Freitag, 31. Dezember 2021

Am besten nichts Neues.

 

aus welt.de, 31. 12. 2021

Man gewinnt den Eindruck, Scholz lebt in einem parallelen Deutschland
In der traditionellen Neujahrsansprache betet der neue Bundeskanzler Olaf Scholz die gewohnten Floskeln herunter. Und dennoch gewinnt man den Eindruck, dass Scholz bei zentralen Fragen mehr als nur ein Plan fehlt. Das ist äußerst bedenklich. 
 
Zu Beginn der Koalitionsverhandlungen hatte Olaf Scholz versprochen, nicht Angela Merkel, sondern er werde die traditionelle Neujahrsansprache des Regierungschefs halten. Das Versprechen immerhin hat er eingelöst. Noch besser wäre es gewesen, Scholz hätte versprochen, die Ansprache abzuschaffen. Was soll denn in einer solchen Rede schon Neues stehen?

Wäre Scholz länger Kanzler, er würde das wiederholen, was er in diversen Bundestagsreden gesagt hat; da er eigentlich noch gar nicht angefangen hat zu regieren, kann er nur wiederholen, was im Ampelkoalitionsvertrag steht.

Und so kommt dabei eine Rede heraus, die man als Langeweile, mit Floskeln garniert bezeichnen kann. Die Floskeln sind: „Herausforderungen entschlossen annehmen, alle zusammen anpacken, riesige Solidarität, überwältigende Hilfsbereitschaft, neues Zusammenrücken, starke Gemeinschaft, Respekt voreinander, schnell und entschlossen reagieren, Jahrzehnt des Aufbruchs, ehrgeizige Ziele, massive Investitionen neuen Wohlstand, gute Arbeitsplätze, Gemeinschaft, Respekt, Anerkennung und gute Lebenschancen für alle, Fortschritt für eine bessere Welt, Europa, gemeinsame Werte, Frieden, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, eine neue Zeit, aktiv gestalten, unser Schicksal entschlossen selbst in die Hand nehmen, zusammen bleiben.“

Hier wird ein Plan verlangt. Und der fehlt.

Die Langeweile lautet im ersten Teil der Rede: Lassen Sie sich bitte impfen. Im zweiten Teil die Kurzfassung des Ampelprogramms: Deutschland Klimaneutral bis 2045, 12 Euro Mindestlohn, souveränes Europa, transatlantische Partnerschaft. Wir schaffen das. Ach nein, das war die vorige Amtsinhaberin.

Wir werden es aber nicht schaffen, wenn wir uns an das halten, was Scholz sagt. Nehmen wir die Ankündigung eines fossilfreien Energiesektors bis 2045: „Wir werden uns in diesem Zeitraum unabhängig machen von Kohle, Öl und Gas“, so Scholz. „Und gleichzeitig mindestens doppelt so viel Strom als heute aus Wind, Sonne und anderen erneuerbaren Energien erzeugen.“

Heute decken diese erneuerbaren Energiequellen etwa 45 Prozent unseres Strombedarfs. Eine Verdoppelung würde bedeuten, dass sie im Jahre 2045 90 Prozent unseres jetzigen Strombedarfs decken. Dabei steigt der Strombedarf nach Expertenberechnungen um 50 Prozent. Aus welchen Quellen will Scholz diese Lücke schließen? Gut, das kann ihm egal sein, er wird dann nicht mehr Kanzler sein.

Uns kann das aber nicht egal sein. Neujahr hin und her: Hier wird mehr verlangt als „alle gemeinsam miteinander zusammen geschlossen anpacken“. Hier wird ein Plan verlangt. Und der fehlt.

Das Land ist nicht gespalten? Wo lebt Scholz denn?

Ebenso wie ein Plan fehlt, wie man die Impfquote steigert. Einfach einen General einsetzen, um die Kampagne zu managen, reicht nicht. Man führt ja keinen Krieg gegen das Virus. Man muss ja die Menschen überzeugen.

Wenn Scholz fast beschwörend meint, das Land sei nicht gespalten, das Gegenteil sei richtig, er erlebe überall „eine riesige Solidarität, überwältigende Hilfsbereitschaft, ein neues Zusammenrücken und Unterhaken“, dann lebt er, wie bei der Energieerzeugung, in einem parallelen Deutschland.

 
Das ist aus verschiedenen Gründen bedenklich. Denn in Sachen Corona wird es wohl diese Regierung sein, die nach dem Abebben der Pandemie mit den tatsächlichen Rissen in der Gesellschaft und der Entfremdung eines zwar nicht riesigen, aber doch großen Teils der Bevölkerung von den Regierenden zu tun haben wird. Pfeifen im Wald ist da eher kontraproduktiv.

Zu sagen, Scholz habe eine Gelegenheit versemmelt, etwas Gehaltvolles zu sagen, wäre unfair. Er hatte die Gelegenheit gar nicht. Die Neujahrsansprache soll ja möglichst nichtssagend sein und niemandem die Stimmung verderben.

Wer, wie wir Journalisten, genau hinhört und sich über Ungereimtheiten ärgert, ist selber schuld. Ja, aber wenigstens ein paar neue Floskeln hätten es sein können, oder? Andererseits: Wieso? Wir gucken auch jedes Jahr „Dinner for One“ und verlangen auch nicht, dass Freddie Frinton über etwas anderes stolpert als einen Tigerkopf. Also: Same procedure as every year. Skol! 

 

Nota. - Das hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich auf meinem Blog einmal den Leitartikel aus Axel Springes Welt wiedergeben würde. Aber dass Scholz einmal Bundeskanzler würde, habe ich mir auch nicht träumen lassen. Doch nachdem sich die Union als gestaltende Kraft aus dem politischen Geschäft genommen hat, kann eine scharfe Mitte nur noch von dieser Koalition erhofft werden. Muss man wohl auch dafür in einer Parallelwelt spinnen?

JE

Dienstag, 28. Dezember 2021

Unsensibel.

betroffen

Sensibilität darf man erbitten im privaten Umfeld von Menschen, die einem nahestehen. De-nen kann und darf man dort bei Nichtgefallen aus dem Weg gehen. Wer einem im öffentlichen Raum begegnet, kann man sich nicht aussuchen, den muss man nehmen wie er ist; und vice versa. Dort muss man sich mit Korrektheit zufriedengeben. Wenn nicht, muss man eben zu-hausebleiben.

 

 

Dienstag, 21. Dezember 2021

Das allererste Netzwerk?

aus derStandard.at, 21. 12. 2021                   Diese "Perlen" aus Straußeneierschalen lieferten dem Forschungsteam neue Informationen über prähistorische Netzwerke in Afrika.

Ältestes Netzwerk
Schmuck aus Straußeneiern zeigt, wie vernetzt Menschen vor 50.000 Jahren waren
Aus der Analyse von Perlenscheiben geht hervor, dass starke Regenfälle womöglich den kulturellen Austausch zwischen Bevölkerungsgruppen in Afrika einschränkten

Kultureller Austausch und der Handel mit Ressourcen prägen den Menschen schon seit geraumer Zeit. Das ist durch archäologische Forschung bekannt: Sie rekonstruiert mögliche Handelsrouten und Zusammenhänge anhand von Artefakten. Sie sind zwar nicht so gesprächig wie schriftliche Aufzeichnungen, liefern aber dennoch wertvolle Indizien. Ihr Material kann verraten, aus welcher Region ein Rohstoff stammt. Bernstein beispielsweise ist typisch für den Bereich rund um die Ostsee. Und gewisse Techniken und Abbildungen lassen sich ebenfalls lokal eingrenzen.

In diesem Kontext liefert eine aktuelle Studie spannende Neuigkeiten über den großflächigen Austausch von Schmuckobjekten – oder ihrer Herstellungstechnik – vor 50.000 Jahren. Das dokumentieren die Forscherinnen Jennifer Miller und Yiming Wang vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena in ihrer aktuellen Studie im Fachjournal "Nature".

Das Objekt ihrer Analyse sind scheibenförmige Perlen, die aus den Eierschalen von Straußenvögeln hergestellt wurden. Sie sind unmissverständlich menschengemacht; dass sie zufällig entstehen, ist – im Gegensatz zu anderen Objekten aus Stein, Holz oder Muscheln, die vermutlich von Menschenhand bearbeitet wurden – ausgeschlossen. Außerdem unterscheidet sich der Straußenschalenschmuck stilistisch, wenn man etwa Durchmesser des Lochs und der ganzen Scheibe vergleicht oder die Dicke des Objekts. So lassen sich relativ gut auch kulturelle Verbindungen nachvollziehen.

Eierschalendatenbank

Auf dieser Grundlage berichten Miller und Wang von einer Verbindung zwischen Populationen im Süden und im Osten des afrikanischen Kontinents. "Es ist, als würden wir einer Spur von Brotkrumen folgen", sagt Jennifer Miller. "Die Perlen sind Indizien, die über Raum und Zeit verstreut sind und nur darauf warten, bemerkt zu werden."

In der Studie wurden verschiedenartige Schmuckfragmente verglichen, die in Süd- und in Ostafrika gefunden wurden.

Diese Arbeit kostete sie mindestens zehn Jahre des Zusammentragens von Forschungsergebnissen. Die Forscherinnen stellten die bisher größte Datenbank zu diesen besonderen Anzeichen für Schmuck zusammen. Mehr als 1.500 Eierschalenscheibchen wurden an 31 Orten in Afrika entdeckt und in die Analyse einbezogen.

Austauschrouten über 3.000 Kilometer

Der Vergleich zeigte, dass im südlichen und östlichen Bereich des Kontinents im Zeitraum von vor 50.000 bis vor 33.000 Jahren offenbar eine sehr ähnliche Kultur und ein Austausch vorherrschte. Man könnte also von einem sozialen Netz oder Handels- und Austauschrouten sprechen, die eine Strecke von mehr als 3.000 Kilometern überwanden. Hier stießen Forschende auf quasi identische Perlenscheiben.

"Das Ergebnis ist überraschend, aber das Muster ist klar", sagt Yiming Wang. "Im Zeitraum von 50.000 Jahren, den wir untersuchten, ist das die einzige Periode, in der die Charakteristika der Perlen gleich sind." Man könnte die betreffenden Regionen in dieser Phase also als ältestes erwiesenes soziales Netzwerk bezeichnen.

Eine moderne Kette mit münzenförmigen Perlen aus Straußeneierschalen, die in Ostafrika hergestellt wurde.

Interessanterweise gibt es weitere Merkmale, die in diesem Zeitraum vorherrschten, wie ein Blick auf die Klimabedingungen zeigt. Damals dürfte es in Ostafrika besonders feucht gewesen sein – danach gingen die Niederschlagsmengen aber stark zurück. Der tropische Regengürtel wanderte in Richtung Süden.

Überschwemmungen mit sozialen Folgen

Welche Konsequenzen hatten diese Veränderungen des Klimas? Der Studie zufolge war vor allem das Verbindungsgebiet zwischen Ost- und Südafrika betroffen, in dem sich auch das Einzugsgebiet des Sambesi-Flusses befindet. Der Sambesi ist der viertlängste Fluss Afrikas, heutigen Ländergrenzen entsprechend durchfließt oder begrenzt er die Länder Sambia, die Demokratische Republik Kongo, Angola, Namibia, Simbabwe und Mosambik.

In dieser Großregion dürfte es damals zu stärkeren Regenfällen gekommen sein, die immer wieder Flussufer überschwemmten. Dies könnte zu geografischen Barrieren geführt haben, die auch Folgen für den sozialen Austausch hatten. Den archäologischen Recherchen zufolge ist im Zeitraum danach jedenfalls nicht mehr dieselbe Ähnlichkeit in Sachen Perlenschmuck zu beobachten.

In der Region rund um die Olduvai-Schlucht in Tansania wurden einige neue Schmuckstücke aufgespürt.

Die beiden Forscherinnen kombinierten die Information, die indirekte Klimaanzeiger lieferten, mit Klimamodellen und ihren archäologischen Daten. "So können wir die Verbindung zwischen Klimaveränderungen und kulturellem Verhalten erkennen", sagt Wang.

Kleine Perlen, große Zusammenhänge

Die Forschungsarbeit liefert ein wichtiges Puzzlestück zur Frage, wann und wo sich verschiedene Populationen des modernen Menschen zusammengetan und ausgetauscht haben, und wie sich unterschiedliche Kulturen ausbildeten. Aus der Analyse von sehr alten DNA-Spuren konnte bereits geschlussfolgert werden, dass sich verschiedene genetische Linien des Homo sapiens in dieser Region vor 350.000 bis 70.000 Jahren trennten. Es wurden also einzelne genetische Unterschiede aufgespürt. Vor etwa 2.000 Jahren näherten sich die Populationen wieder einander an – gleichzeitig etablierte sich im Süden Afrikas übrigens auch die Viehzucht.

Die Schmuckartefakte deuten allerdings darauf hin, dass dies die Gruppen nicht davon abhielt, in kulturellen oder wirtschaftlichen Austausch zu treten. Die erstellte Straußeneischmuck-Datenbank könnten auch für zukünftige Forschungsprojekte hilfreich sein, sagt Miller: "Diese winzigen Perlen liefern die Möglichkeit, große Geschichten aus unserer Vergangenheit zu enthüllen." (sic.)

Studie

Nature: "Ostrich eggshell beads reveal 50,000-year-old social network in Africa"

Sonntag, 19. Dezember 2021

Sie hat ihr Haus nicht bestellt.


Sie ist gegangen, ohne für Ablösung zu sorgen.

Wissen Sie, was ich glaube? 

Sie hat ihr Päckchen für Deutschland getragen; die CDU hat sie mitgeschleift. Und als es ernst wurde, hat man sie - na, nicht desavouiert, aber auch nicht unterstützt. Schließlich hat sie sich gesagt: Der ...haufen verdient es nicht, sich für ihn ein Bein auszureißen. Solln sie zusehn, wo sie bleiben. Und ganz still hat sie dazugedacht: Die hatten doch wirklich den Merz ver-dient.

 

 

Freitag, 17. Dezember 2021

Von denen ist eine scharfe Mitte nun nicht mehr zu erwarten.

Da gehts lang!

Norbert Röttgen muss überlegen, ob er sich fürs alte Eisen nicht doch noch zu jung fühlt.

 

 

 

Vielleicht ist der ja genau der Richtige.


Ein Untoter als Sargnagel.

 

 

Es - ist - ihnen - nicht - zu - helfen.

franziska nauck

 

 

 

Das ist eine Provokation.

  uacrisis

aus welt.de, 17. 12. 2021

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat sich dagegen ausgesprochen, die Betriebserlaubnis für die umstrittene Gaspipeline Nord Stream 2 mit den Bemühungen um eine Deeskalation in der Ukraine-Krise zu verknüpfen. „Es handelt sich im Hinblick auf Nord Stream 2 um ein privat-wirtschaftliches Vorhaben“, sagte er in der Nacht zu Freitag nach dem EU-Gipfel in Brüssel.

Für die Inbetriebnahme sei nun noch in einem Teilaspekt die Übereinstimmung mit europä-ischem Recht zu klären. „Darüber entscheidet ganz unpolitisch eine Behörde in Deutschland“, betonte der SPD-Politiker. Dies sei „eine andere Frage“ als die aktuellen Bemühungen darum, eine Verletzung der ukrainischen Grenzen zu verhindern.  ...

 

Als die neue Außenministerin ankündigte, ihre Regierung werde im Unterschied zur Vorgängerin eine entschiednere Haltung gegenüber China und Russland annehmen, befürchtete mancher, sie nähme den Mund zu voll. Und prompt bekommt Frau Baerbock von ihrem Chef eine Ohrfeige.

Schröder und Putin applaudieren: "Rein privatwirtschaftlich; ganz unpolitisch!"

JE

 

 

Donnerstag, 16. Dezember 2021

Was alles soll Rassismus heißen?

 

aus FAZ.NET, 24. 12. 2021      Diesen Potsdamer erwartet ein gewisses Diskriminierungsrisiko. Aber ist er dann ein Opfer von Rassismus?

Was ist eigentlich Rassismus?
Von positiven und negativen Akzeptanzwerten: Eine soziologische Untersuchung widerspricht einer beliebten Vorstellung darüber, was Rassismus sei. 

Von Gerald Wagner 

Stellen Sie sich vor, ein Versuchsleiter würde Ihnen acht Fotos vorlegen. Vier Frauen, vier Männer. Jedem Bild sind ein paar knappe Informationen zu der abgebildeten Person beigefügt: Der Vorname, die religiöse Bindung, das Alter und der Ge­burtsort. Alle sind in Kassel geboren, aber sie heißen Emma, Simon, Asilah oder Aqil. Die Angaben zur Religion le­gen nahe, dass man die Person als christlich, muslimisch oder konfessionell ungebunden einschätzen kann. Sie sollen jetzt entscheiden, ob sie diese Personen gern zum Nachbarn hätten, als Arbeitskollegen oder gar als enges Mitglied Ihrer Familie. Sie blicken in acht freundliche Gesichter junger Er­wachsener. Und jetzt ist es die Absicht des Versuchsleiters, dass Ihnen noch etwas auffällt. Die acht Menschen verfügen über leicht erkennbare äußerliche Merkmale, die ihre Zuordnung zu vier Phänotypen ermöglicht: Nordeuro­päisch beziehungsweise weiß, südeuropäisch beziehungsweise aus dem Mittleren Osten stammend, asiatisch und schwarz. Denn darum geht es in diesem Versuch: Herauszufinden, ob Menschen rassistisch diskriminieren.

Durchgeführt hat die Studie Ruud Koopmans vom Berliner Wissenschaftszentrum Anfang des Jahres. Er wendet sich damit gegen die in der Rassismusforschung mittlerweile vorherrschenden „intersektionellen“ Theo­rien. Darin werden die Begriffe „Rasse“ und „Rassismus“ nicht mehr notwendigerweise an körperlichen Ei­genschaften wie der Hautfarbe festgemacht, sondern beziehen sich auf be­stimmte Kombinationen von Un­gleichheiten bezüglich Kultur, Ethnizität und Religion. Das schlägt sich dann etwa in Konzepten wie einem „anti-muslimischen Rassismus“ nieder. Hier bezögen sich solche Labels wie „weiß“ oder „schwarz“ nicht mehr auf physische Merkmale einer Person, sondern bedeuteten nun zwei Gruppen: Jene, die nicht diskriminiert würden und solche, die unter Diskriminierung litten.

Auch wer ablehnen will, sollte differenzieren

Koopmans hält von solchen ganzheitlichen Konzepten nichts. Sie verwischten entscheidende Unterschiede darin, wer aufgrund welcher ihm zu­geschriebenen Eigenschaften diskriminiert werde. Das bedeutet nicht, dass Koopmans menschliche „Rassen“ für eine Realität hält. Aber sie sind wirkmächtige Vorstellungen, die – und das unterscheidet sie eben von Ei­genschaften wie der Religionszugehörigkeit – äußerliche Merkmale mit be­stimmten kulturellen Zuschreibungen verbinden. Koopmans veranschaulicht das mit seinem Experiment von den acht Bildern, die er einer repräsenta­tiven Auswahl von Teilnehmern vorlegen konnte.

