Freitag, 29. April 2022

Der Ackerbau brachte zunächst Nachteile.

t-online
aus nationalgeographic.de, 22. 4. 2022

Kleine Bauern
Vor 12.000 Jahren schrumpften die Menschen
Zu Beginn der Jungsteinzeit veränderte sich die Lebens- und Ernährungsweise der Menschen: Vom Jagen und Sammeln hin zum Ackerbau. Laut einer neuen Studie hatte das negative Folgen für ihre Größe – und für ihre Gesundheit.
 

Die landwirtschaftliche Revolution zu Beginn der Jungsteinzeit läutete für die Menschen viele Veränderungen ein: eine sesshafte Lebensweise, feste Viehbestände und eine größere Bevölkerungsdichte. Doch welche Auswirkungen hatten diese Entwicklungen auf die Gesundheit der Menschen? Eine neue Studie unter der Leitung der Anthropologin Stephanie Marciniak von der Pennsylvania State University hat diese Frage nun mithilfe von Überresten von 167 prähistorischen europäischen Individuen untersucht. 

Dabei fanden die Forschenden heraus, dass mit dem Ackerbau ein Rückgang der Größe einherging – und somit wohl auch ein Rückgang des physiologischen Wohlbefindens der Menschen. „Wir wollten die gesundheitlichen Auswirkungen der veränderten Lebensumstände anhand der Körpergröße untersuchen", so Marciniak. Das Ergebnis der Studie, die die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in dem Fachmagazin PNAS veröffentlichten, war eindeutig: Die Menschen, die während der Jungsteinzeit lebten, waren im Schnitt 3,81 cm kleiner als ihre Vorfahren.

4 Zentimeter Größenunterschied

Die Revolution des Ackerbaus startete vor etwa 12.000 Jahren im Fruchtbaren Halbmond – der Region um das heutige Syrien, Irak, Libanon, Israel, Palästina und Jordanien – und breitete sich von dort schrittweise auch in Europa aus. Schnell hatte der Ackerbau Auswirkungen auf die Art und Weise, in der Menschen zusammenlebten. Es entstanden größere Gemeinschaften und die Ernährungsgewohnheiten änderten sich.

Um einen möglichst genauen Überblick über die Größe der Menschen während, vor und nach dieser Zeit zu bekommen, untersuchten die Forschenden sowohl genomweite alte DNA-Daten als auch intakte Langknochen von 167 Individuen, die vor 38.000 bis 2.400 Jahren lebten – von Menschen aus der Zeit vor der Landwirtschaft über die ersten Bauern bis hin zu späteren Landwirten.

Der Größenunterschied zwischen den ersten Bauern der Jungsteinzeit – dem Neolithikum – und ihren Vorgängern aus der Mittel- und Altsteinzeit erwies sich mit 4 Zentimetern als der wohl deutlichste. Allerdings interessierte die Forschenden zusätzlich, wie sich die Größe der Menschen in den darauffolgenden Jahrtausenden wieder einpendelte. Durch die Analyse jener jüngerer Überreste stellte sich heraus: Die Menschen der Kupfer- und Bronzezeit wurden stetig wieder größer, bis sie schließlich in der Eisenzeit wieder eine ähnliche Größe wie vor der Jungsteinzeit erreichten.

Lebenswandel in der Jungsteinzeit

Warum die Größe der Menschen während des Neolithikums – und damit wohl auch ihre Gesundheit – so beeinträchtigt wurde, könnte viele Gründe haben, beispielsweise Mangelernährung und Stoffwechselprobleme. „Ungünstige Bedingungen in der frühen Kindheit können sich negativ auf die Statur des Erwachsenen auswirken“, sagt Marciniak. Und gerade diese Bedingungen könnte der Ackerbau zunächst gefördert haben. „Eine Kombination aus geringerer Ernährungsvielfalt, unvorhersehbarer Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln – zum Beispiel durch Ernteausfälle und Lagerverluste – und erhöhter Belastung durch Infektionskrankheiten könnte sich negativ auf die Gesundheit und das Wachstum von Kindern ausgewirkt haben“, heißt es in der Studie.

Um die Gründe hinter den geschrumpften europäischen Bauern genauer zu untersuchen, müssen aber noch größere Datensätze analysiert werden. „Unsere Arbeit ist eine Momentaufnahme von etwas, das sehr dynamisch und sehr nuanciert ist. Um herauszufinden, was die Ursache für die Abnahme der erreichten Größe im Vergleich zur vorhergesagten genetischen Größe ist, müssen wir noch weiter forschen“, so Marciniak.

 

Nota. - Es ist noch immer ein Rätsel, wehalb ursprünglich nomadisch lebende Populationen, die nebenher saisonalen Ackerbau betrieben, das Jagen und Sammeln gänzlich aufgaben und sich jahraus, jahrein auf sesshafte Landwirtschaft beschränkten. Im nördlichen Mitteleuropa ist mit dem Ende der letzten Eiszeit der Bestand an jagdbarem Großwild drastisch zurückggegangen, und hier war der Übergang zu einer kärglichen Getreidediät ein Notbehelf; besser schlecht ernährt als gar nicht. 

Mitgebracht hatten sie Zuwanderer aus dem Balkan, die den Ackerbau aus der Levante übernommen hatten. Dort war er beiläufig von Wildbeutern entwickelt worden, und es wird ernsthaft spekuliert, dass es ihnen weniger ums Essen als ums Trinken gegangen sei: um das Brauen von Bier für rituelle Festgelage

Auch dort könnten es Erwärmung und Trockenheit gewesen sein, die eine Trennung der Menschen in nomadisierende Hirtenstämme und dauerhaft ansässige Bauern bewirkt haben. Doch das sind Spekulationen, für die es archäologische Indizien gibt, aber keine Beweise. Allerdings lassen sie die "neolithische Revolution" so erscheinen, wie die Bibel sie beschreibt: als Jehovas Fluch auf die Erbsünde.
JE

Mittwoch, 27. April 2022

Wie kam es zur Überlegenheit des Westens?

wikipedia
aus FAZ.NET, 27. 4. 2022                
 
Eine Theorie der Überlegenheit 
Die Menschen im Westen sind die Besten
Am Ende bleibt dann doch nur Abendlandsduselei: Joseph Henrich legt eine große Theorie über uns und die Anderen vor. Für Kolonialismus und Genozide ist darin komischerweise kein Platz.
 
Von Oliver Jungen

Man darf ihn Epimenides nennen, den Elefanten, der hier im Raum ist, nach jenem Kreter also, der sagte, dass alle Kreter lügen, und damit die Selbstaussage ad absurdum führte. Wenn ein kanadischer Anthropologe und Evolutionspsychologe, der in Harvard lehrt, darauf hinweist, dass „sonderbare Menschen“ – grob gesprochen: Bewohner des christlich geprägten Westens („WEIRD“ ist das Akronym dazu: „Western, Educated, Industrialized, Rich, Democratic“) – dazu neigten, die Welt durch eine sonderbare Brille zu sehen, dann stellt sich wohl die Frage, ob dieser Westler, der den Westen auch gleich mit der „modernen Welt“ überblendet, die Brille wirklich abgenommen hat. Und in der Tat: So beachtlich viel Wissen Joseph Henrich in seiner Universaltheorie auch kompiliert (allein das Literaturverzeichnis umfasst neunzig Seiten), hinterlässt sein Buch den schalen Geschmack von Abendlandsduselei.

