Sonntag, 24. Mai 2020

Ein Epochenbruch für Europa?

Elmer Bischoff, 1955 
aus welt.de, 24. 5. 2020

Das Ende der Schaukelpolitik
Die Europäische Union ist von einer Werte- in eine Identitätskrise gerutscht. Doch dann kamen Angela Merkel und Emmanuel Macron. Sie wagen für Europa den Epochenbruch. Was ohne ihren Wiederaufbaufonds mit der EU geschähe, mag man sich nicht vorstellen.


Es gibt nicht nur einen leichtfertigen Optimismus, sondern auch einen leichtfertigen Pessimismus. Vorhandene Chancen nicht wahrnehmen und wahrhaben zu wollen, kann so bedenklich sein wie der Versuch, vorhandene Bedrohungen zu vernebeln. Mit Blick auf Europa leben wir seit Jahren in einem Zustand der oberflächlichen Schwarzseherei. Sie führte bisher unter anderem dazu, dass man die Schwächen der Europäischen Union in einer Weise betrachtete, welche die Sicht auf ihre Stärken nahezu ausschloss.

Fast ist es wie in einer Liebesbeziehung: Im Rausch der ersten Sehnsucht schaut man auf sein Gegenüber wie durch einen Weichzeichner. Man hebt ihn in die höchsten Höhen, traut ihm alles zu, schmiedet tollkühne Pläne. Im Fron des Alltags entdeckt man allmählich die Makel, sieht schließlich nur noch sie, betont, wie sehr sich der eben noch Geliebte verändert habe und ist nicht ehrlich genug einzugestehen, dass man immer nur die eine Hälfte seines Wesens betrachtete, während die andere im Dunkel der eigenen Fantasie blieb. Auswege und Möglichkeiten, die sich noch immer in der Partnerschaft böten, werden ausgeschlossen – solange bis die Beziehung am Ende ist.

Mit der EU ist es ähnlich. Ein vormals gesunder Patriotismus hat sich über die Jahre in eine handfeste nationale Selbstsucht verwandelt. Zwischen den europäischen Staaten herrscht ein innerer Kalter Krieg. In diesem Zu-stand redet man kurz und flüchtig über das, was Europa bringt, um dann in einem langgezogenen „Aber“ zum Kümmelspalter, Pfennigfuchser und Geizdrachen zu werden. Auch aus diesem Grund ist die EU von einer Bedeutungs- in eine Wertekrise geraten und von dort in eine Identitätskrise gerutscht. Diese wird allmählich existenzbedrohend.

Der leichtfertige Pessimismus führt dazu, dass man die EU irgendwie abgeschrieben hat und nicht wahrnehmen will, dass die schwere Krise, in die sie ein Virus gestürzt hat, der letzte Infekt sein könnte, der ihr Ende einleitet. Man mache sich keine Illusion: Nicht wenige Deutsche und Europäer wünschen sich eine Rückkehr zur Euro-päischen Wirtschaftsgemeinschaft. Doch sie wird nicht kommen! Auch hier mag das Beispiel einer verronnenen Liebe helfen: Auf der Lava erloschener Gefühle lässt sich kein Gemüsegarten pflanzen.

Noch ist nicht klar, ob die Folgen der Pandemie das vom Brexit geschwächte, durch die Finanzkrise ausgezehrte und durch Flüchtlingsdramen gebeutelte Europa nur in eine schwere Rezession stürzen werden oder in eine tiefe Depression mit Staatsbankrotten und der Wiederkehr der Horde als politische Größe, so wie wir sie aus der Zwischenkriegszeit kennen. Eindeutig aber ist: Straucheln Spanien, Frankreich oder/und Italien, ist nicht nur die EU tot, sondern auch Deutschland in einem Zustand des wirtschaftlichen und politischen Chaos, das man bisher allenfalls aus den Geschichtsbüchern kannte; von der Verarmung breiter Teile des Mittelstands zu schweigen.