Es zeigte sich, dass ein ausländischer Vorname die Akzeptanz einer Person als Familienmitglied re­duzierte, nicht aber als Nachbar oder Arbeitskollege. Besonders bemerkenswert: Von allen „Rassen“ erfuhr „südländisch“ die schwächste Akzeptanz, während die als „schwarz“ oder „asiatisch“ wahrnehmbaren Personen als willkommene Nachbarn und Familienmitglieder sogar den „weißen“ vorgezogen wurden. Dieses Muster unterscheide sich kaum zwischen Männern und Frauen und auch nicht zwischen Teilnehmern mit und ohne Migrationshintergrund. In der Tendenz zeigten solche mit Migrationshintergrund allerdings eine insgesamt geringere Akzeptanz von Muslimen. Diese wiederum erfuhren die stärkste Abneigung als Nachbarn von Teil­nehmern, die sich bei der Frage nach ihrer politischen Präferenz der AfD zuordneten. Deren Anhänger äußerten auch eine entschiedene Ablehnung schwarzer Personen als potenzielle Nachbarn. Diese wiederum werden von Wäh­lern der Grünen und der Linken bevorzugt.

Aber wer wird nun eigentlich grundsätzlich abgelehnt? Bei Koopmans sind es eindeutig die Muslime, die in allen drei Sparten (Familie, Nachbarschaft, Arbeit) die negativsten Akzeptanzwerte bekamen. Umgekehrt drückten die meisten Teilnehmer eine generelle Vorliebe für re­ligiös ungebundene Personen auf den ihnen vorgelegten Bildern aus, eingeschlossen jene christlicher Konfession. Die Ergebnisse zeigten also, so Koopmans, dass man genau unterscheiden müsse, wer aufgrund seiner „Rasse“ und wer aufgrund von Herkunft und Religion diskriminiert werde. Sie in einem ganzheitlichen „intersektionellen“ Konzept von Rassismus aufgehen zu lassen, verwische diese Unterschiede. Für das Verständnis und auch die Bekämpfung von Rassismus sei es wenig hilfreich, alle nicht-diskriminierten Gruppen in den Container „weiß“ zu werfen und alle an­deren in jenen der „Diskriminierten“. Die deutliche Ablehnung von Mus­limen in dieser Studie zeigt ja, dass die stärkste Diskriminierung sich an einer bestimmten Religionszugehörigkeit festmacht, aber eben nicht an äußer­lichen körperlichen Merkmalen.

Ruud Koopmans: Decomposing Discrimination: Why a Holistic Approach to Racism Hides More Than It Re­veals. WZB Discussion Paper SP VI 2021-103. Oct. 2021

 

Dienstag, 14. Dezember 2021

Die menschliche Geschichte der Ozeane.

aus FAZ.NET, 13. 12. 2021       Die englische Flotte zwingt 1588 die spanische Armada vor Gravelines in der Straße von Dover zum Rückzug.
 
Wie sich die Weltmeere auf die Geschicke des Menschen auswirken 
Es geht auch ohne Meistererzählungen: David Abulafia zeigt auf eindrucksvolle Weise, dass ihm keine Facette der Geschichte der Ozeane fremd ist. 

Von Peter Burschel

Historiker entdecken seit geraumer Zeit das Meer – oder besser vielleicht: Sie entdecken es wieder. Längst ist von einer „ozeanischen Wende“ die Rede, längst von einer „neuen Thalassologie“, längst wird von „historischer Meereswissenschaft“ gesprochen. Kaum ein Meer, das in den vergangenen Jahren ohne Monographie, ja ohne Biographie geblieben wäre. Die Gründe für diesen – immer noch zunehmenden und keineswegs auf die Geschichtswissenschaft beschränkten – Trend sind vielfältig: So spielt ohne Frage das anhaltende Interesse an Globalgeschichte eine Rolle, das in vielen Fällen mit der (nicht nur postkolonialen) Absicht einhergeht, europäische Sichtweisen zu „provinzialisieren“.

Hinzu kommt das Bewusstsein, dass die historische Untersuchung maritimer Räume als Räume ohne Ort und ohne Grenze dazu beitragen kann, methodische Engführungen zu überwinden, nicht zuletzt solche nationaler Provenienz. Ganz zu schweigen von den inter- und transdisziplinären Chancen, die das räumliche und zeitliche „Dazwischen“ des Meeres eröffnet. Schließlich: Es scheint außer Frage zu stehen, dass die Entdeckung beziehungsweise Wiederentdeckung des Meeres als eines historischen (und historiographischen) Möglichkeitsraums auch mit der wachsenden Einsicht in die Gefährdung, wenn nicht in den Verlust des Meeres einhergeht.

Mobilität, Dynamik, Kommunikation

Obwohl auch die neue historische Meereswissenschaft weiß, was sie an Fernand Braudels erstmals 1949 erschienenem epochalen Mittelmeerbuch hat – „Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.“ –, setzt sie alles in allem doch weniger auf die naturräumlichen Veränderungen langer Dauer als auf die jeweiligen Verbindungen, die das Meer ausmachen und die ein Meer mit anderen Meeren korrespondieren lassen. Verbindungen, die historisch durchaus auch kurze Laufzeiten haben können. Nicht dass dabei die braudelschen Zeitebenen langer und mittlerer Dauer in Vergessenheit geraten wären. Das heutige historische Interesse am Meer aber geht eben in eine andere Richtung. Meer, das ist in den aktuellen Forschungsdiskursen vor allem Bewegung – und damit Begegnung, Beziehung, Netzwerk.

David Abulafia: „Das unendliche Meer“. Die große Weltgeschichte der Ozeane.David Abulafia: „Das unendliche Meer“. Die große Weltgeschichte der Ozeane.

Auch das vorliegende Buch folgt dieser Tendenz. Im Grunde sind Mobilität, Dynamik und Kommunikation seine impliziten Leitbegriffe. 2019 erstmals in Anlehnung an ein Shakespeare-Wort als „The Boundless Sea“ erschienen, bringt der englische Untertitel dieses Programm besser zum Ausdruck als der deutsche: „A Human History of the Oceans“. Der Verfasser, der in Cambridge lehrende Historiker David Abulafia, gliedert sein Buch in fünf Teile, von denen die ersten drei den einzelnen Ozeanen gewidmet sind: dem Pazifik, dem Indischen Ozean und seinen west- und ostasiatischen Nachbarn sowie dem Atlantik. Am Rande nur: Aus historiographischer Perspektive ist diese Reihenfolge eher ungewöhnlich, fand doch der Atlantik deutlich früher die Aufmerksamkeit der historischen Forschung als der Pazifik. Vom Mittelmeer ganz zu schweigen.

Maritime Expansion

In allen drei Teilen geht der Verfasser in prähistorische Zeiten zurück, um sie schließlich jeweils im ausgehenden europäischen Mittelalter enden zu lassen. Während in diesen Teilen die räumlichen Binnenbewegungen und Binnenbeziehungen im Mittelpunkt stehen, die ein Meer zum Meer werden lassen, nimmt der vierte Teil den nachhaltig beschleunigten – und sich qualitativ wie quantitativ erstaunlich rasch intensivierenden – „menschlichen“ Austausch zwischen den Meeren beziehungsweise zwischen den Ozeanen seit der „Entdeckung“ Amerikas durch Kolumbus in den Blick. Die englische Ausgabe spricht von „Oceans in Conversion“.

Der vierte Teil, mit fast vierhundert Seiten der umfänglichste des Buches, lässt in aller Deutlichkeit erkennen, dass die frühe Neuzeit – und nicht nur die europäische frühe Neuzeit – mit ihrem „langen“ achtzehnten Jahrhundert eine durch und durch maritime Epoche war. Hier ist der Verfasser nebenbei bemerkt ganz bei sich. Der fünfte Teil, der vor allem der maritimen Expansion der Industrienationen seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gewidmet ist, hat im Vergleich dazu eher den Charakter eines resignativen Ausblicks, an dessen Ende das Ende des Meeres steht, wie wir es kennen: „Am Beginn des 21. Jahrhunderts hat die maritime Welt der letzten vier Jahrtausende aufgehört zu existieren.“

Ein Bewegungs- und Begegnungsraum

Keine Frage, der Verfasser „bevorzugt“ wie schon in seinem Buch über das Mittelmeer die maritime Vormoderne seit dem späten Mittelalter gegenüber anderen Epochen, vor allem gegenüber der maritimen Moderne. Und keine Frage auch, dass ihm dabei kulturgeschichtliche und kulturanthropologische Fragen näher liegen als ökonomische, ökologische oder landläufig politische. Dennoch muss nachdrücklich betont werden: Es gibt kein Feld, kein Sujet, kein Konzept der neuen historischen Meereswissenschaft, das ihm fremd ist, um welche Epoche, um welche Weltgegend es auch geht. Ein Befund, der auch damit zu tun hat, dass er nicht nur englischsprachige Forschungsliteratur zur Kenntnis nimmt.

Gewiss hat David Abulafia hat ein Buch geschrieben, das mit einigem Recht als theoriefern bezeichnet werden kann, fast möchte man sagen: als selbstbewusst theoriefern; ein Buch, das auf „Meistererzählungen“ (welcher Reichweite auch immer) geradezu demonstrativ verzichtet; ein Buch zudem, das keine „große“ These hat. Und doch ist es mehr als die monumentale – und ganz bewusst offen verstandene – Einladung zu einer lehrreich-unterhaltsamen Lektüre, sehr viel mehr. Indem es dem Verfasser gelingt, die Kapitel seines „großen Textes“ als Studien zu konzipieren, die auf der einen Seite eine gewisse Autonomie beanspruchen dürfen, die auf der anderen aber vielfältig (und in vielen Fällen bis ins Detail) aufeinander bezogen und miteinander verknüpft sind, lässt er sein Buch zu einem dynamischen, regelrecht kaleidoskopischen Bewegungs- und Begegnungsraum sui generis werden.

Da der Verfasser zudem bestimmte Themen wie den Sklavenhandel und den damit verbundenen (europäischen) Gewaltexport immer wieder aufruft, schafft er Leitmotive, die jene Struktur schaffen, ohne die Dynamik nicht möglich ist. In anderen Worten: Wenn das Meer Bewegung und Begegnung ist, dann hat es mit diesem Buch ein zugewandtes, ein wunderbares Gegenüber erhalten.

David Abulafia: „Das unendliche Meer“. Die große Weltgeschichte der Ozeane. Aus dem Englischen von Michael und Laura Su Bischoff. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021. 1132 S., geb., 68,– €.

Mittwoch, 8. Dezember 2021

Die Zombie-Mitte von gestern.

velux

aus Der Standard, Wien, 8. 12. 2021

Welche Bedeutung hat die politische Mitte noch?
In vielen Ländern gibt es eine Art Zombie-Zentrismus. Dieses Überbleibsel aus der Zeit des Kalten Krieges bietet kaum jemandem mehr eine echte politische Orientierung

US-Präsident Joe Bidens ehrgeiziges Infrastruktur- und Sozialprogramm "Build Back Better" wird von zwei regelmäßig als "Zentristen" bezeichneten demokratischen Senatoren – nämlich Kyrsten Sinema aus Arizona und Joe Manchin aus West Virginia – torpediert und behindert. Zahlreiche Beobachter fragen sich, was diese Zuschreibung als Zentristen im Jahr 2021 eigentlich bedeutet. Nicht nur Zyniker vermuten, dass diese beiden Persönlichkeiten weniger zentristisch als vielmehr egozentrisch agieren und nur vom Imperativ der Wiederwahl geleitet sind.

Nach welchen Kriterien sind Zentristen zu beurteilen? Diese Frage ist nicht nur in den Vereinigten Staaten in den Vordergrund gerückt, sondern auch in Frankreich, wo Präsident Emmanuel Macron – der versprach, in der französischen Politik eine neue Mitte aufzubauen – im nächsten Frühjahr seine Wiederwahl anstrebt. Wie im Falle der beiden US-Senatoren betrachten Kritiker Macrons Zentrismus als Deckmantel eines Politikers, der faktisch nach der Pfeife der Rechten tanzt, weswegen die Bezeichnung "der Präsident der Reichen" gerechtfertigt erscheint.

 

 

Die Frage lautet also nicht mehr, ob die politische Mitte halten kann, sondern ob der Zentrismus in der heutigen Politik überhaupt noch irgendeine Bedeutung hat. Der Begriff war im 20. Jahrhundert überaus sinnvoll, also in einer Zeit, die vielfach als Zeitalter ideologischer Extreme verstanden wurde. Die Zugehörigkeit zur politischen Mitte bedeutete, sich im Kampf gegen antidemokratische Parteien und Bewegungen zu engagieren. Aber schon damals wurde selbsternannten Zentristen oftmals Arglist vorgeworfen. Mit der ihm eigenen Ironie zählte sich der Philosoph Isaiah Berlin, ein Liberaler par excellence, zu den "elenden Zentristen, den verachtenswerten Gemäßigten, den kryptoreaktionären skeptischen Intellektuellen".

Während diese früheren selbsternannten Zentristen von den Verdiensten zehrten, die sie sich im Kampf gegen Faschismus und Stalinismus erworben hatten, ist das Vermächtnis der selbstbewusst gemäßigten Politik inzwischen verblasst. In vielen Ländern besteht heute eine Art Zombie-Zentrismus – ein Überbleibsel aus der Zeit des Kalten Krieges, das seinen Anhängern keine echte politische Orientierung mehr bietet.

Spektakulär gescheitert

Die deutschen Christdemokraten bekamen das kürzlich deutlich zu spüren. Bei den Bundestagswahlen im September scheiterten sie spektakulär mit ihrem Versuch, die politische Mitte gegen eine mögliche Koalition aus Sozialdemokraten und der postkommunistischen Linkspartei für sich zu beanspruchen. Die antikommunistische Kampagne der Christdemokraten, die direkt aus den 1950er-Jahren zu stammen schien, war ganz offensichtlich nicht auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ausgerichtet.

Dennoch bestehen weiterhin zwei Formen des Zentrismus, die sich nicht auf den Zombie-Liberalismus des Kalten Krieges zurückführen lassen. Die eine Form ist prozeduraler Natur: In Systemen mit Gewaltenteilung wie in den USA sind die Politiker gezwungen, sich in der Kunst des Kompromisses zu üben; dies umso mehr in einer Zeit, in der klare Mehrheiten in den Parlamentskammern selten geworden sind.

Ein ähnlicher Imperativ gilt für die zunehmend zersplitterten europäischen Parteiensysteme. Im niederländischen Parlament sind derzeit nicht weniger als 17 Parteien vertreten (oder – je nach Zählweise – sogar mehr). Und nach wochenlangen Verhandlungen hat Deutschland eine Regierung, in der Sozialdemokraten und Grüne eine Ampelkoalition mit den wirtschaftsfreundlichen Freien Demokraten bilden.

Nicht auf Kompromisse erpicht

Die Zersplitterung – ob institutionell oder politisch – zwingt Politiker zu einer vom niederländischen Philosophen Frank Ankersmit so bezeichneten "prinzipiellen Prinzipienlosigkeit", um die Demokratie funktionstüchtig zu erhalten. Die meisten Menschen sind schließlich nicht auf Kompromisse um ihrer selbst willen erpicht, weil niemand das Zweitbeste dem Besten vorzieht.

Die Ausnahmen bilden diejenigen, die die zweite plausible Form des Zentrismus, den positionellen Zentrismus, vertreten. Da sie Äquidistanz zwischen den politischen Polen als Beweis für ihren Pragmatismus und ihre "ideologiefreie" Ausrichtung ansehen, versuchen positionelle Zentristen oftmals von der Wertschätzung zu profitieren, die der Überparteilichkeit (insbesondere in den USA) immer noch beigemessen wird. Sie ziehen einen Nutzen daraus, vernünftig zu erscheinen, wenn die Linke und die Rechte von Scharfmachern beherrscht werden. In seinem ersten Wahlkampf hob Macron immer wieder die Radikalität seiner Gegner – der rechtsextremen Marine Le Pen und des linksextremen Jean-Luc Mélenchon – hervor, um vor Augen zu führen, dass er allein eine verantwortungsvolle Position vertritt.

Nicht automatisch demokratisch

Unter Berufung auf die – unter Antikommunisten während des Kalten Krieges überaus beliebte – "Hufeisentheorie" unterstellen Zentristen auch oft, dass Links- und Rechtspopulismus letztlich auf denselben antiliberalen Endpunkt zulaufen. Doch ebenso wie die Theoretiker des Dritten Weges in den 1990er-Jahren behaupteten auch Macrons Gefolgsleute, dass es sich bei "links" und "rechts" um überholte Bezeichnungen handle. Das ermöglichte ihnen nämlich, auch ehemalige Sozialisten und Gaullisten in ihre Bewegung aufzunehmen.

Aber Zentrismus ist nicht automatisch demokratisch. Macron, den man als "liberalen starken Mann" titulierte ist ein typisches Beispiel dafür. Seine Weder-links-noch-rechts-Haltung impliziert eine rein technokratische Form der Regierung. Man geht davon aus, dass es auf jede politische Herausforderung stets eine eindeutig rationale Antwort gibt. Kritiker können so per Definition als irrational abgetan werden. Wie Macron bei der Revolte der Gelbwesten im Jahr 2018 feststellte, kann die mit diesem Ansatz einhergehende Verweigerung des demokratischen Pluralismus heftige Gegenreaktionen hervorrufen.

Politische Polarisierung

Sowohl der prozedurale als auch der positionale Zentrismus setzen eine gut funktionierende Demokratie voraus, und beide können gefährlich werden, wenn ein Land unter einer asymmetrischen politischen Polarisierung leidet. So präsentiert sich die Situation heute in den USA, wo die Republikanische Partei grundlegende Merkmale der Demokratie nicht mehr anerkennt. Die Republikaner von heute sind mit einem riesigen Projekt, bestehend aus Wahlkreisschiebungen, Wählerunterdrückung, der Aushöhlung des allgemeinen Vertrauens in Wahlen und der Behinderung der Gesetzgebung, beschäftigt und zeigen kein Interesse an Kompromissen. Nun, da Biden im Weißen Haus waltet, folgt Mitch McConnell – Minderheitsführer im Senat und Donald Trumps widerwilliger, aber trotzdem verlässlicher Ermöglicher – demselben Schema, das er während der Präsidentschaft von Barack Obama perfektioniert hat.

Prozeduraler Zentrismus ergibt keinen Sinn, wenn die politischen Gegner die Verfahren nicht mehr respektieren, wie es jetzt bei den Republikanern der Fall ist. Für den positionellen Zentrismus präsentiert sich die Situation jedoch noch schlimmer. Wenn eine Partei die Demokratie ablehnt, bedeutet Äquidistanz Mittäterschaft. Wenn Sinema und Manchin keine über Zombie-Zentrismus, prozeduralen oder positionellen Zentrismus hinausgehende Erklärung zu ihrem Verhalten anzubieten haben, könnten sie sogar von ihren eigenen Wählern dafür bestraft werden, dass sie politische Initiativen behindern, die in Wirklichkeit überaus populär sind. (Jan-Werner Müller, Übersetzung: Helga Klinger-Groier, Copyright: Project Syndicate, 8.12.2021)

Jan-Werner Müller ist Professor für Politikwissenschaften an der Universität Princeton und Fellow am New Institute in Hamburg. Sein jüngstes Buch trägt den Titel "Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit. Wie schafft man Demokratie?".

 

Nota. - Unter Mitte wurde rund zwei Jahrhunderte lang, vom Juste milieu des Bürgerkönigs über Kaiser Willems Fraktion Drehscheibe bis zum westdeutschen Restliberalismus, eine po-litische - ja sollte ich sagen: "Kraft"? Na schön, Saugkraft ist auch eine Kraft - Kraft verstan-den, die parasitär von der gegenseitigen Blockade der äußersten Flügel zehrte. Die wurde im breiten Volk immer verachtet, und die erste katholische Volkspartei in Deuschland nannte sich wohlweislich nicht Mitte, sondern Zentrum. 