Der Autor schreibt den Westlern im Unterschied zur übrigen Welt etwa einen höheren Grad an analytischem Denken, Individualismus, Vertrauenswürdigkeit, Fleiß, Ehrlichkeit, Selbstbeherrschung, Geduld und „unpersönlicher Prosozialität“ (gegenüber Fremden) zu, alles vermeintlich wissenschaftlich bewiesen durch diverse vergleichende Sozialexperimente. Es handele sich, das ist Henrichs zentrale Botschaft, um kulturell erworbene Charaktereigenschaften; genetisch wirke sich das allenfalls in Jahrtausenden aus. Diese elefantöse Studie ist die vielleicht seltsamste Version des kulturalistischen Eurozentrismus (der Nordamerika inkludiert).

Eher eine gefühlte Zahl

Sonderbar ist der Autor auch in einer speziellen Hinsicht. Seit der Frühen Neuzeit, heißt es einmal, herrsche im Westen die sonderbare Auffassung, „dass jeder einzelne Mensch vollkommen neues Wissen entdecken konnte“. Henrich gibt sich zwar Mühe, besagten Genieglauben zu widerlegen – komplexe Innovationen entstünden aus der „Addition kleiner Erweiterungen“ –, aber dass er selbst etwas vollkommen Neues entdeckt hat, einen „massiven psychologischen und neurologischen Eisberg, den viele Forscher einfach übersehen haben“, dieser unbescheidene Anspruch springt die Leser seines Buchs geradezu an.

Joseph Henrich: „Die seltsamsten Menschen der Welt“. Wie der Westen reichlich sonderbar und besonders reich wurde.Joseph Henrich: „Die seltsamsten Menschen der Welt“. Wie der Westen reichlich sonderbar und besonders reich wurde.

Experimentell arbeitenden Disziplinen wie der Sozialpsychologie, der Kulturanthropologie oder auch den Wirtschaftswissenschaften macht der Autor dabei den massiven Vorwurf, meist nur die eigenen Studenten erforscht zu haben: „Selbst heute . . . sind immer noch über neunzig Prozent der Teilnehmerinnen an experimentellen Studien sonderbar.“ Es ist wohl eher eine gefühlte Zahl. Henrich muss dermaßen laut trommeln, um zu verdecken, dass seine auf über neunhundert Seiten ausgebreiteten Befunde aus der angewandten Völkerpsychologie keineswegs sonderlich neu sind. Wobei er, trotz seiner Hinweise auf eine starke Varianz innerhalb der europäischen/amerikanischen und der außereuropäischen Kohorte sogar einen grundsätzlichen Dualismus feststellen zu können glaubt: „wir“ und die Anderen

Altbekannt seit Herbert Spencer ist auch die Rolle, die hier dem Sozialdarwinismus zukommt, der bei Henrich „kulturelle Evolution“ heißt, aber ebenfalls die Durchsetzung der fittesten gesellschaftlichen Gruppe meint. Was aber erklärt nun den erfolgreichen europäischen Sonderweg? Erstaunlicherweise hat der Autor dafür eine einzige und bis zum Überdruss wiederholte Begründung parat. Denn obgleich er einmal zustimmend Jared Diamonds Vermutung einer geographischen Begünstigung Europas zitiert, führt Henrich beinahe alles zurück auf den Siegeszug des Christentums.

Aufklärung und Industrialisierung als Folgen der veränderten Psychologie

Der Clou besteht darin, den entscheidenden Hebel in der christlichen Sexualmoral zu sehen. Diese habe qua Monogamiegebot und Inzesttabu die Vorstellung der Ehe revolutioniert. Das Verbot der verbreiteten Vetternehe habe dem alten, tribalistischen Gesellschaftsmodell und seinen eta­blierten Eliten – einer vor Testosteron strotzenden Clanstruktur, wie sie außerhalb des römisch-christlichen Einflussbereichs bestehen geblieben sei – den Garaus gemacht und damit den Weg in eine von Städten, unpersönlichen Märkten, Innovation und politischem Wettbewerb geprägte Moderne geebnet.

In einer solch stammesfernen, „gezähmten“ Welt habe sich der Individualismus als geeignetste psychologische Disposition erwiesen. Die nicht mehr in verwandtschaftlichen Strukturen organisierte Bevölkerung wiederum habe sich zu neuen, freiwilligen Bündnissen zusammengeschlossen, woraus Institutionen wie Klöster, Gilden, Universitäten oder Städte entstanden seien. Die wiederum verstärkten die „sonderbare“, kooperative Denkweise der Menschen. Die wichtigste Neuprogrammierung des Westler-Gehirns fand demnach im Mittelalter statt; Aufklärung und Industrialisierung seien nur die logische Folge der veränderten Psychologie gewesen.

Der Autor hat sich verrannt in seine Weltformel

Das alles wird über zahlreiche Stufen und Exkurse – etwa zur Geschichte der Lohnarbeit – entwickelt und abgeglichen mit Feldstudien zu Ethnien, die in verwandtschaftsbasierten Strukturen leben. Manches Detail ist einsichtig (eine europäische Kleinfamilie wirkt häufig „etwas egalitärer“ als eine arabische Großfamilie), anderes widerspricht der Intuition. So war das europäische Mittelalter doch regelrecht definiert durch eine patrilineare Clanstruktur: die Hocharistokratie.

Das originelle Zusammendenken verschiedenster Disziplinen ist anregend, das Buch trotz seiner Überfülle gut lesbar und klar strukturiert. Doch gegen die historische Argumentation gibt es so viel einzuwenden, dass von der Generalthese jenseits unumstrittener Annahmen – Bedeutung der Kirche, der Städte, des freien Handels, dazu eine Portion Max Weber – wenig übrig bleibt. So hatte die Vetternehe auch in Europa noch verschiedentlich Konjunktur. Und die übrige Welt pauschal als eine der Stammesstrukturen aufzufassen übersieht alle Modernisierungsprozesse in anderen Gesellschaften. Kriege führen im Westen angeblich zu effektiven Institutionen wie Parlamenten, in der Clanwelt hingegen, vermutet der Autor auf schmalster Quellenbasis, fördern sie „loyales Verhalten gegenüber dem eigenen Clan oder der Verwandtschaft (Nepotismus), die Vetternehe und den Respekt vor den Älteren“.

Aus der Zeit gefallen

Der Autor hat sich verrannt in seine Weltformel, die er mit arbiträr wirkenden psychologischen Experimenten und Statistiken zu unterfüttern sucht. Letztere vermögen das Gewicht der ihnen unterstellten Aussage oft nicht zu tragen. Nur ein Beispiel: „Regionen, die während des Mittelalters eine größere zisterziensische Präsenz erfahren haben, sind im 21. Jahrhundert wirtschaftlich produktiver und haben eine niedrigere Arbeitslosenquote.“ Für Henrich ist damit belegt, dass die neue Arbeitsmoral (Fleiß, Pünktlichkeit) nicht auf eine protestantische Ethik zurückgeht, sondern auf die Zisterzienser einige Jahrhunderte zuvor. Der Protestantismus sei aber doch ein „Booster“ der sonderbaren Entwicklung gewesen.

Heikler noch als die freihändigen historischen Thesen ist die letztlich kulturmorphologische Argumentation, nach der die nichtsonderbare Welt ganzheitlich denke und auf jener (rückständigen) Stufe verharre, die im westchristlichen Bereich durch das Wachstum des „europäischen kollektiven Gehirns“ überwunden wurde. Dieses Gehirn stellt sich Henrich als überlegen vor, „genialer“ und „erfindungsreicher“. Problematisch sei daher der Export „höherer“ Institutionen wie Parlamente in verwandtschaftsbasierte Gesellschaften, heißt es, denn sie passten nicht „zur kulturellen Psychologie der Leute“. Die lasse sich nur über Jahrhunderte trainieren.

