Montag, 10. Juni 2019

Eine Republik der Säufer.

Illustration (from Joel Tyler Headley's 'Pen and Pencil Sketches of the Great Riots') depicts a scene during the Great Railroad Strike, where rioters and drunken strikers distribute stolen whiskey, Pittsburgh, Pennsylvania, 1877. (Photo by Interim Archives/Getty Images) Getty ImagesGetty Images
aus welt.de, 10. 6. 2019

„Das amerikanische Staatswesen war eine Republik der Säufer“
Nach dem Sieg gegen die Briten 1783 brachen die alten Konflikte in den USA wieder aus. Ein Symptom war der Konsum von Whisky und Rum. Amerikaner tranken doppelt so viel wie Russen und Schweden - mit fatalen Folgen.
 
Zu den erstaunlichen Beobachtungen für Besucher der USA gehört der Umgang mit Alkohol. Er ist mitunter schwerer zu bekommen als Schusswaffen, darf erst ab 21 Jahren konsumiert werden und erscheint in der Öffentlichkeit meist von braunen Papiertüten umhüllt. Das wird gern mit dem Nachwirken des 18. Zusatzartikels zur US-Verfassung erklärt, der von 1920 bis 1933 „Erzeugung, Verkauf oder Transport berauschender alkoholischer Getränke“ verbot.
Die Ratifizierung des Artikels im Januar 1919 verdankte sich der nachhaltigen Agitation der Abstinenzbewegung, in der Gruppen wie die Prohibition Party, die Woman’s Christian Temperance Union oder die Anti-Saloon League den Ton angaben. Deren Argumentation, die sich auf die Bibel, Moral und medizinische Erkenntnisse stützte, wurde allerdings auch durch die Erinnerung an eine Zeit gestärkt, in der die Amerikaner zu den größten Trinkern des Planeten gehörten.
Nach ihrem Sieg im Befreiungskrieg gegen die britische Herrschaft stand die junge Republik vor dem Kollaps. Denn die Revolution und der gemeinsame Kampf hatten die sozialen Verwerfungen in den 13 Kolonien nur für einige Zeit in den Hintergrund gedrängt. Nach dem Frieden von Paris 1783 drängten sie erneut mit Macht auf die Tagesordnung.

In der sklavenhaltenden Plantagenwirtschaft des Südens hatte die Pflanzeraristokratie die Macht. Im Norden bildeten reiche Bürger und Unternehmer die Oberschicht, die sich durch erfolgreiche Neureiche vergrößerte. Diesen Eliten stand die übergroße Mehrheit gegenüber, die mit einer kleinlandwirtschaftlichen Subsistenzökonomie ihren Traum vom Leben in der Neuen Welt mehr schlecht als recht zu realisieren suchte. Hinzu trat in der sich formierenden Industrie des Nordens eine Arbeiterschaft, die oft am Existenzminimum vegetierte.

Die sozialen Ungleichheiten waren infolge des Unabhängigkeitskrieges noch größer geworden, schreibt der Münchner Historiker Michael Hochgeschwender in seinem Buch „Die Amerikanische Revolution“. Als einen Ausdruck der Krise macht er die weitverbreiteten Alkoholismus aus, der die junge Republik prägte.
Brewery at Guttenburg, on the Hudson river, United States of America, illustration from the magazine The Illustrated London News, volume XLV, December 3, 1864. Getty ImagesGetty Images 
Brauerei in Guttenburg am Hudson
Schon zum Frühstück standen Wein oder Bier auf dem Tisch. Das hatte nicht zuletzt hygienische Gründe, waren vergorene Getränke doch oft weniger gefährlich als das oft verseuchte Wasser. Da die Lebenserwartung deutlich kürzer war als in der Gegenwart, bekamen die meisten Konsumenten die negativen Folgen ihres Trinkens nicht mehr mit. Alkohol verschaffte zudem in den langen Abenden und Wintern ein Gefühl der Wärme und Entspannung, kaschierte die Langeweile und konnte ein klassenübergreifendes Gemeinschaftsgefühl stiften.

Schon vor der Revolution hatten Whisky und Rum allerdings auch für Kleinkriege zwischen Familien und Dörfern gesorgt und manche Schlägerei angetrieben, die sich zur lokalen Revolte auswuchs. Hinzu kamen die kostenlosen Gelage, die von Kandidaten in Wahlkämpfen und an Wahltagen erwartet wurden und ein wichtiges Argument für Wähler war, wem sie ihre Stimme geben würden. Thomas Jefferson scheiterte bei seiner ersten Bewerbung für das House of Burgesses, weil er sich weigerte, diese Erwartungshaltung der Wähler zu befriedigen.
Pennsylvania tax rebels tar and feather a federal tax collector during the Whiskey Rebellion, Pennsylvania, 1794. The Whiskey Rebellion was a reaction to the excise tax of 1791 introduced by Treasury Secretary Alexander Hamilton. Settlers in Pennsylvania counties west of the Alleghenies, who were mainly of Scotch-Irish descent, relied on whiskey for their livelihood and considered the tax to be discriminatory. Protests and eventually riots broke out in 1794 against the enforcement of the law. The rebellion was quashed by troops issued to the area by President George Washington and several arrests were made. Getty ImagesGetty Images 
Eintreiber der Whisky-Tax wurden von aufgebrachten Siedlern geteert und gefedert
Aber nicht nur die Wahlen boten Anlass zu rauschhaftem Alkoholkonsum. Bei jedem Fest und selbst beim abendlichen Vergnügen im Wirtshaus sorgten Whisky und andere hochprozentige Getränke für Unruhen aller Art, schreibt Hochgeschwender. „Das war der Normalzustand. In der postrevolutionären USA nahm das Alkoholproblem aber inflationär überbordende Züge an.“

Historiker haben errechnet, dass Amerikaner um 1800 pro Kopf 26 Liter reinen Alkohols zu sich nahmen – und dabei waren Frauen und Kinder mitgerechnet. Zum Vergleich: nach denselben Kriterien liegt der Wert für Deutschland heute bei 9,6 Litern reinem Alkohol pro Kopf.

Aber auch in ihrer Zeit waren die 26 Liter ein außergewöhnlicher Wert. „Die bereits in der Vormoderne wegen ihrer Trunksucht bekannten Russen und Schweden kamen mit rund zwölf Litern nicht einmal auf die Hälfte. Das amerikanische Staatswesen war eine Republik der Säufer“, resümiert Hochgeschwender. Betrunkene Pastoren lallten vor angeheiterten Gemeinden ihre Predigten. Örtliche Honoratioren hatten ebenso wie Kleinbauern oft genug ihre liebe Not, sich torkelnd auf den Beinen zu halten.
Washington führt seine Truppen nach Pennsylvania (ca. 1795)1794 schlug Präsident George Washingten persönlich die Whisky-Rebellion in Pennsylvania nieder
Als die Administration des ersten US-Präsidenten George Washington auf die Idee verfiel, die Schulden des Unabhängigkeitskrieges mit Hilfe einer Steuer auf die Whisky-Brennerei zu tilgen, kam es 1794 in Pennsylvania zu einem regelrechten Aufstand. Washington musste Milizen mobilisieren, um Tausende aufgebrachte Siedler zur Räson zu bringen, die das Brennen und den Konsum von Schnaps für ein Bürgerrecht hielten. Schließlich wurde die Steuer abgeschafft, weil sie nicht den erhofften Ertrag erbrachte.

Es waren vor allem sittenstrenge Aufklärer und evangelikale Prediger, die dem Alkoholkonsum den Krieg erklärten. Trinker wurden zu unmoralischen Versagern erklärt, die ihre Familien und Arbeitsstätten ruinierten. Ihre berauschten Seelen seien leichte Opfer des Teufels. Diese Perspektive fand ihre Argumente auch in Erfahrungen mit (und Klischees von) Einwanderergruppen, die mit den Traditionen der Pilgerväter wenig gemein hatten. Deutschen etwa wurde der Hang zum Bier verübelt, Iren die Freude am Whisky. Gegen deren illegale Brennereien in Brooklyn wurden nach dem Bürgerkrieg regelrechte Kriege geführt.

Ins Fadenkreuz der Abstinenzler gerieten auch Katholiken, die dem Kreuzzug gegen die Trinkerei eher distanziert gegenüberstanden. Ein Bischof wurde mit der spöttischen Bemerkung zitiert, er verstehe die ganze Aufregung nicht; die beste Maßnahme gegen übermäßigen Alkoholgenuss sei der bewusste Genuss guten Weines.

Aus dem ernsten Ringen mit dem Dämon Rum, so das Fazit, wurde der unerbittliche Krieg gegen Rum und Rom. Das Ergebnis war die Prohibition, das letzte gemeinsame Projekt von progressiven Aufklärern und Evangelikalen. Der 18. Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung brach allerdings einer anderen Seuche Bahn: dem organisierten Verbrechen.

 
Nota. - Das Recht freier Männer, Alkohol zu brennen, war ebenso eine Errungenschaft der amerikanischen Revolution, wie das Recht, Waffen zu tragen. An letzterem ächzt Amerika noch heute.
JE

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