Mit den ersten Staaten entstand die Sklaverei, sagt der Politologe James C. Scott. Vielleicht wären wir besser Nomaden geblieben
Getreide pflanzen, sesshaft werden, Staaten bilden: Das nennt man Fortschritt. James C. Scott erzählt, wie die ersten Stadtstaaten entstanden sind. Und bürstet den Zivilisationsmythos gegen den Strich.
Ab und zu bei Rot die Strasse überqueren, das muss einfach sein. Warum geduldig am Strassenrand warten, wenn weit und breit kein Auto zu sehen ist, nur weil die Ampel gerade nicht auf Grün zeigt? Für James C. Scott gehören solche kleinen Übertretungen zur mentalen Hygiene, die jeder Mensch pflegen sollte. Mehr noch, sie sind ein politisches Statement. «Anarchistische Freiübungen» nennt der amerikanische Politologe das. Jeden Tag, empfiehlt er, sollte man gegen irgendein belangloses Gesetz verstossen. Als Übung im selbständigen Denken. Als Pflicht, sich bei jedem Verbot zu überlegen, ob es vernünftig und gerecht ist.
Nur
so sei man bereit für den grossen Tag, sagt der 81-jährige
Yale-Professor. Den Tag, an dem der Staat uns vielleicht einmal
auffordert, etwas zu tun, das grundlegenden menschlichen Geboten
widerspricht, vielleicht sogar unter Androhung von Gewalt. Dann braucht
es Widerspruchsgeist. Und wie, fragt Scott, solle man sich dem Zwang des
Staates entziehen können, wenn man sich immer rückhaltlos allen
Gesetzen und Verordnungen fügt, die er erlassen hat? Bei Rot die Strasse
überqueren als Zeichen der Distanz also gegenüber dem Staat, der dazu
tendiert, Bürger als Untertanen zu betrachten und immer weitere Bereiche
des Lebens zu reglementieren, wenn man ihm keine Grenzen setzt.
Auch Jäger pflanzen Gerste
Nun
endet James C. Scotts Staatsskepsis natürlich nicht bei Rotlichtern.
Sie geht tiefer. Jahrelang hat er sich mit Praktiken des Widerstands
gegen den Staat beschäftigt, unter anderem mit denen von Bauern in
Asien. Er hegt Sympathie für die Unangepassten, die sich keiner Macht
und keiner Verwaltung beugen wollen – Menschen, deren Ziel darin
besteht, in den Archiven der staatlichen Verwaltung gar nicht präsent zu
sein. In seinem neuen Buch «Die Mühlen der Zivilisation» geht er die
Frage nach dem Wesen der Staatlichkeit an, indem er sich an die
historische Wegmarke begibt, an der die ersten Stadtstaaten entstanden:
ins Mesopotamien des 4. Jahrtausends v. Chr.
«Against
the Grain» lautet der Titel des Buches im englischen Original, und
Scott hält, was der Titel verspricht. Er bürstet die Urgeschichte der
Staatenbildung gegen den Strich und rückt die fast zum Dogma erstarrten
Vorstellungen von den Anfängen der Getreidewirtschaft zurecht. Scott ist
Politologe. Aber er kennt die archäologischen Untersuchungen genau, die
in den letzten zwei Jahrzehnten im Zweistromland durchgeführt wurden.
Und ihre Befunde zeigen: Wer Getreide anbaute, musste nicht zwingend
sesshaft leben. Rund viertausend Jahre lang betrieben Menschen in der
Schwemmlandebene Mesopotamiens Ackerbau, mit Gerste oder Emmer, bevor
die ersten festen Siedlungen entstanden.
Die
Menschen bestellten zwar Äcker und hielten Haustiere, gaben aber ihre
nomadische Lebensweise nicht auf. Und zwar, weil der Ackerbau nicht so
viele Vorteile bot, dass sich das gelohnt hätte. Den Nomaden sei es
meist besser gegangen als den sesshaften Bauern, sagt Scott. Sie hatten
einen vielseitigeren, ausgewogeneren Speisezettel und lebten gesünder.
Ackerbau war arbeitsintensiv und anstrengend. Die Skelette von Frauen
aus frühen agrarischen Siedlungen zeigen charakteristische Verformungen
an den Zehen – eine Folge von Arthritis, die davon herrührt, dass die
Frauen zum Mahlen des Getreides auf den Zehen sassen. Auch
Infektionskrankheiten wurden zum Problem, weil die Menschen auf engem
Raum mit ihren Nutztieren lebten.
Städte brauchen Krieger
Kein
angenehmes Leben also. In vielem deutlich weniger angenehm als das
Leben der nomadisierenden Jäger, auch wenn man dessen Gefahren nicht
verkennen darf. Aber dass sich Menschen ohne äusseren Zwang dazu
entschlossen, in festen Siedlungen zu leben, hält Scott für
unwahrscheinlich. Welcher Zwang sie dazu bewog, darüber lässt sich nur
spekulieren. Eine Dürre vielleicht, die dazu führte, dass man sich in
der Nähe von Wasser niederliess. Vielleicht gingen die Wildbestände
zurück, oder die Bevölkerung stieg an – jedenfalls war man darauf
angewiesen, höhere Erträge aus dem Boden zu holen.
Aber
grosse Siedlungen wie die Stadt Uruk, die Ende des 4. Jahrtausends in
Mesopotamien entstand, sind anfällige Gebilde. Wo viele Menschen auf so
engem Raum leben, braucht es politische Strukturen. Arbeiten müssen
zentralisiert werden, es braucht Verwalter, Priester und Schreiber, die
Inventare, Gesetze und Verträge verfassen – in Uruk wurden die ältesten
bekannten Keilschrifttafeln gefunden. Es braucht Arbeiter, welche die
Lebensgrundlagen für die Menschen schaffen, die nicht mehr selber für
ihre Nahrung sorgen.
Städte
brauchen aber auch Krieger. Die Siedlungen mit ihren Getreidespeichern
waren für marodierende Banden ein gefundenes Fressen und mussten
verteidigt werden. Man musste sie befestigen. Nach der Legende baute
König Gilgamesch selber die gewaltigen Mauern von Uruk – in Wirklichkeit
wird es wohl, wie überall, Baumeister, Maurer und Handlanger gebraucht
haben. Für einen grossen Teil der Einwohner, schliesst Scott, bedeutete
das Leben in einem Stadtstaat also Zwangsarbeit, Wehrpflicht und
Steuern.
Sesshaft sein ist kein Naturgesetz
Nicht
alle wollten sich der Macht des Staates fügen. Es ist auffällig, dass
in der ältesten bekannten Gesetzessammlung der Welt, dem Codex Hammurabi
aus dem 18. Jahrhundert v. Chr., Bestimmungen zur Bestrafung von
Flüchtlingen breiten Raum einnehmen. Mit den Siedlungen entstand für
Scott auch die Sklaverei, denn die Stadtstaaten mussten Menschen von
aussen aufnehmen, um existieren zu können, und das hiess oft: entführen
und versklaven. Die Menschen, die sich dem Zwang des Staates
widersetzten, sind in der Geschichtsschreibung allerdings nur selten
präsent.
James
C. Scott rüttelt mit Lust, aber fundiert an einem Narrativ, das
Sesshaftigkeit als höchste Lebensform des Menschen versteht und
Staatenbildung einhellig als Erfolgsgeschichte präsentiert. Ob wir
besser Nomaden geblieben wären? Scott weist jedenfalls darauf hin, dass
das Leben ausserhalb des Einflussbereichs von Staaten seine Vorteile
hat. Und dass eine gewisse Distanz zum Staat gut tun kann. Auch wenn sie
sich nur in kleinen Übertretungen äussert. Übrigens schränkt James
C. Scott seine Empfehlung, bei Rot über die Strasse zu gehen, in einem
wichtigen Punkt ein – tun Sie es bitte nur, wenn keine Kinder in der
Nähe sind. Sie wären ein schlechtes Beispiel. Vielleicht nicht in
politischer Hinsicht, aber ganz sicher, was die Verkehrssicherheit
betrifft.
James C. Scott: Die Mühlen
der Zivilisation. Eine Tiefengeschichte der frühesten Staaten. Aus dem
Amerikanischen von Horst Brühmann. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2019. 329 S.,
Fr. 46.90.
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