Vollends diskreditiert sich die aus der Zeit gefallene Studie dadurch, dass Henrich die wahre Kollision des „Westens“ mit der übrigen Welt – und damit die dunkle Gegenseite des individualistischen, nicht mehr lokal gebundenen Gewinnstrebens –, also den Kolonialismus inklusive Rassismus und Genoziden, komplett ausblendet. Dazu gebe es „viele Bücher“, heißt es lapidar. Wie sein ebenfalls mit dubioser Methodik und viel Euro-Optimismus arbeitender Harvard-Kollege Steven Pinker in „Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit“ (2011) stützt sich Henrich auf Mordstatistiken, die einen Rückgang von Kapitalverbrechen seit dem hohen Mittelalter zu zeigen scheinen, um ohne weitere Rücksichtnahme auf den Umstand, dass von Europa die Unterwerfung ganzer Kontinente, der moderne Sklavenhandel und zwei Weltkriege ausgingen, zu behaupten, in unserer vom Konzept der „Familienehre“ bereinigten Wettbewerbsgesellschaft habe sich „Selbstbeherrschung“ evolutionär durchgesetzt. Jähzorn kennen demnach nur noch die (wilden) Anderen; Europäer sind seit Jahrhunderten friedlich und zivilisiert. Sonderbar ist daran vor allem die Autosuggestion. Manchmal sucht man ja seine Brille, bis einem auffällt, dass sie die ganze Zeit auf der Nase sitzt. 

Joseph Henrich: „Die seltsamsten Menschen der Welt“. Wie der Westen reichlich sonderbar und besonders reich wurde. Aus dem Englischen von Frank Lachmann und Jan-Erik Strasser. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 918 S., Abb., geb., 34,– €.

 

Nota. - Auch wer aus gegebenem Anlass wiedermal den Untergang des Abendlands an die Wand malt, kann ja nicht übersehen, dass die Gegend, die wir heute den Westen nennen und die bis ins Mittelalter an der Peripherie der damals zivilisierten Welt lag, sich mit der Koloni-sierung Amerikas daran gemacht hat, fast die ganze Welt zu unterwerfen - und damit die Vorstellung von einer Welt überhaupt erst möglich gemacht hat. Die Triebkräfte dieses Auf-stiegs gälte es bloßzulegen, um zu beurteilen, ob und warum er dieser Tage zu Ende geht und was darauf folgen mag: Eine Theorie der Überlegenheit wird erforderlich.

Wer sie versucht, kann er darauf rechnen, dass alle Wohlmeinenden über ihn herfallen und die Herrenmenschen auch nicht zufrieden sind. Viel Rücksicht musste er also nicht nehmen: Ko-lonialismus und Genozide hat er ausgeblendet. Hätten sie der Analyse etwas wesentlich Neues hinzugefügt, oder soll lediglich Gerechtigkeit geschehen?

*

Ob ich das dicke Buch auf mich laden soll, kann ich noch nicht entscheiden, ich werde noch ein paar Rezensionen abwarten.
JE

Dienstag, 26. April 2022

Von wegen geschichtslos!


Es fehlt der Ukraine an historischen Persönlichkeiten, die ihr ein Gesicht geben könnten? Die größte politische Gestalt des zwanzigsten Jahrhunderts ist dort geboren und hat dort seine Laufbahn begonnen, die ihn sogleich nach Sibirien gebracht hat. Leo Trotzki hat sich während der Revolution gemeinsam mit Lenin und gegen die Kritik von Rosa Luxemburg für die staat-liche Unabhängigkeit der Ukraine eingesetzt. Die totalitäre Unterwerfung des bolschewisti-schen Partei unter Stalins Diktat hat aus der Unabhängigkeit eine Farce gemacht und hat der Ukraine mit dem Holodomor den Versuch eines Völkermords gebracht. Geschichtslos ist die Ukraine nicht. Nur hat sie bisher nie gesiegt, doch es gibt für alles ein erstes Mal.

 

 

Montag, 25. April 2022

Der Zusammenbruch der archaischen Zivilisation.


aus FAZ.NET, 25. 4. 2022                                          Das Löwentor der Akropolis von Mykene.

Systemkollaps damals und heute.
Wie eine ganze Zivilisation untergehen kann. Und welches Motto des Philosophen Karl Popper weiterhilft.
 
 
Die Warnung des Internationalen Währungsfonds (IWF) ist deutlich: Zu rechnen sei mit wirtschaftlicher Stagnation, verbunden mit weltweiter Inflation. Schlimmer noch: Es drohe die internationale Ordnung zusammenzubrechen, auf die 75 Jahre lang Verlass war. Diese Ordnung gründete auf Regeln, an die sich Staaten und ihre Wirtschaftsakteure hielten, weil es ihnen zum Vorteil gereichte.

Die globale Arbeitsteilung fußt auf grenzüberschreitendem Handel, sie lebt vom Bekenntnis zur (sozialen) Marktwirtschaft und weiß, dass Zölle und andere Handelsschranken den Wohlstand schmälern. Man kann dies das Grundgesetz der Globalisierung nennen, die seit der Konferenz von Bretton Woods 1944 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs viele Menschen aus der Armut befreit hat und ihnen Frieden und Freiheit brachte. Weltkriege, so lautete die gemeinsame Überzeugung, bedrohen Freiheit und Wohlstand und werden geächtet.

Die „Zeitenwende“, die wir gerade erleben, hebt diese Ordnung aus den Angeln: Wir leben an der Schwelle von einer regelbasierten zu einer machtzen­trierten Weltordnung. Käme es so, wäre dies ein zivilisatorischer Rückfall, der aus der Postmoderne direkt in die Archaik führte. Freunde des Fortschritts mögen sich nicht vorstellen, dass solch ein Rückfall möglich werden könnte. Nicht nur, weil dies aller Rationalität widerspricht, sondern auch, weil die meisten Menschen heute in ihrem Leben stets eine Entwicklung zum Besseren erlebt haben.

Ein beängstigendes Beispiel aus der Antike

Nun wissen wir aus dem Schulunterricht, dass Untergänge vorkommen: 1914 brach eine liberale europäische Friedensordnung zusammen; es folgte ein kriegerisches 20. Jahrhundert. Das britische und das römische Imperium kollabierten, obwohl Generationen von Briten und Römern sich das vermutlich niemals hätten vorstellen können.

Über die Ostertage war ich in Mykene, gelegen im Osten der griechischen Peloponnes in einer kargen, hügeligen Landschaft. Mykene war nach Troja der zweite große Coup, den der deutsche Abenteurer Heinrich Schliemann (1822– 1890) landete. Im Jahr 1876 entdeckte er, ein glühender Verehrer Homers, dort das Grab des Agamemnon und hob mit erfolgreichen Grabungen riesige Schätze von Gold und Edelmetallen.

Dass Schliemann tatsächlich das Grab des homerischen Helden entdeckt hat, wird von den Gelehrten bestritten. Doch das ist nicht mein Thema. Mich fasziniert seit dem Rundgang durch Mykene vor allem die Frage, warum diese Zivilisation plötzlich und gleich weltweit untergegangen ist. Als mykenische Kultur bezeichnen die Altertumsforscher die mediterrane Welt des Bronzezeitalters, welche die gesamte Levante-Küste umspannte: also nicht nur die Peloponnes, sondern auch die Ägäis, Kreta, Zypern, die heutige Türkei, den Libanon, Palästina und Ägypten. Überall gab es mächtige Paläste, die miteinander durch Handelsrouten verbunden waren. Eine Welt, die man als globale Gesellschaft beschreiben kann. Schon damals war die Peloponnes überzogen mit Millionen von Olivenbäumen. Das daraus gewonnene Öl wurde in großen Kannen bis nach Ägypten exportiert. Sogar eine eigene Schrift gab es in Mykene.

