Freitag, 4. September 2020

Populismus oder radikale Mitte.

artmajeur

aus nzz.ch, 30.08.2020

Wir verstehen die Populisten bisher falsch. Sie sind Prototypen eines neuen Parteiensystems

Die europäischen Politlandschaften sind im Umbruch – und zwar schon lange. Um den gegenwärtigen Wandel zu verstehen, muss man ins Jahr 1973 blicken.

von Jan Gerber

Kein Zweifel: Mit dem Aufstieg des Populismus vollzieht sich eine der bedeutendsten Veränderungen des westlichen Parteiensystems. Um den Wandel zu erklären, bemühen Beobachter gerne historische Bilder. Ob es um den Wahlsieg von Donald Trump geht, um den Brexit, den Durchmarsch der Fünf-Sterne-Bewegung in Italien oder einen Wahlerfolg der AfD: Regelmässig sehen sich Kommentatoren an den Aufstieg des Faschismus erinnert; Mussolinis Marsch auf Rom wird in diesen Momenten ebenso aufgerufen wie die Machtübertragung auf Hitler.

Doch mit 1922 oder 1933 hat die gegenwärtige Umwälzung der Parteienlandschaft wenig zu tun. Sie ist stattdessen vor allem im Zusammenhang mit zwei anderen ikonischen Jahren zu sehen. Die Rede ist von 1973 und 1989. Denn auch wenn die Geschichte des europäischen Parteiensystems bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht, ist es vor allem ein Produkt des Kalten Kriegs.

Dieser Krieg war, wie der Historiker Dan Diner einmal schrieb, ein «Krieg der Werte»: Freiheit stand gegen Gleichheit, Kapitalismus gegen Sozialismus. Der ideologische Konflikt durchzog die Welt nicht nur horizontal, entlang der Landesgrenzen, sondern auch vertikal, durch die Gesellschaften hindurch.

Am deutlichsten bildete er sich in Italien ab. Die politische Kultur des Landes wurde über Jahrzehnte hinweg von den Kommunisten und den Christlichdemokraten geprägt, die einst gemeinsam gegen Mussolini und Hitler gekämpft hatten. Sie versammelten zusammen zeitweise fast drei Viertel der Wähler hinter sich. Dazwischen gab es nicht viel.

Ihr Kampf hatte einen Zeitkern: Schon mit der Entspannungspolitik der 1970er Jahre begann seine Integrationskraft zu schwinden. Im Rahmen des «Historischen Kompromisses» unterstützten die italienischen Kommunisten 1976 eine christlichdemokratische Minderheitsregierung. Etwa zur selben Zeit entstanden in einigen westeuropäischen Ländern grüne Parteien, die nur noch bedingt in die ideologischen Schützengräben des Blockkonflikts passten.

Die Orientierung geht verloren

1989, mit dem Ende des Kalten Kriegs, geriet das Parteiensystem in die Krise. Der Kampf der Werte, der es bis dahin geprägt hatte, fand in den gesellschaftlichen Realitäten keine Entsprechung mehr. Auch seine weltpolitischen Rahmenbedingungen waren mit dem Untergang des Ostblocks verschwunden.

Besonders hart traf es die Parteiensysteme, in die sich der Krieg der Werte am deutlichsten eingeschrieben hatte. Auch hier war Italien Vorreiter. Die Kommunistische Partei benannte sich schon 1991 um und distanzierte sich vom Kommunismus. Das kam einer Auflösungserklärung gleich. Die Christlichdemokraten folgten 1994.

Offiziell fielen sie einigen Korruptionsskandalen zum Opfer. Zugleich hatten sie durch das Ende des Kalten Kriegs jedoch ihre weltanschauliche Orientierung verloren: Mit dem Niedergang der Partei der Gleichheit geriet auch die Partei der Freiheit in eine Sinnkrise. In die Lücke, die die alten Weltanschauungsparteien in Italien hinterliessen, stiessen ab 1994 Silvio Berlusconi und seine Forza Italia. Sie liessen sich ebenfalls nicht mehr ins Schema des Blockkonflikts einordnen.

In der Bundesrepublik Deutschland war es komplizierter. Sie war zwar durchgängig Frontstaat des Kalten Kriegs. Dennoch schlug sich der Antagonismus von Freiheit und Gleichheit in ihrem Parteiensystem weniger stark nieder als anderswo: Aufgrund der deutschen Teilung hatte sich der Kampf der Werte territorialisiert. Das westdeutsche Parteiensystem traf das Ende des Kalten Kriegs darum weniger hart als sein italienisches Gegenstück.

Produkte der Industriegesellschaft

Mittelfristig erreichte die Krise des Parteiensystems jedoch Deutschland genauso wie Frankreich, Österreich oder die Niederlande. Denn der Konflikt der Werte war nicht die einzige Voraussetzung des Parteiensystems. Die traditionellen Massenparteien stützten sich, wie der Historiker Gerhard Ritter einmal schrieb, auf die «in Grossstädten zusammengeballte, zu politischem Selbstbewusstsein erwachte [...], geistig und sozial uniforme Masse».

