aus nzz.ch, 08.09.2020,
Die Leute wehren sich sehr wohl. Nehmen Sie etwa die Konflikte um die Sonntagsarbeit, die Lohnkämpfe der Gewerkschaften, das Festhalten der katholischen Kirche an ihren Traditio-nen, die mit der liturgischen Zeit verknüpft sind, oder die Nationalisten, die sich gegen die Globalisierung abschotten, weil sie über ihre Zeit und ihren Raum bestimmen wollen. «Make America great again» heisst: Gehen wir zurück zu unserer früheren Zeit, die selbstverständlich die bessere Zeit war. Und all die Leute, die sich auf der Alp oder in Polynesien eine Weile aus ihrem Berufsleben ausklinken: Sie widersetzen sich der ihnen aufgezwungenen Zeit.
Die Zeitdiagnostiker sagen, wir lebten in einer ungeheuer beschleunigen Zeit . . .
. . . ach, das sagen sie schon seit zweihundert Jahren. Was unbestritten ist: Wir leben unter einem linearen Zeitregime, das im 18. Jahrhundert einsetzte. Die Aufklärer entwarfen einen neuen Begriff von Zeit. Sie setzten sie gleich mit Fortschritt und Wachstum, mit der Verbes-serung der Gesellschaft und der Befreiung vom Alten. Zugleich aber wurde die Zeit zu einem Gefängnis. Sie zwingt die Menschen, stets etwas Produktives mit ihr anzustellen, das zum Fortschritt führt. Die Zeit ist nicht mehr nur einfach da, sie muss gebraucht werden, was sogar für die Freizeit gilt, die der Arbeitszeit abgerungen wurde. «Time is money», sagte Benjamin Franklin, der die amerikanische Unabhängigkeitserklärung mitverfasste – was für eine Last für den Einzelnen!
Im 18. Jahrhundert war die Mehrheit der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig. Die Bäuerinnen und Bauern folgten dem Rhythmus der Natur. Wie reagierten sie auf das lineare Zeitkonzept?
Die Landbevölkerung lebte vorwiegend in einer zyklischen Zeitordnung. Diese besagt, dass Gott einen Plan für die Welt hat, den die Menschen zwar nicht kennen, von dem sie aber dennoch nicht abweichen sollten. Diese Ordnung bot ihnen deutlich mehr Musse, als wir sie heute haben. In der Vormoderne schliefen die Menschen deutlich länger, dazu kamen vor allem in den katholischen Gebieten die vielen Feiertage. Im 19. Jahrhundert dann kollidierten die unterschiedlichen Zeitvorstellungen von bürgerlichen Eliten sowie von Unterschichten und Bauern. Das lineare Zeitregime siegte schliesslich über das zyklische – aber nicht absolut.
War das zyklische Zeitmodell innovationsfeindlich?
Nicht unbedingt. Zwar betrachteten die traditionellen Gesellschaften Neuerungen grundsätz-lich als Willkürakte und als Bedrohung, an erster Stelle natürlich die Steuern. Die Vorstellung war: Wenn jemand etwas dazugewinnt, ob nun die Obrigkeit oder ein Händler, dann hat er jemand anderem etwas weggenommen. In dieser Sicht ist eine höhere Produktivität nicht das erste Ziel. Innerhalb einzelner Gemeinschaften und Genossenschaften kommt es hingegen sehr wohl immer wieder zu Innovation. So setzten die Walliser Bauern gegen die Herrschaft des Abts von Saint-Maurice neue Wirtschafts- und Politikformen durch, die ihr Leben verbes-serten. Das passierte in der Vormoderne immer wieder. Aber die Innovation bleibt auf die eigene Gruppe begrenzt, sie wird nicht auf die ganze Gesellschaft ausgedehnt.
In den Juratälern produzierten die Bauern und Bäuerinnen, die im verschneiten Winter weniger zu tun hatten als im Sommer, Uhren. Verhalf hier die zyklische Zeitordnung der linearen zum Durchbruch?
Diese bäuerlichen Uhrmacher waren eben nicht mehr nur Bauern, und die ländliche Gesellschaft war mehr als Landwirtschaft. Ja, hier sprengt die frühe Industrialisierung das zyklische Denken. Die Menschen merken, dass mehr Zeit für die Produktion profitabel ist. Das Geld ist das Kippmoment, es macht Zeit ökonomisch rentabel. Zudem verbinden sich die Menschen über den Handel mit anderen Räumen. Dadurch wird die eigene, lokale Zeit infrage gestellt, weil man nun mit anderen Zeiten rechnen muss. Den Eliten passt das gar nicht.
Die städtischen Eliten bekämpfen die lineare Zeitlichkeit der Landbevölkerung?
Wenn die Unter- und Mittelschichten im 18. Jahrhundert zu Geld kommen und sich Fleisch und neue Kleider kaufen, wettern die Gebildeten gegen Luxus und Verschwendungssucht, besonders die der Frauen. Sie berufen sich dabei auf Gott und die Moral. Parallel dazu verlangen sie von der Bevölkerung, mehr Nachwuchs zu produzieren, weil dies dem Wohlstand der Nation diene. Und was macht die Landbevölkerung? In vielen Regionen Europas praktiziert sie auf eigene Faust Empfängnisverhütung. Das heisst, sie nimmt die Zukunft in die eigene Hand, sie plant die kommende Zeit in ihrem Interesse. Sie will lieber weniger Kinder, um die sie sich besser kümmern kann. Das heisst: Der «Fortschritt» verläuft nicht linear, und er geht auch vom Land aus.
Keine Wissenschaft beschäftigt sich so intensiv mit der Zeit wie die Geschichte, und doch hat sie keinen Zeitbegriff. Sie geht simpel davon aus, dass Zeit sich linear entlang der Jahreszahlen abspielt, eigentlich eine ahistorische Annahme.
Das ist tatsächlich ein empfindliches Defizit unseres Metiers. Im letzten Jahrhundert haben Historiker zwar immer wieder darauf hingewiesen, dass man die Zeit und Zeitvorstellungen, auch wissenschaftliche, besser untersuchen müsse, aber viel ist nicht passiert. Sie haben sich von einem verengten Kulturbegriff begeistern lassen und sich auf elitäre Diskurse konzentriert. Wenn wir die sozialen Kämpfe verstehen wollen, müssen wir die unterschiedlichen Zeitkonzeptionen und Zeitpraktiken verstehen. Politik hat immer mit Zeit und Raum zu tun, wie die Geschichtsschreibung.
Sandro Guzzi-Heeb ist Dozent für Geschichte an der Universität Lausanne. Er forscht vor allem zu Sozialgeschichte und Kultur der alpinen Räume. Zuletzt hat er mit Pierre Dubuis den Band «Organisation et mesure du temps dans les campagnes européennes de l’époque moderne au XXe siècle» (Cahier de Vallesia 30, Sion 2019) herausgegeben.
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