Um das Jahr 1200 vor Christus brach diese Kultur allüberall zusammen. Erst 500 Jahre später kam es abermals zu einer kulturellen und wirtschaftlichen Blüte in der Region. Dazwischen liegen „dunkle Jahrhunderte“, in denen die Menschen vergessen zu haben scheinen, was sie einmal gekonnt hatten. Sogar die Schrift kam ihnen abhanden. Was war passiert? Die Forscher rätseln. Hypothesen sind in Umlauf. „Seevölker“, vermutlich Piraten, hatten die Städte überfallen und geplündert. Erdbeben, so meinen andere, waren eine Hauptursache des Niedergangs. Wieder andere verweisen auf den Klimawandel. Es gab eine globale Abkühlung, verbunden mit längeren Dürreperioden oder großen Niederschlägen, was Hungersnöte nach sich zog. Schließlich könnten die sozialen Spannungen zugenommen und zu revolutionären Aufständen geführt haben.

Dominoeffekt auf der Peloponnes

Was stimmt? Eine inspirierende – und beängstigende – Deutung vertritt der amerikanische Archäologe Eric H. Cline. Er spricht von einem „Systemkollaps“, verursacht durch unterschiedliche Faktoren, die einen Dominoeffekt auslösten: „Es war eben nicht die Invasion der Seevölker, es war nicht die Serie von Erdbeben in Griechenland, es waren nicht die Dürren, die ganze Regionen unbewohnbar machten – es war vielmehr eine Verkettung von Katastrophen.“ Kein einzelnes Ereignis hätte die Katastrophe auszulösen vermocht, die Gleichzeitigkeit aller Faktoren indes ergab einen „Multiplikatoreffekt“, der Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft kollabieren ließ.

Ein konkretes Beispiel stammt von der britischen Historikerin Carol Bell. Zinn war in der späten Bronzezeit strategisch ähnlich bedeutend wie heute das Rohöl. Man brauchte es neben Kupfer zur Legierung von Bronze, nicht zuletzt also zur Herstellung von Waffen. Der Handel mit Zinn befand sich weltweit in der Hand weniger „Oligarchen“ (Bell nennt sie wirklich so) in der Stadt Ugarit im Nordwesten des heutigen Syriens. Die Verfügbarkeit von Zinn müsse für die Herrscher in Mykene oder die Pharaonen in Ägypten ähnlich wichtig gewesen sein wie Benzin für heutige Autofahrer oder Diesel für Containerschiffe, meint Bell. Zinn kam aus den Minen Afghanistans und wurde von Ugarit aus weiter nach Norden, Süden und Westen, also auch bis auf die Peloponnes transportiert. Ein Überfall von „Seevölkern“ in Ugarit, verbunden mit der Entmachtung der Eliten (der „Zinn-Oligarchen“), hat die gesamte Waffenproduktion in der Levante getroffen und die Verteidigung der Palastkultur geschwächt.

Es ist diese Idee des „Systemkollapses“, die einen heute frösteln lässt. Hat nicht schon die Corona-Krise die Lieferketten der industriellen Fertigung unterbrochen, Autarkiephantasien aufkommen lassen und die Globalisierung zur „Slowbalisierung“ dezimiert? Zwingt uns nicht der Klimawandel zum Verzicht auf fossil generiertes Wachstum, während die Kompensation durch regenerativ erzeugtes Wachstum noch in weiter Ferne ist? Jetzt kommt auch noch der verbrecherische Krieg Russlands dazu, der die Welt in Blöcke spaltet und angesichts ausbleibender Getreidelieferungen Hungersnöte in Afrika verursacht. So muss man sich Dominoeffekte vorstellen.

Ich verbiete mir weitere Ableitungen. Denn eigentlich habe ich mich auf das Motto des liberalen Philosophen Karl Popper verpflichtet: „Optimismus ist Pflicht.“

 

Nota. - Der 'Systemkollaps' im Ersten Weltkrieg war nicht bloß der Untergang einer "libera-len" Freihandelsordnung unter britischer Hegemonie; es war eine Zerrüttung des Weltmarkts und globale Krise der Produktivkräfte: Erst 1939, zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, hatte der Welthandel wieder das Volumen von 1913 erreicht, um sogleich in eine noch gigantischere Vernichtung von Arbeitskraft und Industrieanlagen zu stürzen. Die Produktivkräfte haben aufgehört zu wachsen, schrieb Leo Trotzki, und identifizierte den Krieg als die finale Todes-krise der bürgerlichen Welt, die nur entweder mit dem Untergang des Kapitalismus oder dem Untergang der Zivilisation enden könne.

So ist es nicht gekommen. Für das Kapital gibt es keine ausweglose Situationen. Die Zweitei-lung der Welt und der Kalte Krieg haben für eine neue Stabilität gesorgt, die auch den Zerfall des Sowjetblocks überstanden hat. Die Frage, die sich heute stellt, ist, ob sie auch den Versuch seiner Wiederherstellung überstehen kann. Diese Krise ist zwei Nummern kleiner, aber für uns Lebende gerade groß genug.

Der Untergang der archaischen Mittelmeerkultur um 1200 v. Chr. ist ein Problem für sich. Ein historisches, kein zeitgeschichtliches. "Strukturen" entpuppen sich in aller Regel als bloße Ana-logien. Die haben auch ihren Wert, aber bloß einen kleinen, den man sorgfältig suchen muss.
JE

 

Sonntag, 24. April 2022

Arbeiterpolitik ohne Klassenkampf und Weltrevolution.

Marine Le Pen

Zu einer politischen Macht war die Arbeiterbewegung im Zeichen von Klassenkampf und Weltrevolution geworden. Erstmals weltweit wahrgemonnen wurde sie im Juli 1848 in Paris. Da war das Kommunistische Manifest erst ein paar Monate alt. Zum Schrecken der herr-schenden Klassen wurde sie 1871 durch die Commune von Paris: Darauf läuft's hinaus!

Ohne die Commune hätte Bismarck nicht, als er die sozialdemokratische Parteiorganisation verbot, zugleich die ersten Sozialgesetze zum Schutz der Arbeiterschaft erlassen. Was war die wahrere Arbeiterbewegung: die kompromisslosen Aktivisten der Weltrevolution oder dieje-nigen, die in ihrem Schatten und wohl gar hinter ihrem Rücken den Spatzen in der Hand nicht verschmähten und nicht den Tauben auf den Dächern nachjagten.

Die Oktoberrevolution war die Stunde der Wahrheit. Die Weltrevolution war möglich, denn in Russland hatte sie begonnen. Sie ist in einer der beiden größten Katastrophen untergegangen, die die Geschichte kennt, dem Stalinschen Totalitarismus. Nicht der Übermacht ihrer Feinde ist sie erlegen, sondern der Bedrohung von innen, die beizeiten zu erkennen sie sich stets ge-weigert hat: der Ausbildung einer Arbeiterbürokratie. Nicht dass es an Warnungen gefehlt hätte. Rosa Luxemburg hatte sie als den bleiernen Schuh der Arbeiterbewegung erkannt, als Lenin noch über eine "Arbeiteraristokratie" theorisierte, die von den Herrschenden mit den Brosamen ihrer Kolonialkredite herangefüttert würde. 

Der Erste Weltkrieg und die Kapitulation der deutschen Sozialdemokratie hatten die tödliche Gefahr bloßgelegt, die von der Bürokratisierung der Arbeiterorganisationen ausging, die ja die organische Folge alle jener kleinen Fortschritte war, die sie der Bourgeoisie abzutrotzen ver-mochten. Und im revolutionären Russland war es Lenin selbst, der ein Jahr vor seinem Tod die junge Sowjetrepublik prophetisch als einen "bürokratisch deformierten" Arbeiterstaat kritisier-te.

