Roms Untergang
Der Preis der Verdichtung
Von Uwe Walter
Allgemeinhistoriker pflegen im Verhältnis zu den Naturwissenschaften meist Distanz. Doch gab es auch bis weit ins zwanzigste Jahrhundert immer wieder Versuche, zumal in der Vogelschau auf die historische Entwicklung der Menschheit, Stufen oder quasinaturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten zu identifizieren, um jenseits der individualisierenden historischen Hermeneutik auch im großen Maßstab zwingende Deutungen zu entwickeln – am besten noch solche mit Prognosekraft. Diese nomologischen Bemühungen führten allerdings letztlich in eine Sackgasse.
Doch auch die viel jüngere, von mehreren „turns“ gespeiste kulturalistische Bewegung erweist sich allmählich als steril: Historische Katastrophen und Abbrüche sind nicht lediglich sprachliche Kennzeichnungen oder Konstruktionen, und inhuman verfährt, wer existentielle Erfahrungen von vergangenen Akteuren zu bloßen Diskursen banalisiert. „Facts on the ground“, so die Praktiken des Wirtschaftens oder Kriegführens, spielen wieder eine größere Rolle. Hinzu kommt: Wir haben heute aus den Archiven der Natur einfach viel mehr Daten als noch vor zwei, drei Jahrzehnten, um auch für ferne Vergangenheiten zu ergründen, wie viele Menschen wann wo gelebt haben, wie sie sich ernährt haben und woran sie in welchem Alter gestorben sind.
Wie die Naturwissenschaften Aufschluss geben können
Dieser empirische Fortschritt mag in
manchen Fällen problematische Folgen zeitigen, wenn etwa über
DNA-Untersuchungen an großen Mengen menschlicher Überreste auf einmal
wieder ein essentialistischer Volksbe- griff buchstäblich dem Grab
entsteigt. Doch sollen deswegen Erkenntnismöglichkeiten gleich ganz
ausgeschlossen werden? Oder nur deshalb, weil die Daten im Detail
strittig sind und nicht exakt zu bestimmen ist, welchen Einfluss genau
Klimaveränderungen und Seuchen auf den überaus komplexen Großprozess
hatten, den wir seit Gibbon den „Untergang des Römischen Reiches“
nennen? Man muss beileibe kein Greta-Jünger sein, um die Umwelt als
einen veränderlichen, unter den Bedingungen einer vormodernen
Knappheitsökonomie zugleich einflussreichen Faktor von Geschichte zu
sehen. Und Streit um Fakten und Gewichtungen gehört in jede
Wissenschaft.
Der
Althistoriker Kyle Harper jedenfalls bettet in seiner vieldiskutierten
Rekonstruktion der Krisen und Transformationen, die in der langen
Spätantike in Europa und im Vorderen Orient abliefen, den Klimawandel
sowie die drei großen Pandemien des zweiten, dritten und sechsten
Jahrhunderts in ein breites Panorama ein. Fern von einem gern
beargwöhnten szientifischen Determinismus, sieht er das Ende des
Imperium Romanum keinesfalls als einen kontinuierlichen, zwangsweise zum
Ruin führenden Niedergang, sondern als „eine lange, verschlungene und
durch vielerlei Umstände bedingte Geschichte, bei der ein resilienter
politischer Verband zunächst standhielt und sich neu organisierte, bis
er, zuerst im Westen, dann auch im Osten, zerfiel“. Im Rückblick zeige
sich ein „extrem durch Zufälle bedingtes Wechselspiel von Natur,
Demographie, Wirtschaft und Politik“, wobei nicht zuletzt die
Glaubenssysteme, die wiederholt erschüttert und neu formiert wurden,
eine Rolle spielten. Wenn Harper vorsichtig, mit Hilfe multikausaler
Klimamodelle argumentiert oder die Evolution von Seuchenerregern in
Nagetierpopula- tionen nachzeichnet, wird das Buch streckenweise zu einer
anspruchsvollen Lektüre, freilich balanciert durch – bisweilen allzu
griffige – Metaphern und Merksätze wie „Bakterien sind noch weitaus
tödlicher als Barbaren“.
