Das Osmanische Reich und die heutige Türkei bilden hier keine Ausnahmen. Wobei der Erste Weltkrieg lediglich den Schlusspunkt eines langen Niedergangs darstellte. Die Osmanen hatten in den vorangegangenen drei Jahrhunderten praktisch keinen Krieg mehr gewonnen. Doch hatten die Rivalitäten unter den europäischen Mächten den sprichwörtlichen «Kranken Mann am Bosporus» am Leben gehalten. Die «orientalische Frage» war seit dem 19. Jahrhundert in aller Munde, länderübergreifend waren sich Politiker und Journalisten darin einig, dass ein künftiger europäischer Krieg im osmanisch besetzten Südosten Europas losgetreten würde.
Der in Oxford lehrende Nahost-Historiker Eugene Rogan hat über den finalen Niedergang des Osmanischen Reichs im und nach dem Ersten Weltkrieg ein ebenso facetten- wie detailreiches Buch geschrieben, das jetzt auch auf Deutsch vorliegt. Akribisch weist er nach, dass der Sturz der Osmanenherrschaft weniger das Resultat des Krieges als des anschliessenden Friedens war: herbeigeführt einerseits von den expansionistischen Forderungen der Siegermächte, andererseits unter dem Druck eines aggressiven Ethnonationalismus, der auf die Erschaffung eines vermeintlich homogenen türkischen Nationalstaats abzielte.
Der gewaltsame Austrag dieser Gegensätze fand ab 1919 in Anatolien statt. Auf die Halbinsel zwischen Ägäis und Euphrat erhoben nicht nur türkische Nationalisten um den späteren Staatsgründer Mustafa Kemal (Atatürk) territoriale Ansprüche, sondern mit Frankreich, Grossbritannien, Italien und Griechenland gleich vier Siegermächte des Ersten Weltkrieges. Die blutigen Kämpfe mündeten 1923 im Vertrag von Lausanne, der den Abzug sämtlicher nichttürkischer Kräfte aus Anatolien vorsah und die Gründung der Türkei in ihren bis heute gültigen Grenzen markierte.
Die innertürkischen Dynamiken sind aber nur die eine Seite, die Rogan beleuchtet. Die andere umfasst die osmanische Beteiligung am Ersten Weltkrieg und die Folgen für Verlauf und Charakter der «Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts».
Hier bietet Rogans Buch eine wichtige Ergänzung zur eurozentrischen Betrachtungsweise, die in vielen Überblicksdarstellungen vorherrscht. Zum einen ist erst mit dem Kriegseintritt der Osmanen der bis dahin europäische Krieg zu einem Weltkrieg geworden, mit Schauplätzen von Ägypten über Jemen und Saudiarabien bis nach Iran. Zum anderen gibt es keine Weltregion, in der die Folgen des Ersten Weltkrieges bis in die Gegenwart so präsent sind wie im Nahen Osten, wobei der israelisch-arabische Konflikt nur das prominenteste Beispiel unter vielen ist.
Bereits die westlichen Zeitgenossen unterschätzten die Bedeutung des osmanischen Kriegsschauplatzes. Das führte dazu, dass Briten und Franzosen im Kaukasus, an den Dardanellen, in Mesopotamien und in Palästina wiederholt in langwierige und Ressourcen bindende Kämpfe verwickelt wurden – Ressourcen, die ihnen an anderer Stelle schmerzlich fehlten.
Die verheerende britische Niederlage auf Gallipoli 1915/16 mit ihren Hunderttausenden Toten und Verwundeten ist der bis heute wirkungsmächtigste Beleg für die Intensität des Krieges mit den Osmanen. Ihr Kriegseintritt hatte sich nicht, wie von den Alliierten anfangs erhofft, als Hemmschuh für die Mittelmächte erwiesen, sondern im Gegenteil die Ausweitung und Verlängerung des Krieges befördert, wenngleich das deutsche Kalkül, in den arabischen Kolonien der Entente-Staaten einen Jihad zu entfesseln – in Berlin wurde dafür eigens ein «Dschihad-Büro» eingerichtet –, nicht aufging.
Und noch in einer weiteren Hinsicht sollten sich die osmanischen Geschehnisse während des Ersten Weltkriegs als auf tragische Art wegweisend für das 20. Jahrhundert herausstellen. Bereits in den Jahrzehnten vor 1914 hatten sich die nationalen Befreiungskriege auf dem Territorium des Osmanenreichs als besonders gewaltintensiv erwiesen, die Vertreibung und sogar Vernichtung unliebsamer Bevölkerungsgruppen eingeschlossen. Einen Höhepunkt erreichte dieses auf die Schaffung homogener Nationalstaaten abzielende Vorgehen mit der bis dahin beispiellosen Ermordung von rund 1,5 Millionen Armeniern und anderen christlichen Untertanen durch die Türken 1915; für Rogan der «erste Genozid der Moderne», der, «bittere Ironie», die Position der Osmanen im Krieg eher geschwächt als gestärkt habe.
Zu den innertürkischen Dynamiken, die der gewalttätigen Bevölkerungspolitik ideologisch den Weg bereitet haben, und insbesondere zu deren federführendem Architekten, dem damaligen türkischen Innenminister Mehmed Talât Pascha, ist kürzlich ein erhellendes Buch des Zürcher Historikers Hans-Lukas Kieser erschienen; es liest sich als eine wichtige Ergänzung zu Rogans Arbeit («Talât Pascha: Gründer der modernen Türkei und Architekt des Völkermords an den Armeniern. Eine politische Biografie», Chronos-Verlag).
Wie politisch aufgeladen die Ereignisse bis heute sind, konnte man unlängst wieder beobachten, als der amerikanische Präsident Biden den historischen Genozid an den Armeniern als solchen beim Namen nannte. Die kategorische Zurückweisung durch die türkische Regierung folgte auf dem Fuss. Mit den Büchern von Eugene Rogan und auch Hans-Lukas Kieser liegen nun zwei Darstellungen vor, die ein umfassendes Bild dieser für das 20. Jahrhundert prägenden Phase osmanisch-türkischer Geschichte zeichnen.
Eugene Rogan: Der Untergang des Osmanischen Reichs. Der Erste Weltkrieg im Nahen Osten 1914–1920. Aus dem Englischen übersetzt von Tobias Gabel und Jörn Pinnow. Verlag wbg Theiss, Darmstadt 2021. 591 S., Fr. 42.90.
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