Die Formen der Machtausübung sind nicht gleichgültig gegen ihr Wozu. Der Kampf Leo Trotzkis und der Linken Opposition gegen den Stalinschen Thermidor fand daher an zwei Fronten statt: Der Kampf um die demokratischen Freiheiten im Innern war die symmetrische Entsprechung einer revolutionären Politik nach außen. Ein friedfertiger auf des "Sozialismus in einem Land" war der Traum derer, die unter großen Opfern den Bürgerkrieg durchgestan-den hatten und nun die Ernte - sie war ärmlich genug - nicht durch Experimente gefährden wollten. Die permanente Revolution war das Programm derer, die verstanden, dass ein Aus-scheiden Russlands auf der globalen Arbeitsteilung nur auf eine Verallgemeinerung der Not und die Restauration der, wie Marx sagte, "ganzen alten Scheiße" hinauslaufen konnte. Nur die Ausweitung der Revolution auf die Länder des Westens hätten die totalitäre bürokratische Konterrevolution in Russland unterlaufen und die innere Freiheit wiederherstellen können.

*

Das stehen wir nun. Man möchte sagen: Der reformistisch-bürokratische Weg der Sozialde-mokratien hat sich als die Wahrheit der Arbeiterbewegung gehauptet. Der revolutionäre Weg ist unter Millionen blutige Opfer auf ganze Linie gescheitert. Indessen waren die Millionen Opfer der langen Serie kampfloser Kapitulationen der reformistischen Bürokratien vor jedem Angriff der Bourgoisien auf ihre stattlichen Organisationen und erchlichenen öffentlichen Pöstchen.

Mit dem Ende des Sowjetstaats 1990 ist das Kapitel der Weltrevolution amtlich abgeschlossen. Ipso facto ist die historische Unterscheidung des politischen Feldes in eine Linke und eine Rechte hinfällig geworden.

Sie merken, warum ich Ihnen dies grad heute schreibe: Marine Le Pen könnte im Lauf dieses Tages zur ersten Präsidentin der Französischen Republik gewählt werden, indem sie die ehe-maligen Wähler der Kommunistischen Partei, die nicht nur die Kohle- und Stahldepartements im Norden, sondern ebenso die ganze Pariser Region mit Ausnahme der Haupstadt selbst  be-herrscht hatte, von dem postlinken Demagogen Mélenchon übernimmt. 

Die Sozialdemokratie hat längst ihre Schuldigkeit getan und kann gehen. Das ist kein Skandal, das ist die neue Normalität. Standespolitik für die Arbeiterschaft ist heute nach innen korpora-tistisch und sozial konservativ, nach außen national und isolationistisch, und geistig spießig und provinziell. Eine wie immer definierte Linke könnte sie heute nicht einmal mehr als Zierat gebrauchen, Frau Wagenknecht wird das auch noch merken.

 



Mittwoch, 20. April 2022

Die konstituierende Gewalt.


aus FAZ.NET, 20. 4. 2022
                                            Antoine Caron, Massakers der Triumvirn  1566 
 
Begriffsgeschichte  
Nach dem Unstaat
Zum Konzept der konstituierenden Gewalt: Jörg Boehl prüft den verfassungstheoretischen Begriff am Forschungsstand der Alten Geschichte. 

Von Uwe Walter

Grundbegriffe des Politischen haben auch die Funktion, Verhältnisse zu ordnen oder Veränderungen eine Richtung zu weisen, mithin Akteuren wie Interpreten etwas an die Hand zu geben, was die stets vielgestaltige, widersprüchliche, nicht selten chaotische Wirklichkeit mit einem Sinn versieht. Ihre Archäologie fördert oft Missverständnisse oder bewusste Bedeutungsverschiebungen zutage, ohne dass die gewachsene Tradition deshalb einfach abgeräumt würde. Ein Exempel liefert jetzt der Jurist Henner Jörg Boehl in einer begriffs- und konzeptgeschichtlichen Spurensuche zur (außerordentlichen) konstituierenden Gewalt („Tresviri rei publicae constituendae“ – Vom Ursprung des Pouvoir Constituant in der römischen Revolution, in: Der Staat, Bd. 60, Heft 4, 2021 / Duncker & Humblot).

Die erste Etappe der Genese ist klar. Nach dem gewaltsamen Ende der beiden Gracchenbrüder und dem ersten Bürgerkrieg eine Generation später findet sich in den Schriften Ciceros die Idee, die gewachsene öffentliche Ordnung Roms, die Res publica, könne im Banne nackter Gewalt zeitweise aufhören zu existieren: Res publica amissa (nicht zufällig Titel von Christian Meiers bahnbrechender Studie von 1966). Ins Auge zu fassen seien daher Bemühungen zur (Wieder-)Herstellung der Ordnung nach dem „Un-Staat“. Cicero verwendete dafür in seiner Schrift „De re publica“ das Verb „constituere“ und wiederholte es einige Jahre später gegenüber Caesar, als er diesen aufforderte, „ut rem publicam constituas“. Gemeint war damit, den herkömmlichen Politikbetrieb nach zeitweiliger Sistierung erneut in Gang zu bringen, vor allem die politische Lenkung durch die Nobilität im Senat und das freie Spiel bei den alljährlichen Wahlen.

Diktatur als Amt oder Tatsache

Ciceros Fluchtpunkt war also gerade keine andere, sondern die alte, angestammte Ordnung. Allerdings sollte dies sowohl in Scipios Traum wie in Caesars Realität ein Diktator mit unbeschränkter Befugnis bewerkstelligen, da ein solcher Akt offenkundig erheblicher Durchsetzungsstärke bedurfte. Just diese Voraussetzung erwies sich als anschlussfähig: Als im Jahr 43 Antonius, Oktavian und Lepidus zur Allianz der Caesarianer gegen die sich rüstenden Caesarmörder zusammentraten, ließen sie sich durch formellen Volksbeschluss die Amtsbezeichnung „Dreimännerkollegium zur Herstellung der öffentlichen Ordnung“ (tresviri rei publicae constituendae) verleihen. Das war in der Sache eine kollektive Militärdiktatur, die sich auf Soldaten und mittels Todeslisten geraubte Mittel stützte, um einen Bürgerkrieg zu gewinnen. Im Kontext der politischen Ordnung ging es darum, die Machthaber mit überall gültigen, umfassenden Gewalten auszustatten, die das gestaffelte und begrenzende Ämtersystem der Republik, eingeschlossen das republikanische Amt des Diktators, nicht hergab.

Allerdings wird in Boehls Rekapitulation der althistorischen Forschung kaum klar, wie wenig die Ermächtigungsformel des Triumvirats nach den neuerlichen Exzessen von Gewalt und Bürgerkrieg zur Begründung einer friedlichen Ordnung tauglich erschien. Deswegen berief sich Oktavian zehn Jahre später auf eine allgemeine Einmütigkeit Italiens und prägte danach Formeln rund um ein „restituere“. Nach seiner Verwandlung in Augustus sprach er von „in Freiheit setzen“ oder „in die Verfügung von Senat und Volk zurückgeben“.

Von der umgebogenen, nur wenige Jahre gebrauchten Aushilfsformel zur Kaschierung schrankenloser Macht- und Gewaltausübung zum beinahe magischen Ursprungsmythos einer nicht kontinuierlichen Ordnung in der Moderne mutierte das gesetzliche Gerundivum dann im zweiten Band von Theodor Mommsens „Römischem Staatsrecht“. Vor dem Hintergrund des republikanisch-revolutionären Verfassungsdenkens der amerikanischen Gründerväter sowie von Köpfen wie Emmanuel Sieyès ordnete der Rechtssystematiker in einem knappen, waghalsigen Kapitel das erwähnte (Zweite) Triumvirat zusammen mit ganz anders gelagerten Fällen einem Kon­strukt namens „ausserordentliche constituirende Gewalten“ zu – für ihn übrigens ein „Aushülfsmittel“ und häufig ein schlimmeres Unheil als das, dem es abhelfen sollte.

Constituere, constituierend, constituant – die lexikalische Entsprechung hat nicht nur Juristen zu Kontinuitätsstiftungen, sogar Gleichsetzungen verführt. Doch Boehl ist mit Recht vorsichtig: Weder bedeutete „rem publicam constituere“ eine Verfassunggebung im modernen Sinn, noch leiteten die neuzeitlichen Revolutionäre ihre Ermächtigung zum Neuanfang direkt aus einem römischen Vorbild ab. Allerdings verbinde der gemeinsame Bezug auf die römischen Ursprünge unserer Begriffe die europäischen Verfassungskulturen. Mit Blick auf die Entstehungskontexte in der römischen Revolution und bei ihren neuzeitlichen Namensvettern, zumal jedoch in der Radikalisierung durch Carl Schmitt, erweist sich die Lehre vom Pouvoir Constituant in Boehls Augen jedenfalls „als Theorie und Praxis aus gefährlichen Zeiten für gefährliche Zeiten, aber auch als gefährliche Theorie“.

 

Nota. - Der arglose Normalgebildete würde die Idee einer "konstituierenden Versammlung" auf die aufklärerische Idee vom Naturrecht und dem Vertrags-Ursprung des Staates zurück-führen. Tatsächlich gründete sie aber in der Vorstellung von einer Wieder herstellung eines überkommenen Normalzustandes. Revolutionär war die Idee nur auf Umwegen und hinten-rum. Doch Ideen finden ihre Kraft sowieso nur in der Energie derer, sie sie gebruchen - für dieses oder jenes.
JE

Montag, 18. April 2022

David Ricardo zum 250. Geburtstag.

Wirtschaftstheorie: Porträt von David Ricardo
aus Süddeutsche.de, 15. 4. 2022

Freihandel tut not
Vor 250 Jahren wurde David Ricardo geboren. Der Klassiker der Nationalökonomie war auch ein erfolgreicher Börsenhändler.

Von Nikolaus Piper

Grenzenloser Handel macht Angst, gerade in wohlhabenden Ländern. Im Oktober 2015 nahmen mindestens 150 000 Menschen in Berlin an einer Großdemonstration gegen TTIP und Ceta teil, die geplanten Freihandelsabkommen der EU mit den USA und Kanada. Das waren wesentlich mehr Demonstranten als die, die im März 2022 für die Solidarität mit der Ukraine auf die Straße gingen. TTIP und Ceta würden die Ökologie, Arbeitnehmerrechte und sogar die Demokratie gefährden, hieß es damals. Inzwischen haben die Proteste ihr Ziel erreicht: Donald Trump, ohnehin kein Freund des Freihandels, hat TTIP längst den Garaus gemacht.

Widerstand gegen den Freihandel gab es auch schon vor mehr als 200 Jahren in England. Im Jahr 1815 waren es Großgrundbesitzer, die die britischen Inseln vor billigem Getreide aus dem Ausland "schützen" und so ihr Einkommen mehren wollten. Das Ergebnis waren die berüchtigten "Corn Laws", die den Markt abschotteten und das Brot teuer machten. Besonders Mittelschichten und Arbeiter litten unter den hohen Preisen, was zu heftigen Protesten führte. Am 16. August 1819 nahmen bei Manchester mehrere Zehntausend Menschen an einer Demonstration für den Freihandel und gegen die Korngesetze teil. Soldaten lösten die Kundgebung in einem blutigen Exzess auf, 15 Menschen wurden getötet. Der Vorfall ging als "Peterloo-Massaker" in die Geschichte ein. Erst 1846 schaffte das Parlament in London die infamen Gesetze ab.

Die Korngesetze waren eine unrühmliche Episode in der Geschichte Englands. Für die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften sollten sie jedoch von zentraler Bedeutung werden, denn in der Auseinandersetzung mit ihnen entstand die moderne Außenhandelstheorie. Und die hat vor allem mit einem Mann zu tun: David Ricardo. Der Ökonom, der vor 250 Jahren in London geboren wurde, kämpfte leidenschaftlich gegen die Gesetze und entwickelte eine Theorie, die diesen Kampf begründete und die im Prinzip bis heute gilt.

 

 

Ricardo, neben Adam Smith und Thomas Malthus, einer der Klassiker der Nationalökonomie, zeigte, dass Außenhandel für ein Land selbst dann von Vorteil ist, wenn alle Waren günstiger im Inland produziert werden könnten. In seinem berühmt gewordenen Beispiel erklärte er dies am stark vereinfachten Beispiel des Handels zwischen England und Portugal: Beide Länder können Wein und Bekleidung produzieren. Bei beiden Waren ist Portugal günstiger als England, bei Wein ist der Vorsprung jedoch viel größer als bei Kleidern. Deshalb sollte sich Portugal auf Wein spezialisieren, England auf Bekleidung, dann profitieren beide. Der Nobelpreisträger Paul Samuelson hat diese "Theorie der komparativen Kostenvorteile" später in seinem Lehrbuch so verallgemeinert: "Wenn sich von zwei Ländern jedes auf die Produktion derjenigen Güter spezialisiert, bei denen es die größte relative Leistungsfähigkeit besitzt, lohnt sich der Handel für alle Beteiligten. In beiden Ländern steigen die Reallöhne." Es ist die Lehre von den Vorzügen der Arbeitsteilung, konsequent zu Ende gedacht.

1815 konnte er sich aus dem Geschäft zurückziehen

David Ricardo wurde am 18. April 1772 in London geboren. Seine Eltern waren sephardische Juden aus Amsterdam, deren Vorfahren die Inquisition im 16. Jahrhundert aus Portugal vertrieben hatte. Ricardos Vater Abraham Israel war kurz vor Davids Geburt mit der Familie nach London gezogen und arbeitete als Broker an der Börse. Schon mit 14 begleitete David seinen Vater und lernte das Geschäft mit Wertpapieren von Grund auf. Als er 21 war, kam es jedoch zum Bruch mit der Familie. Der junge Mann heiratete Priscilla Anne Wilkinson, eine Quäkerin, und konvertierte selbst zu den Unitariern, einer protestantischen Freikirche. Der Vater enterbte ihn, weshalb David sofort auf eigenen Beinen stehen musste. Er wurde schnell ein ungewöhnlich erfolgreicher Börsenhändler. John Henderson, Autor einer großen Ricardo-Biografie, vermutet, dass Ricardos Leistung "vor allem mit der Tatsache zu tun hat, dass er in einer jüdischen Enklave aufwuchs und nicht im Mainstream der englischen Gesellschaft. Als Außenseiter war er in der Lage, den Schleier von Gebräuchen und Traditionen zu durchdringen, der das Wirtschafts- und Sozialsystem Englands bedeckte."