Das war sicher ebenso abschätzig gemeint wie übertrieben. Dennoch waren die Massenorganisationen, die unser Bild politischer Parteien immer noch prägen, Produkte der Industriegesellschaft – mit ihren grossen Betrieben, einem gewissen Mass an Uniformität und halbwegs homogenen Milieus. Ähnlich kollektiv wie in die Fabriken strömten die Menschen in die Parteien. Gemeinsam gemachte und als kollektiv empfundene Erfahrungen verlangten einen kollektiven Ausdruck.

Die Struktur der Industriegesellschaft spiegelte sich selbst in der Struktur der Parteien wider. Das betraf nicht nur die alten Klassen-, sondern auch die neueren Volksparteien, die sich in den 1960er Jahren herausbildeten. Ihr schwerfälliger Apparat, die langwierigen Entscheidungsprozesse und die klaren Hierarchien entsprachen den Erfahrungen des Arbeitsalltags.

Jetzt ist Flexibilität gefragt

Das Jahr 1973 steht symbolisch für den Verlust dieser Erfahrungen. Als im Kontext der ersten Ölkrise das Welthandelssystem von Bretton Woods zusammenbrach, begann die Deregulierung der Finanzmärkte. Insbesondere der Abschied von den bisherigen Kapitalverkehrskontrollen bot die Möglichkeit, die Produktion in Niedriglohnländer auszulagern.

Das war aus mehreren Gründen notwendig geworden, zumindest aus Sicht der Unternehmer. So waren die westlichen Binnenmärkte in den Jahren zuvor mit Standardgebrauchsgütern übersättigt worden, zugleich waren die Lohn- und Lohnnebenkosten gestiegen. Nachfrage und Gewinn sanken. Darüber hinaus waren neue Bedürfnisse entstanden. Sie hatten sich individualisiert und liessen sich bald nur noch bedingt mit den standardisierten Waren der Wirtschaftswunderzeit befriedigen.

Im Zuge dieser Entwicklung verwandelten sich die traditionellen westlichen Industriegesellschaften in Dienstleistungsgesellschaften. Die Bedeutung der industriellen Arbeit sank. Sie war nicht länger das zentrale gesellschaftliche Prinzip, sondern erschien wie das Relikt einer vergangenen Epoche. Der Betrieb, die Werkbank und das Fliessband entsprachen nicht mehr der Lebensrealität der Mehrheit.

Damit erodierten die sozioökonomischen Grundlagen des bisherigen Parteiensystems. In den schwerfälligen und hierarchischen Parteien kamen die alltäglichen Erfahrungen immer seltener zum Ausdruck. An die Stelle der industriellen Rangordnungen, der standardisierten Abläufe und langfristigen Planungsprozesse, die sich auch auf die Parteien übertragen hatten, traten in der Dienstleistungsgesellschaft flache Hierarchien, Flexibilität, schnelle Entscheidungen. Auch die Erfahrungen von Abstieg und Aufstieg wurden nach der Ablösung der Werkbank durch den Computerarbeitsplatz nur noch selten als kollektiv erlebt.

Zwar wurde diese Entwicklung erst vollends greifbar, als mit dem Ende des Kalten Kriegs auch die politischen Voraussetzungen des alten Parteiensystems verschwanden. Schon in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre war jedoch von Parteiverdrossenheit gesprochen worden. Seit dieser Zeit ging die Wahlbeteiligung zurück, die Parteibasis schwand.

Keine fixen Ideologien

Die populistischen Parteien, die im Nachgang von Berlusconis Forza Italia seit Mitte der 1990er Jahre überall in Europa entstanden, verdanken ihre Erfolge sicher auch den sozialen Entwicklungen seit der ersten Ölkrise. Sie wurden nicht zuletzt aufgrund der Abstiegsängste gewählt, die durch den Rückbau der Sozialsysteme nach 1973 und 1989 entstanden.

Die Krisen der letzten Jahre dürften diese Ängste verstärkt haben. Trotzdem greift der alleinige Verweis auf die soziale Frage zu kurz. Denn die sogenannten Populisten werden weder allein noch überall von tatsächlichen oder potenziellen Modernisierungsverlierern unterstützt. Zugleich versprechen sie nicht durchgängig die Rückkehr zu den sozialen Sicherungssystemen der 1970er Jahre. Im Gegenteil, viele von ihnen gehören nicht unbedingt zu den Freunden des Sozialstaats.

Die Gemeinsamkeiten liegen auf einer anderen Ebene. Populismus ist weniger ein politisches Programm als ein Politikstil. Wo die etablierten Parteien mit Sachzwang argumentieren, setzt er auf Emotionen und Affekte. Stimmungsabhängige Ad-hoc-Entscheidungen treten an die Stelle langwieriger Aushandlungsprozesse, fehlende Programmatik wird durch Improvisation ersetzt.