In einer Zeit, in der die politischen Flügel nur noch rivalisierende Apparate und durchaus keine alternativen Gesellschaftsentwürfe mehr repräsentieren, ist sie nun auch arithmetisch ganz überflüssig. Stattdessen macht sich bedrohlich der Mangel an einer Kraft fühlbar, die aus einer im Großen Ganzen gar nicht mehr strittigen Gesellschaftsprognose einen Mainstream formt, der die Nachzügler auf beiden Flügeln an der Rand drückt, an den sie gehören, und die vorwärtsdrängenden Kräfte in Konkurrenz zu einander führt.

JE

Montag, 6. Dezember 2021

Da kommt was auf uns zu!

Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping.
aus Tagesspiegel.de, 6. 12. 2021 

China-Politik der künftigen Bundesregierung  
Warum Scholz eine geheime Botschaft an Chinas Staatschef richtete 
Der künftige Kanzler ließ Chinas Staatschef Xi ausrichten, er werde den bisherigen Kurs gegenüber Peking fortsetzen - obwohl Grüne und FDP das nicht wollen. 

von

Die Bundestagswahl war noch keinen Monat vorbei, da erhielt Chinas Staatschef Xi Jinping bereits eine Botschaft des künftigen Kanzlers Olaf Scholz (SPD). Als Überbringer der Nach-richt diente der EU-Ratspräsident Charles Michel, der Mitte Oktober mit Xi telefonierte, um über den nächsten Gipfel zwischen der Europäischen Union und China zu reden.

Michel habe dem chinesischen Staatschef die Botschaft überbracht, dass Scholz die China-Politik von Angela Merkel fortsetzen wolle, berichtete die „Wirtschaftswoche“ unter Berufung auf einen EU-Diplomaten.

Außerdem ließ Scholz ausrichten, er werde seine beiden künftigen Koalitionspartner, die Grünen und die FDP, in Schach halten. Damit droht der neuen Regierung der erste Streit um die Außenpolitik.

Zum Zeitpunkt des Gesprächs von Michel und Xi hatten die Koalitionsverhandlungen in Berlin noch gar nicht begonnen. Doch schon damals war klar, dass sich sowohl Grüne als auch FDP für einen Kurswechsel gegenüber Peking aussprechen würden.

Tatsächlich setzten die beiden Parteien gegenüber der SPD sehr deutliche Worte im Koali-tionsvertrag durch: „Wir streben eine enge transatlantische Abstimmung in der China-Politik an und suchen die Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Ländern, um strategische Abhängig-keiten zu reduzieren“, heißt es im Koalitionsvertrag.

Um in der „systemischen Rivalität mit China unsere Werte und Interessen verwirklichen zu können“, brauche Deutschland eine umfassende China-Strategie. Das wäre eine deutliche Abkehr vom pragmatischen Kurs der Ära Merkel.

Koalitionsvertrag spricht heikle Themen an

Zudem spricht der Koalitionsvertrag Themen direkt an, die Peking stets als Einmischung in innere Angelegenheiten versteht: „Im Rahmen der Ein-China-Politik der EU unterstützen wir die sachbezogene Teilnahme des demokratischen Taiwan in internationalen Organisationen. Wir thematisieren klar Chinas Menschenrechtsverletzungen, besonders in Xinjiang.“

Außerdem fordert die neue Koalition indirekt mehr Autonomie für Hongkong. Allein die Tatsache, dass Taiwan und die Provinz Xinjiang im Koalitionsvertrag überhaupt erwähnt werden, setzt einen neuen Ton in den Beziehungen zu China. Zu Taiwan unterhält Deutsch-land keine diplomatischen Beziehungen - aus Rücksicht auf die von der Führung in Peking geforderte Ein-China-Politik. Doch in der Ankündigung im Koalitionsvertrag könnte die Volksrepublik eine Aufwertung Taiwans sehen.

Dass die neue Regierung die Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang explizit anspricht, dürfte Peking ebenfalls verärgern. In der mehrheitlich von der muslimischen Minderheit der Uiguren bewohnten Region sind mehr als eine Million Menschen in Lagern interniert.

Als sich der Menschenrechtsausschuss des Bundestages im vergangenen Jahr mit der Lage in Xinjiang beschäftigte, reagierte die chinesische Botschaft in scharfer Form. Pekings Diploma-ten sprachen in einer Erklärung von „Verleumdung“ und „ideologischen Vorurteilen“ und warnten die Parlamentarier vor einer Einmischung.

„Deutschland muss Abhängigkeiten von China überprüfen“

Mit seiner Intervention noch vor der Regierungsbildung machte Scholz der chinesischen Führung nicht nur klar, dass er den Kurs seiner Amtsvorgängerin beibehalten will, sondern auch, dass er diesen Kurs ungeachtet der Positionen der kleineren Koalitionspartner durch-setzen will. „Bereits in den vergangenen Jahren ist die China-Politik der Bundesregierung im Kanzleramt bestimmt worden“, sagt Mareike Ohlberg, China-Expertin beim German Marshall Fund.

Allerdings gab es in der großen Koalition keinen grundsätzlichen Dissens in der Frage des Umgangs mit China. Dagegen hat sich die künftige Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) für einen härteren Kurs gegenüber Peking ausgesprochen, was ihr umgehend offene Kritik aus der Botschaft in Berlin einbrachte. Die chinesische Führung werde nun darauf setzen, dass sich Baerbock und das Auswärtige Amt zurückhalten müssten, sagt Ohlberg.

Eine Fortsetzung von Merkels Politik gegenüber China sei allerdings nicht mehr zeitgemäß, warnt die Expertin. „Selbst Teile der deutschen Wirtschaft dringen mittlerweile auf einen härteren Kurs.“ Die größte Herausforderung für die neue Bundesregierung sei es, „Deutsch-lands Abhängigkeiten von China zu überprüfen und graduell abzubauen, um sich weniger angreifbar zu machen“. Außerdem müsse Deutschland auf europäischer Ebene eine Antwort darauf finden, dass China gegen einzelne EU-Staaten wie derzeit gegen Litauen vorgehe.

 

Nota. - Eine noch so geschickte Europapolitik ist nichts wert ohne den weltpolitischen Rah-men, in den sie gehört. Da hätte Angela Merkel einen besseren Außenminister gebrauchen können als den reisenden Maaßanzug. Doch dass Frau Baerbock genügend Gewicht auf die Waage bringt, um Olaf Scholz den Horizont zu weiten, muss man leider bezweifeln.

JE

 

 

Freitag, 3. Dezember 2021

Zähne zusammenbeißen.


Der ist sicher nicht der schlechteste, den man sich für Deutschland denken kann. Aber er gehört zu der Sie-wissen-schon-Partei. Selbst das ginge noch schlechter, es reicht auch so.

Der Anfang ist erwartungsgemäß stolprig. Als Angela Merkel von sechzehn Jahren anfing, hat ihr keiner viel zugetraut. Da konnte sie nicht viel falsch machen. Doch nach ihrer Vorgabe sind die Erwartungen nun hoch. Es sieht nicht so aus, als könnten die Neuen dem gerecht werden.

Ich habe sie mir nicht gewünscht, aber dass sie die Karre in den Dreck reiten, kann ich mir schon gar nicht wünschen. 


Au weia.

Zuhaus hat sie sich reichlich blamiert. Blamiert sie sich im Amt, blamiert sie uns in der Welt. Einen Schleudersitz hat sie keinen.

 

 

 

 

Mittwoch, 1. Dezember 2021

Eine große Kanzlerschaft -


- so titelt heute die Frankfurter Allgemeine; natürlich nicht ohne das obligate ?ragezeichen. Das lasse ich weg: Keiner hätte sich vor sechzehnt Jahren träumen lassen, dass Deutschland unter Angela Merkel an der Spitze Europas eine Weltmacht werden könnte. Eine Weltmacht, der man zumutet - und zutraut -, an der Stelle Amerikas die Führung des Westens zu über-nehmen.

Dies Kapital auszubauen hat sie nicht mehr geschafft, und angesichts ständiger Sabotage aus den eigenen Reihen wohl auch nicht mehr versucht. 

Und alle deutsche Regierungen nach ihr sind daran zu messen, was sie aus dierer ihre Erb-schaft zu machen verstehen. Bewahren ist das mindeste, was man verlangen darf. Doch schon das könnte versiebt werden.



Sonntag, 28. November 2021

Seuchenschutz mit Augenmaß.

Wenn in einem Landkreis die Schweinepest auftritt, werden die Bestände flächendeckend gekeult.

Das ist ein schwerer Schlag für die Züchter. Aber dass dadurch die Verfassung oder die Grundrechte beschädigt würden, ist noch nicht behaupet worden.

Bei Covid-19 wurde das bislang gar nicht in Vorschlag gebracht, doch schon ist das Geschrei groß. 


Nota - Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Ihre Nachricht auf diesem Blog. JE

Das Überleben des Rechtsstaats.

123rf

Die Überlebensfrage des Rechtsstaats lautet, ob Recht gilt, stimmts?                                         Dabei ist es dasselbe, ob kein Recht gilt, oder ob Recht nicht gilt.                                           Auch das stimmt. 

 

 

Donnerstag, 25. November 2021

Eine erste 'hydraulische Gesellschaft' im China der Jungsteinzeit.

aus derStandard.at, 25. 11. 2021                                                                © Xu Yu / Xinhua News Agency / picture alliance (Ausschnitt)

Chinas "Venedig der Steinzeit" wurde von Monsunregen zerstört
Ein archäologisches Forschungsteam fand in Tropfsteinen Hinweise darauf, dass die Hochkultur starken Niederschlägen und Überflutungen nicht standhielt

Während im heutigen Zentraleuropa vor etwa 5.300 Jahren Ötzi über die Berge zog, entstand tausende Kilometer weiter östlich eine beeindruckende Stadt: Liangzhu läge heute im Südosten Chinas und entwickelte schon damals eine komplexe Wasserversorgung mit Kanälen und Reservoirs, deren Ausmaß vor vier Jahren bekannt wurde. Eine der fortschrittlichsten Kulturen dieser Zeit also.