An der Börse verdiente Ricardo sein Geld vor allem damit, dass er die Anleihen der Regierung bei den Anlegern platzierte. Wegen der napoleonischen Kriege war der Finanzbedarf Londons riesig, der Schatzkanzler brauchte einen vertrauenswürdigen Broker. Nach einigen Berichten soll Ricardo den Ausgang der Schlacht bei Waterloo vorausgeahnt und, anders als die meisten anderen, auf einen Sieg der Alliierten gewettet haben. Historiker bezweifeln den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte jedoch inzwischen wegen mangelnder Belege. Jedenfalls war Ricardo nach 1815 so vermögend, dass er sich aus dem Geschäft zurückziehen konnte. Er erwarb einen Landsitz namens Gatcombe Park in Gloucestershire und wohnte dort mit seiner Familie. Heute gehört das Anwesen der englischen Krone und ist Wohnsitz von Prinzessin Anne.

Ricardo wurde 1819 als Vertreter des Wahlkreises Portarlington das erste Parlamentsmitglied jüdischer Herkunft. Als Abgeordneter erwarb er sich den Ruf eines liberalen Reformers. Er ging gegen den damals üblichen Kauf von Parlamentsmandaten an (auch er selbst hatte für seinen Sitz noch bezahlen müssen). Er schlug vor, zum Abbau der riesigen Schuldenlast Englands aus den Kriegen gegen Napoleon eine Vermögensteuer einzuführen, allerdings vergeblich. Ein anderer Vorschlag Ricardos wurde erst 1946 verwirklicht: Er wollte aus der Bank of England, die damals ein Privatunternehmen war, eine normale Notenbank machen - im Besitz des Staates, aber unabhängig von dessen Entscheidungen. Vor allem aber kämpfte er gegen die Korngesetze, zu seinen Lebzeiten ohne Erfolg.

Großen Einfluss hatte auch Ricardos Erklärung der Grundrente

Er hatte jetzt auch Zeit, um sich noch mehr mit Nationalökonomie zu befassen. Ricardo hatte nie eine Universität besucht und angeblich eher zufällig seine Leidenschaft für das Fach entdeckt, als ihm 1799 eine Ausgabe des "Wohlstands der Nationen" von Adam Smith in die Hände fiel. Sein eigenes Hauptwerk "Grundsätze der politischen Ökonomie und der Besteuerung" erschien 1817 in London und wurde sofort ein großer Erfolg.

Ricardos Ideen prägten Generationen Ökonomen, zum Teil bis in die Gegenwart hinein. Am meisten Einfluss hatte - neben der Theorie des komparativen Kostenvorteile - Ricardos Erklärung der Grundrente. Für die klassischen Ökonomen war es zunächst gar nicht selbstverständlich, dass jemand Geld nur dafür bekam, dass er Grund und Boden besaß. Sie glaubten, allein menschliche Arbeit könne Wert schaffen; Karl Marx hat seine Arbeitswertlehre von Ricardo übernommen. Die Grundrente konnte so nicht erklärt werden.

Ricardos Lösung war das Phänomen der Knappheit. Wäre in einem Staat fruchtbares Land im Überfluss vorhanden, würde einfach so viel Land genutzt, wie für die Ernährung der Bevölkerung notwendig ist, Land hätte dann keinen Preis. Da Land aber in Wirklichkeit knapp ist, müssen auch schlechtere Böden unter den Pflug genommen werden. Sie bringen weniger Ertrag, erfordern mehr Aufwand und bestimmen so den Preis für Getreide. Die Eigentümer der besten Böden haben diesen Aufwand nicht und bekommen trotzdem den Marktpreis. Die Differenz ist die Grundrente. Der österreichische Ökonom Heinz D. Kurz beschreibt Ricardos Neuerung so: Adam Smith habe die Grundrente mit der "Freigiebigkeit der Natur" erklärt, Ricardo habe erkannt, dass die Ursache im Gegenteil der "Geiz der Natur" ist.

David Ricardo konnte das Leben und Arbeiten auf seinem Landsitz nicht lange genießen. Am 11. September 1823 starb er im Alter von nur 51 Jahren an den Folgen einer Mittelohrentzündung.


Nota. - Dass Karl Marx "seine Arbeitswertlehre von Ricardo übernommen" habe, ist nicht nur nicht richtig, sondern geradezu antiwahr. Vielmehr hat er sie durch Hinzufügungn seiner Mehr-wertlehre in ihr genaues Gegenteil verkehrt: Zwar erhält der Arbeiter im Lohn die Reprodukti-onskosten seiner Arbeitskraft erstattet - seine Lebenshaltungskosten. Der Kapitalist bekommt dagegen sehr viel mehr: nämlich die Produktivkraft der lebendigen Arbeit.

Das ist ein un gleicher Tausch. Er beruht auf der Monopolisierung der Produktionsmittel durch die bürgerliche Klasse, und die beruht auf einer gewaltsamen - Aneignung? Gewalt-sam angeeignet worden waren Grund und Boden - das ursprüngliche Produktionsmittel - von den feudalen Eroberern. Der Großgrundbesitz entstand durch deren Aneignung des dörflichen Gemeindelands, und die Bauern wurden zu tributpflichtigen Leibeigenen; bis sie durch die Geldgier des Adels zu Pächtern 'befreit' und degradiert wurden. 
 
Und als es für den Adel lukrativer wurde, das Pachtland in Weidefläche umzuwandeln, wur-den die Bauern von ihren Höfen vertrieben: Deren Ent eignung durch einen politischen Ge-waltakt war der Grund des bürgerlichen Monopols - denn nun mussten sie ihren Unterhalt in den neuentstehenden Fabriken suchen.
 
In der Grundrente ist die bürgerliche Verwertungsweise von Grund und Boden dargestellt. Deren Basis bleibt aber die ursprüngliche feudale Landnahme. Das Monopol über Grund und Boden ist so wenig ein Resultat ökonomischer Gesetzmäßigkeit wie das Monopol übers Kapi-tal. Sie beruhen auf politischen Gewaltakten und können nur durch solche überwunden wer-den.
JE



Donnerstag, 14. April 2022

Er kann nur noch auf dem Schlachtfeld gestoppt werden.

zeit.de

Die bonapartistische Logik seines autokratischen Regimes lässt Putin keine Wahl: Vorwärts immer, rückwärts nimmer. Er hat sich gegenüber der Welt und gegenüber seinem Land in eine Situation gebracht, wo er sich auf keine diplomatische Lösung mehr einlassen kann. Er kann nur gestoppt werden, wenn er besiegt wird: zu Felde. 

 

Mittwoch, 13. April 2022

Natürlich müssen verdiente Parteiarbeiter*innen versorgt werden...

deutschlandfunk

...sonst haben unsere Parteien bald dieselben Nachwuchssorgen wie unsere Kirchen.                Im Beruf des Vollzeitpolitikers müsste es auch Pensionsberechtigung geben und Vorzugsregelungen für die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie.

 

 

Dienstag, 12. April 2022

Als das Rad erfunden wurde.


aus scinexx.de Die beiden dunklen Streifen im Vordergrund sind wahrscheinlich 5.400 Jahre alte Spuren eines jungsteinzeitlichen Rinderkarrens.

Älteste Radspuren der Welt entdeckt
Spuren eines Rinderkarrens in Norddeutschland stammen aus der Zeit vor gut 5.400 Jahren

Spannender Fund: In der Nähe von Kiel haben Archäologen die bisher ältesten Radspuren der Welt entdeckt. Die dunklen Fahrspuren entstanden schon rund 3400 Jahre vor Christus und stammen wahrscheinlich von jungsteinzeitlichen Rinderkarren. Ähnliche Spuren aus anderen Regionen Europas sind einige hundert Jahre jünger. Das könnte darauf hindeuten, dass die Menschen in Mitteleuropa diese innovative Form des Transports ähnlich früh nutzten wie der Nahe Osten.

