Freitag, 3. Juni 2022

Die Geburt der Türkei im Massaker.

aus nzz.ch, 3. 6. 2022                      Der Brand von Smyrna zerstört nach der Eroberung durch türkische Kräfte im September 1922 die christlichen Quartiere der Stadt

Als Smyrna zu Izmir wurde.
Für Jahrhunderte lebten Muslime und Christen friedlich nebeneinander. 1922 kam das blutige Ende der kosmopolitischen Stadt. Mit dem Brand von Smyrna siegte Mustafa Kemal Atatürk im Griechisch-Türkischen Krieg. Eine ganze Epoche Kleinasiens fand damit ihren Abschluss. Es folgten Vertreibung und andauernder Hass.

«Smyrna in Flammen»: Der Titel des vorliegenden Buches verweist auf die Zerstörung der Hafenstadt Smyrna, des heutigen Izmir, vor hundert Jahren. Im Griechisch-Türkischen Krieg, der nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ausgebrochen war, wurde die Stadt an der Ägäisküste im September 1922 durch türkische Truppen erobert; sie töteten rund 100 000 Einwohner, vor allem Griechen und Armenier, und legten den Ort in Flammen. Weitere 100 000 Menschen wurden deportiert.

Auf diese Ereignisse kommt der Historiker und Journalist Lutz C. Kleveman allerdings erst recht spät in seinem Buch zu sprechen, genau gesagt nach knapp 250 Seiten, weit nach der Hälfte. Das ist einerseits irritierend. Doch andererseits ist dieser Vorlauf angemessen, um die politische Komplexität und die gesellschaftliche Heterogenität herauszustellen, die sowohl Smyrna als auch den gesamten Südosten Europas im 19. und frühen 20. Jahrhundert prägten.

Türkische Soldaten beim Marsch Richtung Izmir, September 1922

Ganze Völker im Krieg

Smyrna hat ab 1918 unter griechischer Oberhoheit gestanden. Zuvor war es Teil des Osmanischen Reichs gewesen. Dieses sollte 1922 endgültig zerfallen, doch schon viel früher hatte ein schleichender Niedergangsprozess eingesetzt. Jahrzehntelang wurde das Vielvölkerreich durch die widerstreitenden Interessen der europäischen Grossmächte aufrechterhalten, allen voran Deutschlands, das in der Türkei einen wichtigen Verbündeten sah.

Derweil hatte sich in den osmanisch okkupierten Balkanstaaten die Idee der Nation sukzessive verbreitet. Allerdings lagen die Kriterien dafür, wer als Türke, Serbe, Montenegriner, Grieche oder Bulgare galt, meist im Auge des Betrachters. Mit verheerenden Folgen: In den beiden Balkankriegen 1912/13, in denen die Staaten Südosteuropas zunächst vereint die osmanische Besatzung zurückdrängten, um anschliessend im Streit um die Beute übereinander herzufallen, erreichten die nationalen Streitigkeiten selbst für kriegsgewohnte europäische Zeitgenossen einen abschreckenden Höhepunkt.

Mit Grauen blickte man in Berlin, Paris und London auf die Brutalität der dortigen Kriegsführung, wo sich, so formulierte es die Londoner «Times» im Herbst 1912, nicht wie in den zivilisierten Kriegen des Westens reguläre Armeen bekämpften, sondern sich ganze Nationen in einem Volkskrieg gegenseitig auszumerzen versuchten.

Kosmopolitisches Smyrna

Die Geschichte Smyrnas, die Kleveman in einer Mischform aus historischer Betrachtung und persönlichem Reisebericht anschaulich darlegt, bündelt die bewegte Geschichte der Region wie unter einem Brennglas. Ausführlich beschreibt der Autor das kosmopolitische Flair der seit dem 17. Jahrhundert prosperierenden Hafen- und Handelsstadt, die Menschen aus ganz Europa anzog und eine gesellschaftliche und soziale Vielfalt beförderte, welche man in den grossen europäischen Hauptstädten vergebens suchte.

Tausende kleinasiatischer Griechen bringen sich bei Smyrna vor der Armee Atatürks in Sicherheit.

Jahrhundertelang lebten Muslime, Christen und Juden in Smyrna in friedlicher Koexistenz, sie formten eine Art «levantinische Synthese», wie man sie auch aus anderen Mittelmeermetropolen in der Region kannte, etwa aus Salonica, dem heutigen Thessaloniki.

Kleveman macht kein Hehl daraus, wie sehr ihn dieses freie und weltoffene Smyrna fasziniert, diese wohlhabende und moderne Gesellschaft, in der auch Neuankömmlinge aus anderen Kulturen ihren Platz fanden. Seine Exkurse zur Flüchtlingskrise des Jahres 2015/16 sowie der Appell zu einer humaneren europäischen Asylpolitik sind vor diesem Hintergrund nachvollziehbar, wirken im Handlungsfluss jedoch auch etwas wohlmeinend-bemüht. Überhaupt verheddert sich der Autor immer wieder auf tagespolitischen Nebenschauplätzen, die wenig zur Erhellung seines eigentlichen Themas beitragen.

Auf den Ruinen des Osmanischen Reiches

Wie in der Region insgesamt beförderte auch in Smyrna das nationale Zeitalter das Aufkommen von Ressentiments und blutigen Konflikten. Als die Griechen nach Ende des Ersten Weltkrieges die kleinasiatischen Besitztümer des Osmanenreichs für sich beanspruchten, führte dies auch zu gewaltsamen Ausschreitungen in Smyrna. Die militärische Gegenoffensive unter der Führung Mustafa Kemal Atatürks zielte darauf ab, Smyrna mit Gewalt zu homogenisieren und einem modernen türkischen Nationalstaat zuzuschlagen, den es aus den Ruinen des Osmanischen Reichs zu errichten galt. Angetrieben von dieser Idee, liess Atatürk Smyrna im September 1922 in Flammen aufgehen.

Oktober 1922: Eine Menschenmenge feiert die Einnahme von Izmir mit der türkischen Flagge

Wie der türkische Völkermord an den Armeniern 1916, der ebenfalls auf die Vereinheitlichung der türkischen Nation abzielte, sind auch die Ereignisse des Jahres 1922 bis heute ein Tabu in türkischen Schulen und im öffentlichen Diskurs des Landes.

So tragisch die Ereignisse, so pragmatisch die Reaktionen der europäischen Politik: In Lausanne einigte man sich im Sommer 1923 auf die neuen Staatsgrenzen zwischen der Türkei und Griechenland. Um künftige Konflikte zu vermeiden, vereinbarten die Länder einen grossangelegten Bevölkerungsaustausch, in dessen Verlauf knapp zwei Millionen Menschen ihre Heimat verloren. Das Zeitalter des Nationalismus hatte auch im Südosten Europas obsiegt. Klevemans Verdienst ist es, diese für den weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts wegweisenden historischen Weichenstellungen hundert Jahre nach den Ereignissen in Erinnerung gerufen zu haben.

Lutz C. Kleveman: Smyrna in Flammen. Der Untergang der osmanischen Metropole 1922 und seine Folgen für Europa. Aufbau-Verlag, Berlin 2022. 381 S., Fr. 37.90.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen