aus Tagesspiegel.de, 20.06.2019
Werden verlorene Geldbörsen eher eingesteckt, wenn sie viel Geld enthalten? Genau das haben Forscher jetzt untersucht. Das Ergebnis überraschte nicht nur sie.
Wie Menschen mit einer gefundenen Geldbörse umgehen, und ob es einen Unterschied macht, ob viel oder wenig Geld darin ist, haben Forscher aus der Schweiz und den USA in 355 Städten in 40 Ländern untersucht. Das Resultat: Je mehr Geld in der Brieftasche war, desto ehrlicher waren die Menschen. Das berichtet das Team um Michel André Maréchal von der Universität Zürich im Fachblatt "Science".
Menschen erwarteten wenig von Menschen
Die Wissenschaftler befragten zudem Top-Ökonomen und Bürger nach ihrer Einschätzung, wie Menschen mit gefundenen Geldbörsen umgehen würden. Beide Gruppen erwarteten mehrheitlich, dass Menschen größere Beträge eher behalten würden. "Die Studie zeigt, dass wir ein zu negatives Menschenbild haben", sagt Mitautor Christian Lukas Zünd von der Universität Zürich der Deutschen Presse-Agentur. Menschen seien ehrlicher als gedacht.
Zu dem Versuch gehörten gut 17.000 Geldbörsen mit Visitenkarten, teils mit Schlüsseln und Geldbeträgen verschiedener Höhe. Helfer der Forscher behaupteten, sie gefunden zu haben, und gaben sie am Empfang von Institutionen ab – etwa an Hotelrezeptionen, Banken, Kinokassen, Poststellen, Polizeiwachen oder Ämtern. Die Forscher achteten darauf, wie oft die Brieftaschen ihren Weg zurück zum vermeintlichen Besitzer fanden.
Schlüssel im Portemonnaie erhöhen die Rückgabequote
Die Resultate: Zum einen wurden Geldbörsen mit Schlüssel unabhängig vom Geldbetrag öfter zurückgegeben als solche ohne Schlüssel. Die Forscher schließen daraus, dass Finder – in diesem Fall also die Menschen am Empfang von Institutionen – oft selbstlose Motive haben, denn der Schlüssel hat für den Besitzer Wert, nicht für den Finder.
Die große Überraschung für die Forscher war aber, dass zwar der Geldbetrag in der Börse einen Unterschied machte, aber umgekehrt wie erwartet: Je höher die Beträge waren, desto mehr Geldbörsen wurden zurückge- geben. Die Besitzer von 51 Prozent der Geldbörsen, die etwa zwölf Euro enthielten, wurden kontaktiert, bei den Börsen ohne Geld wurden nur 40 Prozent kontaktiert. In einer kleineren Nachstudie in Polen, den USA und Großbritannien stieg die Quote bei 80 Euro im Portemonnaie sogar auf 71 Prozent.
Ehrlichkeit kennt keine Grenzen – aber Länderunterschiede
Dieses Muster fanden die Forscher zwar in nahezu allen 40 Ländern. Allerdings waren die Rückgabequote doch unterschiedlich: Bei Geldbörsen ohne Geld waren die Schweizer am ehrlichsten, bei größeren Geldbeträgen Dänen, Schweden und Neuseeländer. Deutschland lag bei Börsen ohne Geld an neunter, bei Börsen mit Geld an elfter Stelle.
Die Autoren – Verhaltensforscher und Ökonomen – erklären das Resultat damit, dass Menschen sich beim Einbehalten größerer Beträge eher als Diebe fühlen. Mit diesem Selbstbild könnten viele aber schlecht leben. "Die psychologischen Kosten sind gewichtiger als der materielle Gewinn", folgert Mitautor Alain Cohn von der Universität von Michigan. "Menschen wollen sich als ehrliche Personen sehen, nicht als Diebe", sagt Maréchal.
Insgesamt fanden mehr als 8.000 der gut 17.000 Börsen zu ihren vermeintlichen Besitzern zurück. Nicht wieder aufgetaucht sind unter anderem Fundstücke, die bei zwei Korruptionsbehörden abgegeben worden waren.
Eine Studie aus dem echten Leben
Was bringt die Studie? Einzelne Studien hätten wiederholt gezeigt, dass Menschen ehrlich sein wollten, sagt Zünd. "Unsere Studie zeigt nun, dass dies ein globales Phänomen ist, in armen und reichen Ländern, bei Männern und Frauen, bei jung und alt."
Nutzen aus solchen Studien könnten Behörden und Unternehmen ziehen. "Man kann Menschen besser moti- vieren, ehrliche Antworten zu geben, wenn man sie bei ihrer Ehre packt", so Zünd. Der häufig am Ende von Formularen gedruckte Zusatz "Ich versichere, alle Fragen wahrheitsgemäß beantwortet zu haben" sollte besser am Anfang stehen, dann gebe es mehr wahre Antworten. Und Studenten schummelten weniger, wenn sie vor der Prüfung einen Ehrenkodex unterzeichnen müssten. Auch Steuerbehörden könnten prüfen, wie sie mit solchen einfachen Mitteln Betrügereien verhindern können.
Johannes Haushofer von der Universität Princeton in den USA spricht von einer "wirklich hervorragenden Studie" – auch weil die Untersuchung von Ehrlichkeit in einer Alltagssituation erfolgt sei und nicht im Labor. "Die Größenordnung dieses Experimentes ist wirklich außergewöhnlich und sucht in der Sozialwissenschaft ihresgleichen", sagt der Psychologe und Wirtschaftsökonom, der nicht an der Arbeit beteiligt war. "Meine Vorhersage ist, dass diese Studie eine ganze Reihe von Folgeuntersuchungen anregen wird, die uns mehr über die Faktoren sagen, die ehrliches Verhalten ermöglichen."
(dpa/rif)
Nota. - Dass angelsächsische Forscher meinen, Moralität sei eine Variation über das Thema des größten Vorteils der größten Zahl, würde niemand überraschen. Bei mitteleuropäischen Schweizern, denen allerdings eine beson- ders enge Beziehung zum Geld nachgesagt wird, erstaunt es schon eher.
Dabei geht es nicht einmal beim Recht um den gegenseitigen Vorteil, sondern um die gegenseitige Anerkennung als Gleiche. Seinen unübertrefflichen Ausdruck findet dieser Gedanke in der mittlerweile allgemein gültigen Fiktion vom Gesellschaftsvertrag.
Ganz anders in der Moral. Da muss sich keiner mit mir vertragen als ich selbst. Moralität ist das Verlangen nach Anerkennung durch mich. Nicht was ich andern schulde lehrt mich "die Moral", sondern was ich mir selber schuldig bin, gebietet mir mein Gewissen auf Schritt und Tritt immer wieder neu.
Für einen faulen Schluderer halte ich mich sowieso, bei kleinen Summen lass ich fünfe gerage sein. Aber mich für einen Dieb halten müssen will ich nicht.
JE
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