Handelsblatt
aus derStandard.at, 30. 6. 2022
Der ehemalige griechische Finanzminister und Vorsitzende der Partei MeRA25, Yanis Varoufakis, geht in seinem Gastkommentar der Frage nach, wer schuld an den galoppierenden Preisen ist.
Die Schuldzuweisungen für die steigenden Preise sind in vollem Gange: Wurde die Inflation durch zu viel Zentralbankgeld verursacht, das über zu lange Zeit verteilt wurde? Ist China schuld, wohin der größte Teil der physischen Produktion verlegt wurde, bevor die Pandemie das Land in den Lockdown getrieben und die weltweiten Lieferketten zerstört hat? War es Russland, dessen Invasion in der Ukraine einen großen Teil des weltweiten Angebots an Gas, Öl, Getreide und Dünger vom Markt genommen hat? Oder war es eine Art schleichender Übergang von vorpandemischer Sparpolitik hin zu ungehemmter fiskaler Freigiebigkeit?
Die Antwort darauf steht in keinem Lehrbuch: alle und gleichzeitig keiner der oben genannten Gründe.
Große Wirtschaftskrisen ziehen häufig eine Vielzahl von Erklärungen nach sich, die alle richtig sind, aber am entscheidenden Punkt vorbeigehen. Als 2008 die Wall Street kollabiert ist, was zur weltweiten großen Rezession geführt hat, wurden verschiedene Gründe angeboten: die Beeinflussung der Regulierungsbehörden durch Finanziers, die in der kapitalistischen Hackordnung die Industriellen verdrängt haben; eine kulturelle Vorliebe für riskante Finanzierungen; die Unfähigkeit der Politiker und Ökonomen, zwischen einem neuen Paradigma und einer massiven Blase zu unterscheiden; und weitere Theorien. Alle waren richtig, aber keine ging der Sache wirklich auf den Grund.
Und dies gilt auch heute. Die "Wir haben es euch ja gesagt"-Monetaristen, die bereits seit 2008, als die Zentralbanken mit der massiven Vergrößerung ihrer Bilanzen begannen, eine hohe Inflation vorhersagen, erinnern mich an die Freude der Linken in jenem Jahr, die ständig den Tod des Kapitalismus "vorhersagen" – wie eine still stehende Uhr, die zweimal am Tag die richtige Zeit anzeigt.
Andere Gründe
Natürlich haben die Zentralbanken – in der falschen Hoffnung, das Geld werde in die Realwirtschaft durchsickern – enorme Verbindlichkeiten und damit eine massive Inflation der Vermögenswerte geschaffen – boomende Aktien- und Immobilienmärkte, den Krypto-Trend und so weiter. Aber aus der Erklärung der Monetaristen geht nicht hervor, warum die großen Zentralbanken zwischen 2009 und 2020 noch nicht einmal die Geldmenge innerhalb der Realwirtschaft steigern konnten – ganz zu schweigen davon, die Inflation der Verbraucherpreise auf ihr Zwei-Prozent-Ziel zu bringen. Die Inflation muss also andere Gründe haben.
Ein wichtiger Faktor war sicherlich die Unterbrechung der auf China fokussierten Lieferketten, ebenso Russlands Invasion in der Ukraine. Aber keiner dieser Gründe erklärt den abrupten westlichen "Regimewechsel" von hartnäckiger Deflation hin zum Gegenteil: zur gleichzeitigen Erhöhung aller Preise. Eigentlich müsste dazu die Lohninflation die Preisinflation überholen und damit einen Teufelskreis auslösen, in dem Lohnerhöhungen zu weiteren Preiserhöhungen führen, die wiederum zu steigenden Löhnen führen, ad infinitum. Nur dann wäre es für die Zentralbanker vernünftig zu fordern, dass sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für die Gemeinschaft opfern und keine höheren Löhne verlangen.
Aber in der heutigen Lage sind Forderungen, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollten auf Lohnerhöhungen verzichten, absurd. Alles deutet darauf hin, dass die Löhne und Gehälter – im Gegensatz zu den 1970ern – viel langsamer steigen als die Preise, und trotzdem geht der Preisanstieg nicht nur weiter, sondern beschleunigt sich sogar noch.
Höhere Renditen
Was passiert hier also wirklich? Meine Antwort: Ein Machtspiel, das die Konzerne, die Wall Street, die Regierungen und die Zentralbanken in den letzten 50 Jahren geführt haben, ist furchtbar schiefgegangen. So stehen die Entscheidungsträger des Westens nun vor einer unmöglichen Wahl: entweder Konzerne oder sogar Staaten in den sich gegenseitig verstärkenden Bankrott zu schicken oder die Inflation einfach laufen zu lassen.