Die Vorteile des Klimas
In den vier Centennien bis 150 nach
Christus hatte das – zunächst mit brutaler Gewalt geschmiedete –
Imperium von kluger Politik und sicheren Handelswegen profitiert, doch
die Blüte der Landwirtschaft und der Städte wäre ohne besonders günstige
klimatische Bedingungen nicht möglich gewesen. Das sogenannte „Roman
Climate Optimum“ ist in der Forschung als Faktum unstrittig. Zwar
herrschten im Mittelmeerraum schon damals zahlreiche, oft auf kleinem
Raum sehr unterschiedliche Mikroklimata, doch insgesamt begünstigte mehr
Wärme bei höherer Feuchtigkeit die landwirtschaftliche Produktion, und
die durch eine steigende Geburtenrate – bei anhaltend hoher
Sterblichkeit – verursachte Bevölkerungszunahme setzte die ansonsten für
die Vormoderne typischen krisenhaften Kontraktionen aus. Doch mit dem
geschenkten Glück bauten die Menschen eine Umwelt, die auch besonders
anfällig war: Über die Verbindungswege der protoglobalen Ökonomie sowie
in den dichtbevölkerten Städten konnten aus Mittelasien und dem Raum des
Indischen Ozeans eingeschleppte Erreger nunmehr Pandemien auslösen, von
deren verheerender Wirkung sowohl die literarischen Zeugnisse der
Zeitgenossen wie neuerdings untersuchte Massengräber zeugen.
Wie lange die günstigen Klimabedingungen andauerten, ist unter Experten umstritten. Harper nimmt für 150 bis 450 nach Christus eine wechselvolle Übergangsperiode mit kürzeren und regionalen Ausschlägen an. Historisch ist diese Phase die interessanteste, weil die Akteure in ihrem Verlauf die miteinander verflochtenen Rückschläge durch Seuchen, Krieg und wirtschaftlich-demographischen Rückgang noch auffangen konnten und dabei eine hohe Kreativität entfalteten, wie sich am Ende des dritten Jahrhunderts unter den Kaisern Diokletian und Konstantin zeigen sollte. Doch die Ressourcen waren knapper geworden, und die Großregionen des Reiches hielten politisch nicht mehr so fest zusammen, als sich – vielleicht wegen einer massiven Klimaveränderung in der Eurasischen Steppe – die als „Hunnen“ bezeichneten Verbände in Bewegung setzten und weiträumige Migrationen auslösten.
Wie lange die günstigen Klimabedingungen andauerten, ist unter Experten umstritten. Harper nimmt für 150 bis 450 nach Christus eine wechselvolle Übergangsperiode mit kürzeren und regionalen Ausschlägen an. Historisch ist diese Phase die interessanteste, weil die Akteure in ihrem Verlauf die miteinander verflochtenen Rückschläge durch Seuchen, Krieg und wirtschaftlich-demographischen Rückgang noch auffangen konnten und dabei eine hohe Kreativität entfalteten, wie sich am Ende des dritten Jahrhunderts unter den Kaisern Diokletian und Konstantin zeigen sollte. Doch die Ressourcen waren knapper geworden, und die Großregionen des Reiches hielten politisch nicht mehr so fest zusammen, als sich – vielleicht wegen einer massiven Klimaveränderung in der Eurasischen Steppe – die als „Hunnen“ bezeichneten Verbände in Bewegung setzten und weiträumige Migrationen auslösten.
Die letzten Jahrhunderte
Welche Rolle in der Folge Kontingenz und
politisches Vermögen spielten, zeigte sich im langen fünften
Jahrhundert, als die römische Zentralgewalt im Westen erlosch, während
sich das Ostreich um Konstantinopel behaupten und zeitweise sogar Teile
des Westens zurückerobern konnte. Danach sind indes fast nur noch Leiden
und Beten zu verzeichnen. Nachdem bereits um 450 die „Spätantike Kleine
Eiszeit“ eingesetzt hatte, machten gewaltige Vulkanausbrüche die Jahre
von 536 bis 545 zur kältesten Dekade der letzten zweitausend Jahre, und
danach raffte die sogenannte Justinianische Pest etwa die Hälfte der
Bevölkerung dahin – um dann noch für etwa zweihundert Jahre endemisch zu
bleiben. Doch ebenso ausführlich kommen die großen lokalen und
regionalen Unterschiede in Art und Umfang der Katastrophen zur Sprache.
Der Überzeugungskraft von Erklärungen für zeitlich entfernte historische Vorgänge schadet es gewiss nicht, wenn dafür auch diejenigen Instrumente eingesetzt werden, von denen wir angesichts der ökologischen Probleme unserer Tage Aufschluss erwarten. Kyle Harper erzählt Roms Schwanken zwischen Fragilität und Resilienz mit wissenschaftlicher Kühle, zugleich jedoch als implizit heroischen Hymnus auf den schaffenden, ausgesetzten und leidenden Menschen. Hinter das hier vorgeführte Niveau wird die weitere Diskussion nicht mehr zurückfallen dürfen.
Der Überzeugungskraft von Erklärungen für zeitlich entfernte historische Vorgänge schadet es gewiss nicht, wenn dafür auch diejenigen Instrumente eingesetzt werden, von denen wir angesichts der ökologischen Probleme unserer Tage Aufschluss erwarten. Kyle Harper erzählt Roms Schwanken zwischen Fragilität und Resilienz mit wissenschaftlicher Kühle, zugleich jedoch als implizit heroischen Hymnus auf den schaffenden, ausgesetzten und leidenden Menschen. Hinter das hier vorgeführte Niveau wird die weitere Diskussion nicht mehr zurückfallen dürfen.
Kyle Harper: „Fatum“. Das Klima und der Untergang des Römischen Reiches. Aus dem Englischen von Anna und Wolf Heinrich Leube. C.H. Beck Verlag, München 2020. 567 S., Abb., geb., 32,– €.
Nota. - Wie sich durch die Jahrhunderte das Römische Reich ausgebildet hat - "ausbilden konnte" -, kann die Geschichtsforschung verhältnismäßig plausibel nacherzählen, und kann im Rückblick diejenigen Umstände - 'Bedingungen der Möglichkeit' - herausarbeiten, die als sogenannte Faktoren die faktischen Ereignisse richtungsweisend 'bestimmt' haben. Eine übergreifende Gestzmäßigkeit, wonach es eben so und nicht anders kommen musste, wird dagegen heute niemand mehr behaupten wollen.
Es ist auch nicht einzusehen, weshalb für den Jahrhunderte währenden Zerfall etwas anderes gelten sollte.
Es sei indessen nie vergessen, wo sich diese ganze Geschichte abgespielt hat: nämlich rund ums Mittelmeer, den größen Handelplatz der antiken Welt, der unter friedlichen Bedingungen viele Völker zu einem riesigen Kultur- und Wirtschaftsraum zusammenführte. Jahrhunderte friedlicher Bedingungen waren indes ganz ungewöhnlich, und als sie zerfielen, zerfiel das Reich.Wenn der Autor unter Fatum den Zufall versteht, hat er mit seinem Buchtitel nicht ganz Unrecht, sofern nämlich jeder einzelne der Akteure unter den vorgefundenen Bedingungen auch anders hätte handeln können. Doch unter diesen Bedingungen ist es wahrscheinlicher, dass die Menschen so handeln statt anders; und dies selbst bei zufälligen Ereignissen wie Vulkanausbrüchen, Seuchen und Klimaveränderungen.
JE
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