Ein Forschungsteam mit Innsbrucker Beteiligung berichtet nach der Analyse von Tropfsteinen nun im Fachblatt "Science Advances" über den Grund für den Untergang der Stadt, die auch als Chinas "Venedig der Steinzeit" bezeichnet wird: Klimaänderungen mit starken Monsunregen ließen die Hochkultur zugrunde gehen.

Die 160 Kilometer südwestlich von Schanghai gelegenen Ruinen von Liangzhu im Jangtse-Delta wurden erstmals 1936 entdeckt und ab den 1970er-Jahren systematisch ausgegraben. Dabei wurden unter anderem tausende kunstvoll gearbeitete Grabbeigaben aus Jade gefunden. Das Besondere an der Liangzhu-Kultur sind aber die immensen Wasserbauanlagen, die schon im späten Neolithikum, in der Jungsteinzeit, errichtet wurden.

Starke Schwankungen

Liangzhu liegt in einer Region mit starken Niederschlagsschwankungen, wo Überschwemmungen üblicherweise im Juni auftreten, gefolgt von trockenen und heißen Sommermonaten, schreibt die Forschungsgruppe um Haiwei Zhang von der Xi'an-Jiaotong-Universität in der Arbeit. Ihnen zufolge wurde vor 5.300 bis 4.700 Jahren ein komplexes System an schiffbaren Kanälen, Dämmen und Wasserreservoirs errichtet, um große landwirtschaftliche Nutzflächen ganzjährig bewirtschaften zu können. Die 2019 von der Unesco in die Liste der Welterbestätten aufgenommene archäologische Stätte gilt als eines der ersten Beispiele für ein hochentwickeltes Gemeinwesen basierend auf einer Wasserinfrastruktur. Daher rührt auch der Vergleich mit Venedig.

Fast eintausend Jahre lang war die Stadt bewohnt, ehe die Hochkultur vor etwa 4.300 Jahren ein abruptes Ende fand. Die Ursachen dafür waren bisher umstritten. "Auf den erhaltenen Überresten wurde eine dünne Lehmschicht nachgewiesen, die auf einen möglichen Zusammenhang des Untergangs der Hochkultur mit Überschwemmungen des Jangtse oder Fluten vom Ostchinesischen Meer hinweist", erklärt Christoph Spötl vom Institut für Geologie der Universität Innsbruck in einer Aussendung.

Aus dieser Schicht allein seien allerdings keine eindeutigen Rückschlüsse auf die Ursache möglich. Und Hinweise auf kriegerische Auseinandersetzungen oder andere menschliche Auslöser seien auch nicht entdeckt worden.

Klimaarchiv Tropfstein

Um einer möglichen klimatischen Ursache des Niedergangs der Liangzhu-Kultur auf den Grund zu gehen, untersuchte das Forschungsteam Tropfsteine. Sie zählen zu den wichtigsten Klimaarchiven, denn die Stalaktiten und Stalagmiten wachsen über Jahrtausende in Höhlen und schließen dabei verschiedene Elemente wie Kohlenstoff, Sauerstoff oder Uran ein. Damit zeichnen sie die Klima- und Umweltbedingungen sowie deren Veränderungen auf. Mithilfe geochemischer Untersuchungen können Forschende diese Informationen auslesen. So lassen sich die klimatischen Verhältnisse oberhalb der Höhlen rekonstruieren – eine Reise in die Vergangenheit, die mehrere 100.000 Jahre zurückliegen kann.

In der beeindruckend beleuchteten Shennong-Höhle befinden sich Tropfsteine, die Rückschlüsse auf die Klimageschichte rund um die einstige Stadt Liangzhu zulassen. Sie wurden von Haiwei Zhang und seinem Team analysiert.

Haiwei Zhang, der 2017 an der Uni Innsbruck als Gastwissenschafter tätig war, entnahm aus den beiden südwestlich der Ausgrabungsstätte liegenden Höhlen Shennong und Jiulong Proben von Stalagmiten. "Diese Höhlen befinden sich im gleichen Einflussgebiet des südostasiatischen Monsuns wie das Jangtse-Delta und erlauben uns mit ihren Tropfsteinen einen exakten Blick in die Zeit des Zusammenbruchs der Liangzhu-Kultur", sagt Spötl.

Überflutungen am langen Fluss

Die Analysen der Isotopenwerte des Kohlenstoffs in den Tropfsteinen an der Uni Innsbruck sowie Uran-Thorium-Analysen an der Xi'an-Jiaotong-Universität zeigten: Zwischen 4.345 und 4.324 Jahren vor heute trat eine extrem niederschlagreiche Klimaphase auf. So alt ist auch die in der Region gefundene dünne Schlammschicht.

"Die massiven Monsunregen dürften zu so starken Überflutungen des Jangtse und seiner Seitenarme geführt haben, dass selbst die hochentwickelten Dämme und Kanäle diesen Wassermassen nicht mehr standhielten, die Liangzhu-Stadt zerstörten und den Menschen nur die Flucht blieb", sagt Spötl. Diese sehr feuchten Klimabedingungen blieben mit Unterbrechungen weitere 300 Jahre bestehen.

Untergang und Gründung

Der Untergang anderer neolithischer Kulturen im Jangtse-Delta fiel dann mit einer ausgedehnten Dürreperiode zusammen, die vor rund 4.000 Jahren begann. In dieser Zeit kam es weiter im Norden auch zur Gründung der Xia-Dynastie vor etwa 4.020 Jahren, die als erste Dynastie Chinas gilt.

Die Forschungsgruppe vermutet, dass die hydroklimatischen Veränderungen vor 4.300 bis 3.000 Jahren auf Schwankungen der sogenannten El Niño-Southern Oscillation zurückgehen. Durch schwächere sommerliche Sonneneinstrahlung auf der Nordhalbkugel könnte sich dieses gekoppelte Zirkulationssystem von Erdatmosphäre und Meeresströmung im Pazifik verändert haben, lautet die Vermutung. (APA, red)

Studie

Science Advances: "Collapse of the Liangzhu and other Neolithic cultures in the lower Yangtze region in response to climate change"

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aus spektrum.de, 16. 12. 2020                                      Perlen aus Jade, Neophrit u. a.

Chinas Venedig der Steinzeit
Unweit von Schanghai liegt Liangzhu. Vor rund 5300 Jahren errichteten Menschen dort eine ummauerte Stadt, die über ein komplexes System aus Dämmen und Kanälen schiffbar war. Ein Paukenschlag in der weltweiten Zivilisationsgeschichte.

von David Robson

Vor rund 5300 Jahren erhob sich aus dem Delta des unteren Jangtse eine blühende Metropole. Die Menschen konnten die Stadt zu Fuß betreten. Eine Straße führte durch die hoch aufragenden Mauern. Die meisten Bewohner fuhren aber wohl eher mit dem Boot. Denn um die Stadt erstreckte sich ein weit verzweigtes Netz von Kanälen, über das die Bewohner bis ins Zentrum der Metropole gelangen konnten. Dort ragte bis zu 15 Meter hoch eine Plattform auf, die auf einer Fläche von 630 mal 450 Metern aus Erde aufgeschüttet worden war. Obenauf stand ein ausgedehnter palastartiger Komplex samt großen Kornspeichern. Zwischen Plattform und Stadtmauern lagen Nekropolen mit reich ausgestatteten Gräbern. Die Wasserwege jenseits der Umwehrung ließen sich durch eine Reihe gewaltiger Dämme und Speicherseen regulieren.

Die Stadt, die heute unter dem Namen Liangzhu bekannt ist, war fast 1000 Jahre lang bewohnt. Ihre Kultur bestimmte auch das Leben in der umliegenden Region, die regelmäßig vom Fluss überschwemmt wurde. Mehr als 100 Kilometer entfernt von der Stadt entdeckten Forscher noch ähnliche Funde wie in Liangzhu. Die Ausgräber fanden auch heraus, dass die Stadt um 2300 v. Chr. untergegangen war – und danach in Vergessenheit geriet. Erst in den letzten zehn Jahren kamen Archäologen dem wahren Ausmaß der frühen Metropole auf die Spur.

Ihre Forschungen zeigen: Liangzhu war eine staatlich organisierte Gesellschaft, offenbar die bislang älteste bekannte ihrer Art in Ostasien. »Meiner Ansicht nach gibt es weltweit nichts Vergleichbares, das so früh datiert und hinsichtlich der Wasserbewirtschaftung – oder überhaupt hinsichtlich irgendeiner Art von Bewirtschaftung – derart monumental angelegt ist«, sagt Vernon Scarborough von der University of Cincinnati in Ohio. Frühe Zivilisationen entstanden demnach nicht allein im alten Ägypten oder Mesopotamien. Auch im fernen Osten blühte um 3300 v. Chr. eine hoch technisierte Kultur auf. Das heißt: Die Idee der Zivilisation erblickte mehrfach das Licht der Welt.

Gräber mit kostbaren Jadeobjekten

Die ersten Hinweise auf eine prähistorische Kultur im Jangtse-Delta entdeckte 1936 Shi Xingeng. Der Forscher, der im West Lake Museum von Hangzhou arbeitete, benannte die Stätte nach der nahe gelegenen Stadt Liangzhu. Shi hatte vor allem Überreste einer eher unscheinbaren schwarzen Keramikware gefunden. Erst in den 1970er und 1980er Jahren erregte Liangzhu große Aufmerksamkeit, als die Nekropolen im Umfeld der alten Stadt frei gelegt wurden.

In den meisten Gräbern lagen zwar kaum Beigaben, doch einige wenige Bestattungen enthielten hunderte kunstvolle Gegenstände aus Jade – darunter die frühesten Beispiele der für Chinas alte Kulturen so typischen Cong-Röhren sowie so genannte Bi-Scheiben. Das sind dünne, in der Mitte durchlochte Steindisken. Auf vielen dieser Stücke ist die Figur eines Mannes dargestellt, der einen üppigen, mit Federn verzierten Kopfschmuck trägt. Er reitet auf einem Ungeheuer mit riesigen Kulleraugen und gebleckten Zähnen. Gut möglich, dass die beiden Mythengestalten oder im Kult bedeutsame Figuren waren. Jedenfalls tauchen der Furcht erregende Reiter und sein Tier noch auf weiteren Grabbeigaben auf, wie Ritualäxten, Anhängern und Ziertäfelchen für Kopfbedeckungen.


Cong-Röhre | In einer Nekropole von Liangzhu stießen die Archäologen auf reich ausgestattete Gräber. Elf davon enthielten insgesamt 3000 Objekte aus Jade, darunter diese neun Zentimeter hohe Cong-Röhre. Darauf ist mehrfach ein Reiter mit Federputz abgebildet, der auf einem Ungeheuer mit Kulleraugen und gebleckten Zähnen sitzt.

Bislang hielten Forscher derartige Objekte für Zeugnisse späterer Kulturen. So hätten frühestens Angehörige der Zhou-Dynastie, ab 1046 v. Chr., Kunstwerke aus Jade gefertigt. Doch nun lagen solche Stücke in einer 5000 Jahre alten, neolithischen Nekropole. Es war ein erster Fingerzeig, dass Liangzhu möglicherweise eine hierarchisch strukturierte Gesellschaft beherbergt hatte, deren Handwerker kunstvolle Artefakte fertigten und deren Elite wohlhabend genug war, sich solch kostbare Stücke zu leisten.

Die Entdeckungen gaben Anlass für weitere Grabungen. Zwischen 1987 und 1993 fanden die Forscher die künstlich angelegte Erhebung im Herzen der Stadt. Sie bedeckt eine Fläche von fast 300 000 Quadratmetern. Die Menschen von Liangzhu hatten darauf aus Holz und Bambus einen großen Baukomplex errichtet, den die Ausgräber als Mojiaoshan bezeichneten. Anschließend kamen die Reste von Stadtmauern ans Licht: mehr als 20 Meter breit, noch 4 Meter hoch anstehend und umgeben von Wassergräben. Ähnlich einem Quadrat mit abgerundeten Ecken umfassten die Mauern aus Erde eine Fläche von 1900 mal 1700 Metern. Und offensichtlich hatten die Einwohner Nahrung im Überfluss: Neben der großen Plattform stießen die Ausgräber auf eine Grube mit ungefähr 13 000 Kilogramm verkohltem Reis. Womöglich, so vermuten die Archäologen, war das Getreide in einem der Kornspeicher auf Mojiaoshan verbrannt und dann nahebei in der Grube verscharrt worden.

Ein gigantisches System aus Dämmen und Kanälen

Zuletzt 2016 und 2017 erschienen jeweils in »Chinese Archaeology« und »PNAS« wissenschaftliche Studien, die es in sich hatten: Forscher um Liu Bin vom Zhejiang Provincial Institute of Cultural Relics and Archaeology in Hangzhou hatten erstmals die monumentalen wasserbaulichen Maßnahmen der Liangzhu-Kultur kartiert. Sie werteten Satellitenbilder aus, nahmen Bohrkerne und legten bei weiteren Grabungen westlich der Stadt eine Reihe niedrig gebauter Dämme frei. Um das Überflutungsgeschehen in der Ebene zu regulieren, waren dort unterschiedlich lange Sperrbauten auf dem nassen Untergrund angelegt worden – der mit Abstand größte misst 5 Kilometer in der Länge und 50 Meter in der Breite. Arbeiter hatten dafür unzählige mit Stroh umwickelte »Sandsäcke« aufgeschichtet, deren Struktur sich noch heute im Erdreich abzeichnet. Überdies hatten die Erbauer flussaufwärts fünf höhere Dämme angelegt: Zwischen 50 und 200 Meter lang ragen sie teils noch 10 Meter hoch auf. Hinter den Dämmen sammelte sich einst das aus dem Gebirge abfließende Wasser in riesigen Speicherseen. Mit Hilfe der Sperrbauten ließ sich der Wasserhaushalt auf einer Fläche von mehr als 10 000 Hektar kontrollieren, fast 6,5 Milliarden Kubikmeter Wasser wurden gebändigt. C-14-Datierungen sowie eine stilistische Analyse von Jadeobjekten, die in der Nähe der Deiche zu Tage kamen, ergaben: Einige Dämme standen bereits vor 5200 Jahren, also zur Zeit von Liangzhu. Und mancher Deich überdauerte die Jahrtausende bis heute: Der Qiuwu-Damm etwa ist noch immer in Betrieb.

Die Stauseen sicherten die Bewässerung der Reisfelder. Ebenso hielten sie Überschwemmungen zurück. Sie speisten zudem 51 Wasserwege, die das Gebiet um Liangzhu vernetzten. Dabei handelte es sich teils um natürliche Flussläufe, teils um Kanäle, die zusammengenommen eine Länge von ungefähr 30 Kilometern ergaben. »Der Austausch muss größtenteils per Boot erfolgt sein – es war eine Stadt der Kanäle ebenso wie der Straßen«, schreiben Colin Renfrew von der University Cambridge und Liu Bin 2018 in »Antiquity«. Vielleicht am ehesten vergleichbar ist Liangzhu mit dem mittelalterlichen Venedig oder den berühmten »Wasserstädten« in der Nähe von Schanghai, die jedoch einige tausend Jahre später entstanden sind.

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Über das Kanalsystem schaffte man auch Baumaterialien wie Holz und Stein in die Stadt. Das belegen petrologische Untersuchungen. Die Fundamente der Stadtbefestigung fußten nämlich auf Steinmaterial, das aus dem nördlich gelegenen Gebirge stammte. Per Boot brachte man die unbehauenen Bruchsteine nach Liangzhu. Im Mauerring der Stadt gab es acht Wasserpforten, durch die Boote einfahren konnten.

Anbruch einer neuen Epoche

Während die Forschungen in Liangzhu weitergehen, deuten Entdeckungen anderswo in China darauf hin, dass das »Venedig« im Jangtse-Delta das Phänomen einer sozialen und kulturellen Umbruchzeit war. Erst im Jahr 2019 legten chinesische Archäologen dar, dass vor mehr als 5000 Jahren ein Wandel einsetzte: Im Gebiet des unteren und mittleren Jangtse – in der heutigen Provinz Sichuan – sowie entlang des unteren Gelben Flusses entstanden zahlreiche Siedlungen. Einige, darunter Shijiahe im mittleren Jangtse, waren so groß, dass nur gut organisierte Arbeiterschaften in der Lage gewesen sein können, die Gräben und Mauern anzulegen. »Liangzhu ist mit Abstand das größte Beispiel, aber es gibt noch andere umwehrte Stadtzentren«, sagt die Sinologin und Archäologin Jessica Rawson von der University of Oxford. »Die Handwerkskunst war in mehreren Regionen Chinas bereits sehr fortgeschritten, nicht nur für das Material Jade, sondern auch bei verschiedenen Keramiken.« Einige dieser Stätten standen miteinander in Kontakt, wobei die größeren Siedlungen vermutlich als lokale Machtzentren fungierten. Zeugnisse von Liangzhus Kultur etwa fanden sich in Gegenden mehr als 100 Kilometer von der Stadt entfernt.

All diese Funde liefern ein völlig anderes Bild, als es Forscher bisher von Chinas Geschichte gezeichnet haben. Einigermaßen sicher ist: Erstmals vor etwa 10 000 Jahren tauchten kleine Gemeinschaften von Reisbauern auf. Doch bis vor Kurzem ging man davon aus, dass die erste frühstaatliche Gesellschaft in China, die auf einer hierarchisierten Gesellschaft beruhte, erst vor 3600 Jahren mit dem Aufstieg der Shang-Dynastie in der Zentralchinesischen Ebene entstand. Das weit im Südosten gelegene Liangzhu weist aber bereits viele Merkmale einer staatlich organisierten Gesellschaft auf, die sich dann etwa 1700 Jahre früher formiert hätte als bislang angenommen. Nach Ansicht von Colin Renfrew und Liu Bin ist genau das der Fall gewesen.

© Spektrum der Wissenschaft, nach Renfrew, C., Liu, B.: The emergence of complex society in China: the case of Liangzhu. Antiquity 92, 2018, fig. 1+2 (Ausschnitt)
Venedig des Fernen Ostens | Liangzhu liegt ungefähr 160 Kilometer westlich von Schanghai. Die Metropole war zirka 300 Hektar groß. Im Umfeld der Stadt, die über acht Wasserpforten befahren werden konnte, entdeckten Archäologen zwei Cluster von Dämmen – niedrig und hoch gebaute Deiche.

Dass Liangzhu eine Hochkultur beherbergte, schließen sie aus drei Erkenntnissen:

  • Der Bevölkerungsgröße: Lius Team schätzt, dass einst zwischen 22 900 und 34 500 Menschen die Stadt bewohnten. Das war um ein Vielfaches mehr, als für jede andere frühe Gemeinschaft in China nachgewiesen ist.
  • Sehr wahrscheinlich war die Gesellschaft von Liangzhu stark hierarchisch gegliedert. Das folgern die Wissenschaftler aus dem großen Gefälle zwischen den wenigen sehr reich ausgestatteten und den vielen ärmlich bedachten Gräbern.
  • Schließlich gibt es einige monumentale Bauten: die Stadtmauern, die Mojiaoshan-Plattform mit dem Palastkomplex und das System aus Dämmen. Die Gemeinschaft, genauer gesagt, die Elite war also in der Lage, derartige Baumaßnahmen zu organisieren, zu verwalten und durchzuführen.

Dabei sei besonders beeindruckend, dass die Menschen von Liangzhu all das ohne Lasttiere wie Pferde, Esel oder Ochsen errichteten, betont Jessica Rawson. »Alles war von menschlicher Arbeit abhängig«, sagt sie. »Und entscheidend dabei war, diese Arbeitskräfte zu organisieren.« Denn für die Baumaßnahmen mussten Bauern von der Feldarbeit freigestellt werden können. Das Team um Liu hat berechnet, dass allein für die Dämme von Liangzhu rund 2,9 Millionen Kubikmeter Erde bewegt wurden. 3000 Arbeiter hätten dafür schätzungsweise acht Jahre gebraucht. »Ohne Planung wäre so ein Wasserbauprojekt nicht realisierbar gewesen«, ist Rawson überzeugt. Außerdem: »Eine kleine Gruppe von Menschen wäre dazu nicht in der Lage gewesen – das war Management im großen Stil.«

Hochkultur ohne Schrift?

Weltweit kennen Archäologen kaum eine Hochkultur, die im 4. Jahrtausend v. Chr. vergleichbare Wasserbauwerke wie in Liangzhu verwirklicht hat. Wer aber die Wiege der Zivilisation sucht, blickt meist in den Vorderen Orient. Dort hatten sich zur selben Zeit einige städtische Gesellschaften herausgebildet, etwa Tell Brak in Syrien oder Uruk am Euphrat im heutigen Irak. Auch diese Städte florierten dank eines fortschrittlichen Wassermanagements. Doch in Größe und Komplexität haben die Menschen von Liangzhu deutlich mehr Aufwand getrieben. Liu und Renfrew sind überzeugt davon, dass die Staudämme von Liangzhu »womöglich weltweit die frühesten gemeinschaftlich errichteten Bauwerke in dieser Größenordnung sind«. Vernon Scarborough stimmt zu. Der Archäologe von der University of Cincinnati besuchte die Stätte 2017 und war überrascht, wie stark die Bewohner von Liangzhu in ihre Umwelt eingegriffen hatten. »Es gibt keine andere derart wasserbaulich veränderte Landschaft, die ebenso alt ist.«

Eine Sache allerdings fehlt bisher in Liangzhu: Die Archäologen haben noch keine eindeutigen Belege für eine Schrift gefunden. Und ohne Schrift, so die verbreitete Forschungsmeinung, könne sich kein Staat herausbilden. Möglicherweise sind aber einige Bilder, die Keramik- und Jadeobjekte zieren, nicht als reiner Dekor zu verstehen. Zhang Chunfeng von der Pädagogischen Universität Ostchina in Schanghai ist sich sicher, dass ein Teil der Symbole Schriftzeichen waren. Bisher sind 656 Symbole bekannt, von denen einige immer gleich arrangiert sind. Sie prangen etwa auf Gefäßen und dabei stets an derselben Stelle, etwa auf dem Fuß oder an der Mündung. Zhang folgert nun daraus, dass sie vielleicht wie ein Etikett Auskunft über den Inhalt gaben. Die Sprachforscherin fand auch heraus, dass einige Zeichen nach bestimmten Regeln verändert wurden, um ihnen womöglich eine neue Bedeutung zu verleihen. Beispielsweise wurden Striche hinzugefügt oder Motive anders miteinander kombiniert – aber eben nicht willkürlich, sondern regelhaft. War in Liangzhu also ein Schriftsystem im Entstehen gewesen? »Einige Symbole waren vermutlich nur dekorativ, manche besaßen eine bestimmte Bedeutung, und für den Rest ist es schwierig, ihre genaue Funktion zu bestimmen«, sagt die Forscherin. Sicher sein könne man nur, meint Zhang, wenn eine Art Rosetta-Stein für die Symbole von Liangzhu vorliegen würde.


Bi-Scheibe aus Jade | Typisch für die alten Kulturen Chinas sind Bi-Scheiben. Dabei handelt es sich um dünne Steindisken, die in der Mitte durchlocht sind. Dieses Stück stammt aus Liangzhu.

Die Archäologen um Liu Bin haben genügend Daten über die Frühzeitmetropole gesammelt, um den Entstehungsprozess einer komplexen Stadtgesellschaft zu erhellen. Bekannt ist, dass der Übergang von der Lebensweise als Jäger und Sammler zu einem bäuerlichen Lebensstil in die Entstehung von Siedlungen mündete – die Gruppen begannen, sich nahe ihren Feldern niederzulassen. Irgendwann bündelten die Bauern ihre Ressourcen und setzten vermehrt auf Zusammenarbeit. Als Folge vergrößerten sich die Gemeinschaften. Das erklärt jedoch noch nicht, warum eine Gesellschaft dann den Sprung zur Metropole wagte. Was war der Anlass, dass Menschen Technologien entwickelten, eine Verwaltung errichteten und sich in der Folge eine hierarchische Gesellschaft herausbildete?

Ließ Wasser Zivilisationen blühen?


Laut Vernon Scarborough befeuerte ein Umstand die Entstehung der Stadtgesellschaft von Liangzhu: die Unwägbarkeiten der Natur. So bestand gerade in der Regenzeit das Risiko, dass Nutzflächen überschwemmt wurden. Im Sommer hingegen verdorrten die Reisfelder womöglich unter lang andauernder Trockenheit. Und damit war die Ernte gefährdet. Zu Anfang haben die Bauern wahrscheinlich nicht gleich ihre Energien in wasserbauliche Anlagen investiert. Eher haben sie zunächst versucht, die launische Natur mit Ritualen und Kulten günstig zu stimmen. Zu solchen Anlässen waren dann auch die verstreut lebenden Gruppen regelmäßig zusammengekommen. Durch die gemeinschaftlich begangenen Kulte könnten sich soziale Normen etabliert und sich Einzelne als Anführer hervorgetan haben, etwa weil sie das Wetter vorhersagen konnten und so das Wohl der Gemeinschaft förderten.

Sobald eine soziale Hierarchie existierte, gab es eine Elite, die genügend Arbeiter für Bauprojekte mobilisieren konnte. Weil das Wassermanagement der gesamten Gemeinschaft zugutekam, verfestigte sich wohl auch die bestehende Gesellschaftsordnung. Der herrschenden Schicht fielen folglich mehr Macht und Reichtum zu. Und beides ermöglichte es der Elite wiederum, weitere kunstvolle Objekte fertigen und monumentale Bauten errichten zu lassen.

»Wasser ist sicher nicht die einzige Ursache für die Entstehung komplexer Gesellschaften, aber es ist eine der wichtigsten« Vernon Scarborough, Archäologe, University of Cincinnati in Ohio

Dieselben Umstände, die in Liangzhu zur Herausbildung einer frühstaatlichen Gemeinschaft führten, herrschten nach Ansicht von Scarborough auch im Vorderen Orient – nur dass sich die Menschen dort vor allem gegen Dürreperioden wappnen mussten. »Es ging darum, Wasser, das ja nur begrenzt zur Verfügung stand, aus dem Tigris oder Euphrat abzuleiten, um so die wachsenden Städte zu versorgen.« Wie in Liangzhu hatten die Einwohner erkannt, dass ihr Dasein sicherer wäre, wenn sie die Umweltbedingungen beeinflussen könnten. Auch diese Entwicklung hat vermutlich zum Gesellschaftswandel beigetragen. Die Gruppen kooperierten enger, Einzelne taten sich dabei hervor, und allmählich bildeten sich Eliten heraus. »Wasser ist sicher nicht die einzige Ursache für die Entstehung komplexer Gesellschaften, aber es ist eine der wichtigsten«, sagt Scarborough.

Fluten brachten das Ende


Liangzhu entstand, weil das Land von Überschwemmungen heimgesucht wurde. Doch genau das führte wohl zu ihrem Untergang. Wang Zhanghua und ihr Team von der Pädagogischen Universität Ostchina untersuchten Sedimentschichten in der Region. Offenbar, so fanden die Forscher heraus, brachen immer wieder Flutwellen aus dem Ostchinesischen Meer über das Gebiet herein – erstmals vor etwa 4500 Jahren. Dadurch lagerten sich Algen und kleinen Meeresfossilien ab. Die Forscher um Wang dokumentierten die Schichten direkt über den Hinterlassenschaften der Liangzhu-Kultur. Die Fluten verwüsteten das Gebiet nicht nur, sie versalzten auch allmählich den Boden – bis kaum noch Reis angebaut werden konnte. »Die wichtigste wirtschaftliche und soziale Grundlage der Menschen von Liangzhu brach weg«, fasst Wang zusammen.

Die Stadt wurde verlassen. Die Menschen wanderten in andere Regionen ab – samt ihren Kenntnissen. Liu Bin und seine Kollegen gehen davon aus, dass spätere Kulturgruppen Elemente aus Liangzhu wie die Jade-Congs aufgegriffen haben. Doch schon die Liangzhu-Zivilisation selbst hatte die Landschaft um ihre Kanalmetropole nachhaltig verändert – und das bis heute.

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 Doppelkopf :Vogel/Tier; Jade

 

Nota. - 'Hydraulische Gesellschaft' ist der Begriff, den Karl August Wittfogel geprägt hat, um die Entstehung und Funktionsweise der unter Marxisten als asiatische Prokuktionsweise be-kannten Gesellschaftsformation zu erklären. Ihre Grundlage ist ein zentral betriebenes groß-flächiges Bewässerungssystem aus Kanälen, Rohren und Schleusen, das sich mit kleinräumiger Parzellenwirtschaft nicht verträgt und als politische Herrschaftsform die orientalische Despo-tie möglich und erforderlich macht.

JE