Vor allem aber gibt sich der Populismus unideologisch. Er lässt sich nur bedingt in den alten Wertekonflikt des Kalten Kriegs einordnen. Denn ist die Fünf-Sterne-Bewegung mit ihrem Appell zur Legalisierung von Cannabis eher links oder eher rechts? Gehört der frühere Front national mit seiner Forderung, Banken und zentrale Industriezweige zu verstaatlichen, zur Partei der Freiheit oder eher zur Partei der Gleichheit?

Diese Verortung jenseits der alten politischen Gesässgeografie teilt der Populismus tatsächlich mit dem historischen Faschismus. Sie verbindet ihn aber auch mit den Piratenparteien oder den Grünen, die in Deutschland einmal mit dem Slogan «Nicht rechts, nicht links, sondern vorn» für sich warben. Das Ausscheren aus dem Gegensatz von links und rechts ist das gemeinsame Merkmal vieler Parteien, die gewollt oder ungewollt auf die Erosion des Konflikts der Werte und die gesellschaftlichen Umbrüche seit 1973 reagieren.

Neue Prototypen?

Auch deshalb spricht einiges dafür, dass die Krisen der letzten Jahre weniger die Ursachen für den Aufstieg des Populismus waren als Katalysatoren bei der Herausbildung eines neuen Parteiensystems. Zumindest ist es nicht ganz abwegig, die populistischen Parteien als Prototypen der politischen Organisationen der Zukunft zu betrachten. Ihre flachen Hierarchien, die programmatische Unverbindlichkeit und ihre Dynamiken entsprechen der Lebensrealität der meisten Menschen inzwischen weitaus stärker als die schwerfälligen Traditionsparteien.

Eine Antwort auf die neuen sozialen Fragen ist von ihnen darum kaum zu erwarten. Denn auch wenn sie die Verwerfungen der Gegenwart gelegentlich thematisieren, sind sie vor allem eine Kopie dieser Gegenwart. Eine Rückkehr zu den Sicherheiten der Moderne mit den aufgeregten Mitteln der Postmoderne ist unwahrscheinlich.

Die Parteienlandschaft dürfte sich jedoch früher oder später nach dem Vorbild des Populismus verändern. Dieser Wandel wird angesichts der Wucht der gesellschaftlichen Umbrüche ähnlich bedeutend sein wie die Ablösung der alten Honoratiorenparteien des 19. durch die Massenparteien des 20. Jahrhunderts. Vielleicht entsteht aus den populistischen Organisationen der Gegenwart die Parteienlandschaft der Zukunft. Möglicherweise verwandeln sich jedoch auch die etablierten Parteien nach ihrem Vorbild. In ihrer jetzigen Gestalt werden sie jedenfalls nicht überleben.

Der Historiker Jan Gerber ist Leiter des Forschungsressorts Politik am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig.

 

Nota. - Repräsentativ verfasste Gemeinwesen setzen sich grosso modo aus zwei Typen von Saatsbürgern zusammen: hier der aktiv teilnehmendes politês, dem dort der unbeteiligt-selbstbezogene idiotês entgegensteht. Solange der alltägliche Parteienkampf vordringlich vom Konflikt konstituierter gesellschaftlicher Interessengruppen und gar vom Klassenkampf bestimmt wurde, blieb dieser Gegensatz latent und verschwand  hinter der Rivalität von Radikalen und Gemäßigten innerhalb der streitenden Parteien.

Mit dem Scheitern der Weltrevolution und dem Ende der Klassenkämpfe und mit dem gleichzeitigen Fortschreiten der digitalen Revolution wurde der Gegensatz von links und rechts obsolet. Seit die Drohung eines revolutionären Sprungs nach vorn entfällt, entfällt auch die Versuchung eines reaktionären Sprungs rückwärts. Ausgesprochen rechts ist nur noch die nostalgische Rhetorik selbstbezogen-Privaten. 'Konservativ' heißt nicht länger die Bewahrung des Status quo, sondern der  Erhalt der technisch-wirtschaftlichen Dynamik bei gleichzeitigen Bewahrung der gesellschaftlichen Gleichgewichts. Das war bislang das Credo der linken Reformisten gewesen. Es wird - und muss - zusammenwachsen, was seither zusammengehört: eine entschiedene und dynamische Mitte

Andernfalls könnte der Autor des Obigen Recht bekommen und sich der Populismus der idiotischen Identitären an den verbleibenden Rändern zu einem Bremsschuh auswachsen, der mindestens Deutschland in Stagnation und Niedergang führt. Die ressentimentgeladenen Privaten mögen nicht gern selber was riskieren, deshalb halten sie Ausschau nach starken Männern, und für stark halten sie nach ihrem Bilde die mit dem großen Maul.

Angela Merkel war und ist einstweilen noch ein Bollwerk. Gebraucht wird jemand, der sie ersetzen kann. Ach, und das wird knapp.

JE

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