50 Jahre lang konnte die US-Wirtschaft die Nettoexporte Europas, Japans, Südkoreas und dann Chinas und anderer Schwellenländer aufnehmen, während der Löwenanteil dieser ausländischen Gewinne auf der Suche nach höheren Renditen wieder an die Wall Street strömte. Auf dem Rücken dieses Kapital-Tsunamis in Richtung Amerika bauten die Finanziers Pyramiden privaten Geldes (wie Optionen und Derivate) auf, um den Konzernen die Mittel dafür zu verschaffen, ein weltweites Labyrinth von Häfen, Schiffen, Lagerhäusern, Speichern und Transportmöglichkeiten aufzubauen. Als diese Pyramiden durch den Crash von 2008 einstürzten, geriet das gesamte, durch Derivate finanzierte Labyrinth der globalen Just-in-time-Lieferketten in Gefahr.
Um nicht nur die Banker, sondern auch das Labyrinth selbst zu retten, sprangen die Zentralbanken ein, um die Pyramiden der Finanziers durch öffentliche Gelder zu ersetzen. Unterdessen haben die Regierungen staatliche Ausgaben, Arbeitsplätze und Dienstleistungen abgebaut. So konnte sich das Kapital über einen großzügigen Sozialismus freuen, während die Arbeit strengen Sparmaßnahmen unterworfen wurde. Die Löhne sanken, die Preise und Gewinne stagnierten, aber der Preis für die von den Reichen gekauften Vermögenswerte und damit ihr Reichtum ging durch die Decke. So fielen die Investitionen – im Verhältnis zum verfügbaren Geld – auf ein Allzeittief, die Kapazitäten sanken, die Macht der Märkte boomte, und die Kapitalisten wurden nicht nur reicher als je zuvor, sondern auch immer abhängiger vom Geld der Zentralbanken.
Dann kam die Pandemie
Es war ein neues Machtspiel: Der
traditionelle Kampf zwischen Kapital und Arbeit um ihren jeweiligen
Anteil am Gesamteinkommen durch Gewinn- und Lohnerhöhungen ging weiter,
war aber nicht mehr die Hauptquelle des neuen Reichtums. Nach 2008
führten die allgemeinen Sparmaßnahmen zu niedrigen Investitionen
(geringer Geldnachfrage), die gemeinsam mit der reichlich vorhandenen
Zentralbankliquidität (Geldmenge) den Preis des Geldes (Zinsen) in der
Nähe von null hielten. Bei abnehmenden Produktionskapazitäten (sogar im
Bausektor), Mangel an guten Arbeitsplätzen und stagnierenden Löhnen
triumphierte der Reichtum auf den Wertpapier- und Immobilienmärkten, die
sich von der Realwirtschaft abgekoppelt hatten.
Dann kam die Pandemie, und mit ihr änderte sich eine wichtige Sache: Die westlichen Regierungen waren gezwungen, einen Teil der neuen Zentralbank-Geldschwemme an die im Lockdown sitzenden Massen zu vergeben – innerhalb einer Wirtschaft, die seit Jahrzehnten ihre Kapazitäten zur Warenproduktion abgebaut hatte und nun auch noch vor zerstörten Lieferketten stand. Als die Menschen im Lockdown dann einen Teil ihres "Heimaturlaubsgeldes" für knappe Importe ausgaben, begannen die Preise zu steigen. Konzerne mit großem Papiervermögen reagierten darauf, indem sie ihre immense Marktmacht (aufgrund ihrer geschrumpften Produktionskapazitäten) dazu nutzten, die Preise durch die Decke zu treiben.
Was jetzt?
Nach zwei Jahrzehnten eines durch die Zentralbanken unterstützten Goldrauschs, der durch steigende Vermögenspreise und immer höhere Unternehmensverschuldung geprägt war, mussten die Preise nur geringfügig steigen, um das Machtspiel, von dem die Welt nach 2008 im Sinne einer wiederbelebten regierenden Klasse geprägt wurde, zu beenden. Aber was passiert jetzt?
Wahrscheinlich nichts Gutes. Um die Wirtschaft zu stabilisieren,
müssen die Behörden zuerst die exorbitante Macht einer kleinen Elite
brechen, die durch eine Politik der Erzeugung von Papiervermögen und
günstigen Schulden zu Reichtum gekommen ist. Aber diese Begünstigten
werden sich nicht kampflos ergeben, auch wenn das bedeutet, gemeinsam
mit der Gesellschaft in Flammen aufzugehen. (Übersetzung: Harald Eckhoff, Copyright: Project Syndicate, 30.6.2022)
Yanis Varoufakis ist ehemaliger Finanzminister von Griechenland und Vorsitzender der MeRA25-Partei sowie Professor für Ökonomie an der Universität von Athen.
Nota. - Ich erinnere mich gern an Varoufakis als Minister. Ein Mann mit einem zu scharfen Verstand, um Doktrinen aufzusitzen, und mit genügend Selbstbewusstsein, um sich nöitgenfalls allein gegen alle zu stellen. Ins Europaparlament ist er auch mit meiner Stimme gewählt worden. Leute wie den gibt es in der Politik viel zu wenige. Irren können auch die, aber sie können unerwartete Konstellationen eher durchschauen als die Routiniers in ihren "Zusammenhängen".
JE
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen