aus NZZ, 11. 2. 2014
Moral und Recht.
von Martin Meyer · Recht und Moral gehören zwei verschiedenen Sphären zu. Das mag gegenwärtigen Ohren da und dort unangenehm klingen, entspricht aber einer aufgeklärten Tradition für das konfliktreiche Zusammenleben unter Menschen. Während das Recht im Verhältnis zwischen Freiheit und Gehorsam regelt, was zu unterlassen ist, soll die Moral dafür sorgen, dass ein allgemein sittsames Verhalten im Sinne von Anstand und Humanität wirklich wird. In beiden Fällen ist das Mass ein entscheidendes Kriterium. Totale Verrechtlichung der Lebenssphären schränkt die Freiräume individuellen Gestaltens ein, und forcierte Moralisierung sämtlichen Tuns und Lassens führt in die Richtung des Gesinnungsterrors. Überdies übt sie teils subtil, teils ausdrücklich Macht aus, die wiederum die Herrschaftsträume bestimmter Gruppen oder Führer nährt.
Die Geschichte des Westens spielte sich oft unter schwierigen, ja gefährlichen Bedingungen zwischen den Polen von Kontrolle einerseits und Laissez-faire anderseits ab. Stets wirkten mächtige Interessen hinein, die ihre Aktivitäten nach der einen oder anderen Seite zu nutzen versuchten. Thomas Hobbes, ein grosser Philosoph des Argwohns gegenüber den menschlichen Leidenschaften, erkannte dies: nach leidvollen Erfahrungen mit diversen Formen des Bürgerkriegs, als er die Gesetzgebung von ihrer Koppelung an eine unbedingte Wahrheit zu trennen trachtete. Auctoritas, non veritas facit legem. Will heissen, wer meint, dass die Wahrheit das Recht bestimme, findet rasch einen Gegner, der ebendiese Wahrheit bestreitet und dafür eine Gegenwahrheit in Anschlag bringt. Das Resultat ist Ideologisierung, die hüben und drüben zu den Waffen ruft.
Das Politische - also der öffentlich verfasste Streit um richtige und falsche Positionen des Zusammenlebens - ist davon insofern betroffen, als die Moral oftmals dazu aufgerufen wird, Freund und Feind auf gleichsam höherer Ebene kenntlich zu machen. Moralisierung dient hierbei dazu, den Gegner ins trübe Licht verfehlten Verhaltens zu rücken. Das Recht wird dabei relativiert. Es mag zwar jemand noch immer im Bereich der Legalität sich bewegen, doch gleichwohl bleibt ihm der Makel der Unanständigkeit, bei verschärfter Lesart die Sünde der illegitimen Gesinnung: Er vergeht sich etwa am Gemeinwohl oder - wie die Tribunale der Französischen Revolution manifestierten - sogar an der Zukunft der Gattung.
Man beobachtet die jüngsten Entwicklungen öffentlich vorangetriebener Moralisierung des Daseins bis hinein in die Aktivitäten der Einzelnen im Alltag mit gemischten Gefühlen. Die Zeiten, da man akzeptiertes Wohlverhalten nur nach den Gesichtspunkten und Vorgaben der Legalität beurteilte und im Falle missbräuchlicher Handlungen - rechtens - ahndete, weichen einer Kultur des Verdachts. Man geht vielerorts und unter Berufung auf das staatlich akzeptierte beziehungsweise bei Bedarf auch staatlich zu diskreditierende Gewissen davon aus, dass Menschen, die etwa als «die Reichen» bezeichnet werden, tendenziell nur Profiteure an der Gesellschaft seien, die sich gemütlich in den Schlupflöchern des Rechts eingerichtet hätten und dabei Betrug am bonum commune verübten.
Doch auch hier geht es wesentlich um Strategien der Macht. Politik wird weniger verstanden als Ausgleich und Vereinbarung zwischen Schichten und Gruppen denn als Wettbewerb der Parteien um die Gunst der Wähler. Wo aber Staaten ihrerseits und aus eigenem Antrieb finanziell und strukturell in Schieflage geraten, wird die Schraube von höchster Stelle her angezogen. Das geht so weit, dass nicht nur deren Subjekte im Stil von missliebigen Untertanen zur Räson gerufen werden, sondern auch andere Staaten ins Visier der Moralisierung geraten. Dies betrifft nicht etwa nur sogenannte Bananenrepubliken und autoritär definierte Gebilde, sondern auch demokratisch legitimierte und mit dem Gütesiegel des Rechtsstaats versehene Gemeinwesen.
Doch Autonomie wie auch privacy haben heute einen schweren Stand. Letztere suggeriert als Realität wie als Bedürfnis fast schon a priori dunkle Absichten. Das Wunschobjekt wäre dagegen der gläserne Mensch in einem Staat, der Transparenz zwar nicht für sich selber beanspruchen möchte, doch umgekehrt immer mehr dazu neigt, sie bei seinen Bürgerinnen und Bürgern herzustellen. Legalität droht dabei zu einem schwer berechenbaren Provisorium zu werden, weil die öffentlich vorgetriebene Moral nicht ruht und danach dürstet, neue und vor allem härtere Verrechtlichungen einzusetzen. Dies alles läuft nicht deklariert unter der Flagge des Sozialismus. Aber Etiketten sind hier Nebensache.
Nota. - Er zieht die Grenze zwischen Recht und Moral nicht an der richtigen Stelle. Denn für ihn wäre auch Moral noch eine öffentliche Angelegenheit. Historisch-empirisch hat er nicht einmal Unrecht: Die nach Zeit und Ort je variierenden herrschenden Moralen beanspruchen in der Tat allgemeine Verbindlichkeit und stellen sich vor, und das heißt über das Recht. In dieser Form, als mores, pl. von mos, gute Sitte oder 'was sich gehört', drängen sie in die Politik.
Das ist ein über die Jahrhunderte und -tausende tradiertes Faktum. Eine libertäre Politik wird sich nicht zum utopischen Ziel setzen, öffentliche Moralen abzuschaffen. Sie wird aber laut und energisch darauf dringen, dass die öffentlichen Moralen ihr Maß und ihre Grenze finden - zu finden haben - an der Moralität eines jeden Einzelnen.
Merke: Die guten Sitten sind die guten Sitten und variieren nach Zeit und Ort. Sie setzen fest, was sich gehört, wenn man ein geachtetes Mitglied des Gemeinwesens sein will. Auch das Recht variiert nach Zeit und Ort. Es regelt, was ich den andern schuldig bin und sie mir. Bei Nichtbefolgung kann es wohl auch den zeitweiligen Ausschluss aud dem Gemeinwesen verhängen.
Moralität, Sittlichkeit jedoch sagt mir, was ich mir selber schuldig bin. Und das ist für das vernünftige Subjekt der letzte und oberste Maßstab. Auch für sein Tun und Lassen im Gemeinwesen, wenn auch nicht in erster Linie.
JE, 11. 2. 14
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