Man muss nicht ins tatsächlich ermüdende Tremolo der Berufseuropäer verfallen, man braucht auch nicht die Vereinigten Staaten von Europa zu beschwören, die nach einem „Hamilton-Effekt“ am rot-goldenen Horizont auszumachen seien (Olaf Scholz). Es genügt, knallhart auf die eigenen Interessen zu verweisen. Die Export-nation Deutschland braucht europäische Handelspartner, die ihr gewogen sind. Sie kann nicht zurück in eine Mittellage zwischen Ost und West, die zur Schaukelpolitik zwingt. Sie darf nicht in einen Zustand geraten, in der missgünstige und rachsüchtige Nachbarn das Land beständig zu isolieren trachten. Nicht nur, aber auch aus diesem Grund ist es klug, den leichtfertigen Pessimismus zu überwinden, die derzeitigen Gefahren klar zu bewerten und die Chancen zu ergreifen, die sich aus der gegenwärtigen Lage ergeben.

Konkret: Emmanuel Macrons und Angela Merkels Vorstoß, der Europäischen Union einen Wiederaufbaufonds im Wert von einer halben Billion Euro vorzuschlagen, ist ein Gebot der Stunde. Er kann die Regionen stützen, die genauso unverschuldet in die Krise gerieten wie die Lufthansa. Diese sei systemrelevant und deshalb zu retten, heißt es zu Recht. Gegen den Untergang der EU aber nähme sich das Ende der deutschen Fluggesell-schaft wie der Tod einer Bakterie im Kot der Großstadt aus. Der Wiederaufbaufonds, so er kommt, wird der EU neue Kraft und vor allem Selbstvertrauen verleihen. Wie seinerzeit die Montanunion mag in ihm der Keim einer künftigen Fiskalunion mit einer einheitlichen europäischen Finanzpolitik stecken, entscheidend aber ist heute vor allem eines: Er hilft dem dahinsiechenden Kontinent und führt trotzdem nicht zur Vergemeinschaftung der Schulden.

Gehen Merkels und Macrons Plan auf, würde die Europäische Kommission die 500 Millionen Euro streng an bestimmte Vorhaben binden und auf diese Weise verhindern, dass das Geld im Nirvana überschuldeter nationaler Haushalte verschwindet. Der Fonds soll auf dem Haushalt der EU 2021 bis 2027 aufsetzen und an dessen Programme anknüpfen. Mit den in Deutschland zu Recht missliebigen Eurobonds hätte er in soviel zu tun wie Florenz mit Marzahn.

Helmut Kohl band feinfühlig die kleinen EU-Länder ein

Man kann nur hoffen, Berlin und Paris werden auf der Suche nach europäischen Bündnispartnern für das Vorhaben nicht den Fehler begehen, der sich seit dem Ende der Ära Helmut Kohl auch in die deutsche Politik eingeschlichen hat. Achtete der Kanzler der Einheit stets feinfühlig darauf, besonders die kleinen Nachbarn miteinzubinden, neigen Franzosen und Deutsche seit geraumer Zeit dazu, Europa als einen Zug zu betrachten, an den die osteuropäischen Waggons nur herangehängt wurden, ohne die Möglichkeit zu besitzen, das Reiseziel zu bestimmen oder zu bremsen. Der deutsche Alleingang in der Flüchtlingskrise mag als Hinweis an dieser Stelle genügen.

Wer einen Wiederaufbaufonds dieses Umfanges aufsetzen will, der wird um eine Änderung des europäischen Vertragswerk wohl kaum herumkommen. Diese aber bedarf der Einstimmigkeit der Mitglieder. Sie wird nur in mühseligen Verhandlungen und mit zahlreichen Kompromissen zu erreichen sein. Die Arbeit lohnt, wer bedenkt, was auf dem Spiel steht. Geht Europa durch die Folgen der Pandemie unter, ist es unser aller Schuld. Europa kann an nichts anderem zugrunde gehen als an sich selbst.


Nota. -  Merkels Zielgenauigkeit während der Flüchtlingskrise ist die Voraussetzung dafür, dass sie in Sachen Wiederaufbaufonds heute das Vertrauen der andern Europäer beanspruchen darf und dass der eitle Macron sein Gesicht wahrt, wenn er sich von ihr ins Schlepptau nehmen lässt. Denn dass der Fonds vor allem Deutschland eine Menge Geld kosten wird, ist jklar. Und dass Frankreich zu den Nutznießern zählen wird, nicht minder.
JE



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