aus nzz.ch,
«Was für eine verteufelte Beschäftigung ist eigentlich die Jagd?» Eine gute Frage, gestellt von einem grossen Denker. Im Jahr 1943 reflektierte José Ortega y Gasset in einem Essay «Über die Jagd» und richtete den Blick, mitten im Zweiten Weltkrieg, auf den langen Verlauf der Weltgeschichte. In dieser, so hielt der spanische Kulturphilosoph fest, sei die Jagd ein Thema von «ungeheurer Grösse», und speziell in der jüngeren Zeit auch eine Tätigkeit, die den Menschen glücklich mache.
Wo dieses Glück herrührt, wollte der Autor mit seinen Reflexionen ergründen, und am Schluss des Essays war ihm die Sache klar: Beim Jagen finde der Mensch zurück zu seinem urtümlichen Wesen. Auf der Pirsch könne er den Kreis zu seinem archaischen Dasein schliessen, seinem «eingebauten» Beuteinstinkt nachgehen und also seine älteste Lebensform wiederentdecken, denn Ortega y Gasset war überzeugt, «dass das Sein des Menschen zuerst darin bestand, dass er Jäger war». Oder wie er kurz und bündig sagte: Anstatt den Menschen als Mensch zu bezeichnen, müsste man ihn eigentlich «den Jäger» nennen.
In den folgenden Jahrzehnten tat die Wissenschaft das Ihre, um Ortega y Gassets These zu stützen. «Man the Hunter» lautete der Titel eines bedeutenden Bandes aus dem Jahr 1968, in dem renommierte Anthropologen die Jagd als archetypische Lebensform des Menschen beschrieben und sie als treibende Kraft der Evolution präsentierten. Die These, dass dem menschlichen Wesen ein Jagdtrieb eignet, wurde aufgenommen und weiterentwickelt, ab den 1980er Jahren aber auch kritisiert und hinterfragt.
Neue Untersuchungen an Kieferknochen und Steinfundstücken deuteten nämlich darauf hin, dass sich die frühen Hominiden lange Zeit von Pflanzen und Früchten ernährt hatten und ihre ersten Werkzeuge nicht zum Töten, sondern zum Abschaben benutzten: Fleisch, so die Vermutung, haben unsere Vorfahren dann gegessen, wenn sie auf Aas trafen und die Hyänen ihnen davon noch mehr als die Knochen übrig gelassen hatten. Selber Tiere zu erlegen, damit haben die Hominiden demnach erst viel später begonnen, und aus dem Jäger-Menschen wurde also, weniger nobel, der Prototyp des aasfressenden Resteverwerters: «Man the Scavenger».
Vor diesem veränderten Forschungshintergrund sinniert jetzt erneut ein grosser Kulturphilosoph über das Wesen der Jagd. Roberto Calasso, der seit fast fünfzig Jahren den Mailänder Adelphi-Verlag führt, hat sich in zahlreichen eigenen Büchern mit den Mythologien antiker Kulturen beschäftigt und umkreist nun mit seinem stupenden Wissen über Geschichte und Geschichten das Thema des Jagens. «Der himmlische Jäger» heisst sein jüngst auf Deutsch erschienenes Buch (das italienische Original ist 2016 herausgekommen), und der Titel gibt die Blickrichtung vor: Man guckt nach oben, ins Sternbild des Jägers Orion, und damit auch weit nach hinten, ins Dunkel der Vorzeit, denn die Sterne, schreibt Calasso, stünden für die Erinnerung, das Himmelsgewölbe sei der Raum der Vergangenheit, «ein intaktes Museum».
Orion, der grosse Jäger, ist laut der griechischen Mythologie von der Jagdgöttin Artemis in den Himmel versetzt worden, seine «Verstirnung» deutet das Ende eines Zeitalters an: Die grosse Jagd ist vorbei, Sesshaftigkeit und Viehzucht haben das Erbeuten von Tieren überflüssig gemacht. Und doch ist die Jagd damit nicht passé, sie wird zum Vergnügen weitergeführt (als «erstes l’art pour l’art», nach Calasso), sie ist zentrales Thema unzähliger Mythen, sie wird gemalt, beschrieben und besungen, kurzum: Die Jagd erscheint in den frühen Kulturen als grosses Echo – aber welche Sache liegt diesem enormen Widerhall zugrunde?
Laut dem Italiener weist die Erinnerung an die Jagd zurück auf «das Ereignis der Ereignisse in der Geschichte», nämlich den Abschied des Menschen vom Tier durch seine Entwicklung zum Jäger. Zu dieser Gestalt musste der Mensch, der «kein geborener Räuber» war, erst werden, und nur mithilfe einer zentralen, doch bereits bekannten Technik konnte er den Wandel vollziehen: Am Anfang stand die Nachahmung. Waren unsere Vorfahren beim Aasfressen zunächst dem Vorbild der Hyänen gefolgt, begannen sie später, ebenjene Tiere zu imitieren, die ihnen selber gefährlich wurden, jene, die den frühen Menschen jagten und zur Beute machten.
Der Mensch übernahm die Vorgehensweise der Raubtiere und optimierte seine kümmerliche Jagdausstattung mit «Prothesen» – spitzen Steinen, scharfen Pfeilen –, die wiederum den Tieren, ihren Krallen oder Zähnen, nachempfunden waren. Ganz allmählich hievten sich die Hominiden auf diese Weise an die Spitze der Nahrungskette, aber der Aufstieg war nur um einen hohen Preis zu haben: Seine Einzigartigkeit erreichte der Mensch dadurch, dass er sich seinen ärgsten Feinden anglich. In dem Masse, in dem er sich von den anderen Tieren trennte und seine Vormachtstellung erlangte, trennte er sich auch von sich selbst und ging auf den Räuber zu. Eine «Doppelbewegung über Kreuz», wie Calasso meint, und ein Vorgang, der zu einer «Verwirrung» führte, «aus der nicht mehr herauszufinden war», eine «Ruhmestat und eine Schuld, ineinander verschlungen».
