkurriert mit Zufriedenheitsbekundungen glücklich Kinderloser. Dazu kommen Verlautbarungen bereuter Mutterschaft und Klagen kinderloser Paare mit Kinderwunsch. Da bei Selbstbehauptungen oft über Bande gespielt wird, indem alternative Entwürfe diskriminiert werden, ist der Ton aggressiv.

Das Buch «Kinderlosigkeit» der Braunschweiger Literaturwissenschafterin Regina Toepfer bietet einen versachlichenden historisierenden Vergleich: Eine differenzierte Auseinander-setzung mit Kinderlosigkeit in Mittelalter und früher Neuzeit wird mit den Gegenwartsdis-kursen konfrontiert – wobei Prägungen, Differenzen und Analogien wahrnehmbar werden.

Vermehrung versus Keuschheit

Bereits einleitend überrascht ein statistischer Befund: Sind zurzeit zehn Prozent aller Ehepaare in Deutschland kinderlos, so waren es im Mittelalter doppelt so viele – ohne dass eine Störung des Generationenvertrags beklagt wurde. Toepfer zeigt, dass Fertilität nicht nur eine körperliche Dimension hat, sondern diskursiv formatiert ist und je nach Stand, Geschlecht, Beruf ganz unterschiedlich gefasst wird.

Auf über 500 Seiten wird das Thema zunächst in fünf wissensgeschichtlichen Kapiteln entfaltet. Mit Blick auf die Theologie wird der Gegensatz zwischen dem göttlichen Reproduktionsauftrag des Alten Testaments und der Privilegierung der Keuschheit bei Jesus und Paulus als Herausforderung für mittelalterliche Theologen herausgearbeitet.

Die komplizierten Lösungsansätze, welche Patristik und Scholastik für dieses Dilemma entwickelten, waren für das abendländische Eheverständnis, die Konzeption und Bewertung sexuellen Begehrens und die Perspektive auf Elternschaft folgenreich. Luthers drastische Engführung auf die Alternative Heirat oder Hurerei wird dabei als einschneidende kulturelle Wende kenntlich: Enthaltsamkeit als Leitparadigma des Mittelalters wird durch Fruchtbarkeit ersetzt.

Vorläufer der «Bikini-Medizin»

Völlig anders wird das Thema im medizinischen Diskurs behandelt. Grundlegend ist hier die Lehre, welche die Zeugung in der Vermischung männlichen und weiblichen Samens begründet. Der Abfluss von Sperma und Menstrualblut wird als Reinigung des Leibes gefasst, unterbleibt diese, drohe bei Mann und Frau Rückstau, was zu Faulungen führe. Wenn ärztliche Empfehlungen aus diesem Grunde auf regelmässigen Sexualverkehr bzw. auf gesundheitsfördernde Onanie zielen, ergeben sich mitunter Spannungen zum theologischen Enthaltsamkeitsdiskurs.

Die verschiedenen Behandlungsmethoden gegen Unfruchtbarkeit werden aufgewiesen, die in der Gesamtheit auf eine Pathologisierung des weiblichen Körpers hinauslaufen: auf die Engführung von Unfruchtbarkeit und Weiblichkeit mit erheblichen Konsequenzen. Toepfer führt die heute kritisch reflektierte «Bikini-Medizin», die Beschränkung der Vorsorge von Patientinnen auf die mit Empfängnis, Geburt und Stillen befassten Körperteile auf Kosten anderer Untersuchungen, auf mittelalterliche Traditionen zurück.

Das Rechtskapitel behandelt Kastrationsstrafen und Sterilitätsprüfungen bei Männern vor Gericht. Toepfer schildert den psychischen Druck, dem Männer ausgesetzt waren, wenn sie vor dem Richter von einer erfahrenen Ehefrau geprüft wurden: Die Frau umarmte den entblössten Mann und stimulierte ihn mit vorgewärmter Hand – unterblieb die Erektion, war die soziale Existenz vernichtet.

Bemerkenswert ist der Hinweis darauf, dass Frauen, die vor Gericht die Annullierung einer unfruchtbaren Ehe anstrebten, nicht mit dem versagten Lustgewinn oder dem ausbleibenden Erben des familiären Vermögens argumentieren konnten. Das Protokoll, das erlaubte, eine Ehe als nichtig zu erklären, sah hier die Artikulation des Kinderwunsches vor. Dies führte langfristig, so Toepfer, zur genderspezifischen Normierung und zur Vorstellung, dass der Kinderwunsch der Frauen naturbedingt und universal sei.

Teuflische Reproduktionen

Mittelalterliche und frühneuzeitliche Dämonologen widmeten sich obsessiv der Sexualität der Hexen. Der nach theologischem Verständnis im Gegensatz zum Schöpfergott unfruchtbare Teufel konnte in weiblicher Gestalt Samen empfangen und ihn nach Gestaltwandel als Inkubus an eine Frau abgeben. Zu Recht fragt Toepfer, ob die moralische Unannehmbarkeit, welche die Kongregation für die Glaubenslehre den meisten Reproduktionstechniken attestierte, nicht auch in den Fluchtlinien solcher Reflexionen zu vermuten sei.

In einem Kapitel über ethische Diskurse werden schliesslich Texte gesichtet, die Vor- und Nachteile der Elternschaft erwägen. Schriften, welche Vaterschaft als heilsdisqualifizierende Störung der Meditation des Mannes diskreditierten, hält Toepfer Hochzeitsreden über die Freuden der Elternschaft entgegen. Hier werden Diskurse über Elternliebe und Kinderwünsche mit langfristiger Prägekraft etabliert.

Im Folgenden extrahiert die Literaturwissenschafterin aus mittelalterlichen Erzählungen Narrative der Kinderlosigkeit, die sie mit Gegenwartsdiskursen kontrastiert. Auch heute noch wirke beispielsweise das Geburtswunder-Narrativ des Mittelalters (das geduldige und fromme Warten auf das Kind wird belohnt) im Diskurs der Reproduktionsmedizin fort, wobei der metaphysische Rahmen ersetzt werde: Nicht mehr von Leid auf Heil, sondern von Krankheit auf Gesundheit werde gedacht.

Zum Narrativ mystischer Mutterschaft werden Aufzeichnungen von Ekstasen präsentiert, die Nonnen beim Liebkosen, Wickeln und Stillen realistisch gebildeter Holzplastiken eines Jesuskindes erlebten. Darin sei keine hysterische Kompensation unterdrückter Triebe auszumachen, vielmehr sei das Kindelwiegen durch Brauchtum und Andachtsliteratur vermittelt. Die inszenierte ungetrübte Lust an der Mutterschaft sei wiederum für moderne Normierungen prägend gewesen.

Das Buch zeigt die kulturhistorische Pluralität und Mehrdimensionalität der Auseinander-setzungen mit Unfruchtbarkeit und Kinderlosigkeit im Mittelalter. Dadurch werden in gegenwärtigen Äusserungen zum Thema historische Tiefenschichten lesbar, womit eine Archäologie unserer Konzeptionen von Fertilität betrieben wird.

Regina Toepfer: Kinderlosigkeit. Ersehnte, verweigerte und bereute Elternschaft im Mittelalter. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 2020. 510 S., Fr. 55.90.

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