Die Jungsteinzeit war eine Zeit der Umbrüche: Die Menschen begannen nicht nur sesshaft zu werden und Landwirtschaft zu betreiben, auch ihre Kultur, Sozialstruktur und Technologie änderte sich tiefgreifend. Sie züchteten neuen Nutzpflanzen, domestizierten Tiere und entwickelten auch neue Methoden des Bauens, der Landbewirtschaftung und des Transports. Unter letzten waren auch die ersten, noch von Rindern gezogenen Wagen.

Ein Megalith-Friedhof aus der Jungsteinzeit

Bisher gingen Archäologen davon aus, dass die ersten von Tieren gezogenen Karren im Nahen Osten entstanden sind. Denn dort begann Genstudien zufolge vor rund 10.000 Jahren auch die Domestikation der Rindern. Später könnten Menschen in Europa einige Nachfahren dieser Rinder mit wilden Auerochsen gekreuzt haben, um besonders robuste, starke Arbeitstiere zu erhalten. Diese wurden dann unter anderem für das Pflügen und das Ziehen von Rinderkarren eingesetzt.

Doch Funde in Flintbek bei Kiel werfen nun ein neues Licht auf die Entwicklung der Rinderkarren. Ein Archäologenteam unter Leitung von Doris Mischka von der Universität Kiel führt dort schon seit längerem Ausgrabungen in einem der größten Megalith-Friedhöfe Europas durch. Bisher wurden in dieser sogenannten „Flintbeker Sichel“ neben zahlreichen Ganggräbern aus der frühen Bronzezeit auch sieben Großgräber und 14 Dolmen-Grabhügel aus der Jungsteinzeit entdeckt, die sich sichelförmig aneinanderreihen.

Dunkle Streifen im Untergrund

Unweit dieser Gräber stieß das Forschungsteam bei den Ausgrabungen auf zwei zunächst unscheinbare, braune Linien im Boden. Erste Untersuchungen ergaben, dass die Breite dieser Streifen genau mit der Breite von jungsteinzeitlichen Holzrädern übereinstimmt, in man unter anderem in einigen Mooren Norddeutschlands gefunden hat. Nach Angaben der Archäologen entsprechen die Abstände der beiden Rillen zueinander zudem der Achslänge der typischen jungsteinzeitlichen Rinderkarren.

Steinzeit-Szene
Der von Rindern gezogene Wagen könnte beim Bau der Megalithgräber geholfen haben, wie hier auf dem Titelbild der Publikation dargestellt. 

Datierungen zufolge stammen die Wagenspuren aus Flintbek aus der Zeit um 3400 vor Christus. Sie sind damit einige hundert Jahre älter als die bisher aus anderen Regionen Europas und Südwestasiens bekannten Spuren dieses prähistorischen Vehikels, wie Mischka berichtet. Die unscheinbaren dunklen Streifen im steinzeitlichen Untergrund von Flintbek könnten demnach sogar die ältesten Wagenspuren der Welt sein.

Steinzeit-Hightech in Mitteleuropa

Die Entdeckung der Wagenspuren belegt zum einen, dass die Menschen in der Flintbecker Sichel bereits dieses damals neue Transportmittel für den Bau ihrer Gräber einsetzten. Gleichzeitig aber könnte dies aus belegen, dass die Rinderkarren nicht nur im Nahen Osten erfunden wurden, wie bisher angenommen. Stattdessen könnten auch Menschen in Mitteuropa diese Technik parallel entwickelt haben.

„Es ist eindeutig, dass die Menschen in Mitteleuropa ebenso früh wie jene des Nahen Osten hochtechnologisiert waren“, kommentiert der Kieler Archäologe Johannes Müller die Ergebnisse. „Das Ergebnis rückt Flintbek in das Zentrum einer der entscheidenden Innovationen der Menschheit.“ (Das Neolithikum in Flintbek, Doris MIschka, 2022)

Quelle: Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Mittwoch, 6. April 2022

Das weltwirtschaftlich dringendste Gebot.

euromaidanpress

Auch wirtschaftlich - welt wirtschaftlich - ist gegenwärtig das dringendste Gebot, dass Putin seinen Krieg verliert.

Es wird nicht lange dauern, dann wird das Aufrechnen beginnen. Aber da gibt es nichts auf-zurechnen. Putins Sieg wäre auch wirtschaftlich eine Katastrophe.


Dienstag, 5. April 2022

Merkels strategischer Irrtum.

Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel und der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy 2008 auf einem NATO-Gipfel in Bukarest  

aus FAZ.NET, 4. 4. 2022

Die NATO und die Ukraine
Merkels strategischer Fehler
Selenskyj wirft Merkel vor, sie habe auf dem NATO-Gipfel 2008 eine falsche Entscheidung getroffen. In der Tat war dieses Treffen kein Meisterwerk westlicher Diplomatie

Ein Kommentar von Nikolas Busse

Niemand im Westen, auch nicht die frühere Bundeskanzlerin, ist schuld daran, dass Putin ein friedliches Nachbarland überfallen hat. Für diese gewissenlose Entscheidung ist allein der russische Präsident verantwortlich.

Allerdings ist der NATO-Gipfel 2008 in Bukarest, auf dem Merkel nichts falsch gemacht haben will, Teil der unseligen Vorgeschichte. Dieses Treffen, auf dem der Ukraine und Georgien der Beitritt zur Allianz versprochen wurde, war in der Tat von einer „Fehlkalkulation“ geprägt, wie Selenskyj sagt.

Rücksicht auf Russland

Auf dem Gipfel wollte der dama­lige amerikanische Präsident Bush eine schnelle Aufnahme der beiden früheren Sowjetrepubliken erreichen. Deutschland und Frankreich verhinderten das aus Rücksichtnahme auf Russland. Heraus kam ein ty­pischer Gipfelkompromiss. Die beiden Länder erhielten eine Zusage, der Beitritt wurde aber nicht vollzogen.

Das war die schlechteste aller Lösungen. Wäre die Ukraine aufgenommen worden, hätte Putin einen Angriff wohl nie gewagt; hätte der Beitritt nie in Aussicht gestanden, wäre zumindest dieser Vorwand für seine Übergriffe entfallen, die schon im selben Jahr mit dem Einfall in Ge­orgien begannen. Der Bukarester Be­schluss schuf in Osteuropa ein stra­tegisches Niemands-land, aus dem Putin seit 14 Jahren einzelne Teile herausschneidet. Das war kein Meisterwerk der westlichen Diplomatie.

 

Nota. - Heut wissen es alle: Putin in eine europäische Friedensordnung einzubeziehen, war von Anfang an eine Illusion; der Mann ist eine großrussischer Imperialist und ihm ist alles zuzutrauen. 

Erstens war es es vielleicht nicht von Anfang an, sondern ist es in der bonapartistischen Zwickmühle, in die er sich sehend begeben hat, erst geworden. Doch zweitens konnte er es nur werden, weil der Westen es ihm erlaubt hat. Das habe ich vor einem Lustrum vorherge-sehen: Ich meinte, man müsse eine Handvoll Knüppel parat halten, weil man sie bestimmt einmal brauchen würde. Doch dass es so bald und vor allem so dringend nötig würde, habe ich so wenig geahnt wie alle andern. Angela Merkel hat sich geirrt, das weiß jetzt jeder. Aber sie hätte mit ihrem Poker unter Umständen Recht behalten können. 

Dass Putin sich in eine Lage manövrieren würde, wo er nur sich selber Rechenschaft schuldet und ihm nicht einmal das bewusst ist, konnte keine*r wissen; sondern allenfalls ahnen. Doch dass sie es nicht geahnt hat, wird das Bild Angela Merkels in den Geschichtsbüchern dauerhaft trüben. Und dass ihr die russophile Schieflage bei ihrem Koalitionpartner nicht aufgestoßen ist, erst recht.
JE