Inzwischen sind die meisten Menschen gemäss Calasso zwar eher wieder den Hyänen verbunden: «Sie essen, was andere getötet haben.» Trotzdem vermochte sich der Mensch vom verwirrenden Vorgang der Jagd nicht mehr zu lösen, auch in der ganzen Kultur spiegelt sich schliesslich sein Grundprinzip: Nachgeahmt wird nicht nur in Sprachen und Künsten, kopiert und rivalisiert wurde und wird auch zwischen Grossreichen, und was imitiert wird, kann, die Raubtiere zeigen es, zuweilen auch überflügelt werden. Diese Prozesse des Kopierens und Ersetzens aber sind noch längst nicht am Ende: Droht in düsteren Szenarien nicht der Mensch von ebenjenen Maschinen entmachtet zu werden, die seine eigene Intelligenz nachahmen sollen?
So setzt sich Calasso denn in einem Exkurs auch mit Alan Turing und der Digitalität auseinander, das Gros seines Buches aber bleibt in der Antike verankert, schweift dort von dieser zu jener Erzählung und ist dabei oftmals anregend und teilweise anstrengend. Zuweilen wünschte man sich eine andere Flughöhe, verliesse die himmlische Sphäre des fernen Erinnerns gerne und läse lieber geerdet von der Jagd und ihren Formen.
Eine Geschichte dieser Tätigkeit zu schreiben, beabsichtigt Calasso freilich so wenig, wie Ortega y Gasset das tat. Man kann die Meditationen der Denker durchaus sehr schätzen, darf aber auch darüber staunen, dass es an anthropologischen Reflexionen zur Jagd nicht mangelt, jedoch nur wenige historische Studien zum Thema vorliegen. Man kann das sogar ernstlich bedauern, denn jenseits jeder angenommenen Prägung aus der Urzeit ist die Jagd für die jüngere menschliche Geschichte tatsächlich von grosser, anhaltender und ganz konkreter Bedeutung: Viele Entwicklungen, die die europäischen Gesellschaften seit der Antike durchliefen, liessen sich versuchsweise als Jagdgeschichte erzählen.
Wer war zum Jagen befugt?, könnte dabei zum Beispiel eine Leitfrage lauten. Obwohl schon in der Antike oftmals die Mächtigen jagten und sich eigene Gottheiten mit der Tätigkeit befassten, war das Jagen im Prinzip allen gestattet, an manchen Orten waren die Bürger gar dazu verpflichtet. Im Mittelalter änderten sich die Dinge, der Umgang mit der Jagd spiegelte nun die Ordnung der Stände. Während sich die Könige die Nutzung der Wälder sicherten und das Recht zum Erlegen von Tieren an Landesherren und Adel weitergaben, schränkten sie die Möglichkeiten der Untertanen immer stärker ein, ja verboten ihnen das Jagen bisweilen ganz.
Trotzdem mussten auch die Vertreter des untersten Standes zur Jagd beitragen: Wollte der königliche Forstbeamte etwa gegen «feindliche» Tiere wie den Wolf vorgehen, hatten die Bauern Mannschaften für die Verfolgungskampagnen zu stellen. Unternahmen die Herrschaften einen Jagdausflug, waren die Bauern verpflichtet, ihnen Herberge und Verpflegung zu bieten, und wenn die Höfe prunkvolle Jagdfeste abhielten, tagelang töteten, tranken und schmausten, wurden die Abgaben der Bauern verschleudert.
Zu Beginn der frühen Neuzeit wuchs der Widerstand gegen diese Lasten, bei etlichen Bauernaufständen und -kriegen war die Jagd ein wichtiges Thema. Die Zugeständnisse der Obrigkeit blieben vorerst gering, dafür wuchs die Gesetzgebung an: Immer präzisere Jagdreglementierungen lassen den Trend zur absolutistischen Bürokratie erahnen. Und für das Ende des alten Regimes sorgte schliesslich auch im Bereich der Jagd die Französische Revolution: Zusammen mit verschiedenen anderen Vorrechten hoben die Franzosen das Jagdprivileg des Adels 1789 auf, viele Staaten zogen in den Folgejahrzehnten nach.
Die Freiheit aber war nicht der letzte Wert, der das Jagdwesen prägte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Natur zum Thema, das die zunehmend urbanisierten Gesellschaften umtrieb. Vermehrt wurde über die Jagd nun im Zusammenhang mit Fragen des Schutzes von Räumen, Beständen und ausgewählten Arten diskutiert, und seit dem Aufkommen der Ökologiebewegung geschieht dies mit immer grösserer Verve – ein Blick auf den gegenwärtigen Abstimmungskampf genügt.
So ist es mit der Jagd heute vielleicht tatsächlich eine verteufelte, nämlich eine verteufelt komplizierte Sache. Aber zu diesem verworrenen Gegenstand ist sie wohl nicht primär darum geworden, weil sie uns mit verborgenen Urtrieben konfrontiert oder in uns schlummernde Erinnerungen an die Vorgeschichte weckt. Eher hat die Jagd den Menschen in den vergangenen Jahrhunderten permanent beschäftigt, weil er die alte Kulturtechnik stets durch die Linse seiner wechselnden Weltanschauungen betrachtet.
Roberto Calasso: Der himmlische Jäger. Aus dem Italienischen von Reimar Klein und Marianne Schneider. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2020. 626 S., Fr. 53.90.
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden.
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