In der heutigen Frankfurter Allgemeinen schreibt Patrick Bahners über die vielbeschrieenen Aussa-gen des "Ostbeauftragten" Wanderwitz von der CDU; namentlich über die Runde bei Anne Will:
... Dass Wanderwitz eine politische Überlegung verfolgt haben könnte, wollte ihm unter Anne Wills Gästen nur Nadine Lindner zugestehen, die Hauptstadtkorrespondentin des Deutsch-landfunks. Sie hob seine Formulierung hervor, dass die CDU nicht auf die AfD schauen dürfe wie das Kaninchen auf die Schlange. Klare Abgrenzung von der AfD, damit verbunden die Mitteilung an zwischen CDU und AfD schwankende Wähler, dass sie sich schon selbst ent-scheiden müssen und nicht in beiden Fällen mehr oder weniger dasselbe bekommen werden – in dieser Umschreibung ergab sich nun doch eine politische Strategie, die erfolgreiche Strategie von Reiner Haseloff.
Mit guten
Gründen gab Lindner zu bedenken, dass Wanderwitz keine
„Wählerbeschimpfung“ beabsichtigte. Wenn er einem beträchtlichen Teil
der AfD-Wählerschaft gefestigte rechtsex-treme Ansichten bescheinigte,
war die Missbilligung eindeutig – ebenso aber auch die Aner-kennung der
Tatsache, dass diese Wähler eben feste Ansichten haben, das heißt
Gründe, die sie für gut halten. Sie sind eben nicht einfach Verführte
oder Wutbürger in dem Sinne, dass sie gar nicht wüssten, wofür und
wogegen sie sind. Dass Bouffier im praktischen Befund mit Wanderwitz
übereinstimmt, offenbarte seine Wortwahl: Ganz selbstverständlich sprach
er von „demokratischen Parteien“, um die Grenze zur AfD zu ziehen. Die
AfD-Wähler wären dem-nach tatsächlich nicht in der Demokratie angekommen. ...
Nota. - Die gestrige Wahl in Sachsen-Anhalt bestätigt es: Am stärksten ist die AfD bei jungen Wählern, die die DDR gar nicht mehr erlebt haben.
Widerspricht das der Wanderwitz'schen Aussage, ein Gutteil der ostdeutschen Wähler sei dik-tatursozialisiert und 'in der Demokratie nicht angekommen'?
Die DDR hat nur 40 Jahre bestanden, bis 1990. Und was war davor? Vier Jahre sowjetische Militärregierung und zwölf Jahre nationalsozialistischer Totalitarismus. Die vierzehn Jahre Weimarer Republik waren eine einzige Krise am Rande des Bürgerkriegs gewesen, und davor war das Wilhelminische Reich: Einen freiheitlichen Rechtsstaat hatte es auf dem Territorium der DDR nie gegeben.
Doch im Westen Deutschland hatten Freiheit, Rechtsstaat und Demokratie auch erst eine vierzigjährige Tradition. Sollen dagegen die dreißig Jahre, seit denen die ostdeutschen Länder zur Bundesrepublik gehören, gar nicht ins Gewicht fallen?
Man muss Wanderwitz' Feststellung sogar noch radikalisieren: Ein großer Teil der ostdeut-schen Wähler sind in der bürgerlichen Gesellschaft noch nicht angekommen. In einer Ge-sellschaft, in der alle rechtlich frei und insofern einander gleich sind; und was die Konsquenz davon ist: alle nicht nur für sich selbst, sondern sogar einander verantwortlich sind.
Frei und einander verantwortlich - da schränkt eine Bestimmung die andere ein. Es sind keine politisch-institutionellen, sondern eine zivilisatorische Bestimmung: Sie beruht auf der Schei-dung eines jeden Bürgers in eine öffentliche Person, die Rechenschaft abzulegen und darum auch fordern kann, und ein privates Individuum, das nur denen verpflichtet ist, denen es sich verpflichtet fühlt. Im Privaten habe ich Neigungen und Leidenschaften, und darf es. Im öf-fentlichen Raum erwarte ich von den Andern Vernunft so wie sie von mir; und zwar unerach-tet ihrer Andersheit, so anders sie wäre. Das ist nicht die Frage von soundsoviel gelernten In-formationen, sondern eine Sache des Horizonts.
*
Die Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft war in den ländlichen Regionen Ostelbiens schon zu Wilhelms Zeiten hinter dem Rest Deutschlands zurückgeblieben. Doch liegt der eigentliche Grund für den heutigen politischen Rückstand Ostdeutschlands woanders. Im Osten haben die unentwickelten bürgerlichen Verhältnisse in besagten viezig Jahren ja nicht einfach stagniert, weil sie nicht gefördert wurden, sondern wurden aktiv und erfolgreich be-kämpft. Das Ergebnis der "kommoden Diktatur" war die sprichwörtliche Nischengesell-schaft, die auf einer theatralisch inszenierten Öffentlichkeit beruhte, und der Feudalisierung der Machtverhältnisse - einer systematisch betriebenen Vermengung zwischen formalen in-stitutionellen Strukturen und persönlichen Abhängigkeiten, sowie der Systematisierung des Prinzips Eine Hand wäscht die andere - wofür das Dritte Reich einen fruchtbaren Boden hinterlassen hatte.
Da musste nicht bei Null neu angefangen, sondern ein Negativsaldo aufgearbeitet werden. Doch der Anschluss an die Bundesrepublik bewirkte zum einen nur einen strukturellen Um-bau der formalen Institutionen, wo zunächst - unter der Aufsicht westlicher Tutoren - ein jeder des andern Teufel war; und zum andern eine Marktwirtschaft, die ihnen von Karl-Eduard von Schnitzler, den nachher keiner je geguckt haben will, seit einer Ewigkeit als Jeder ist sich selbst der Nächste dargestellt worden war. Das war wirklich nur ein Anschluss, wo eine gesellschaft-liche Revolution nötig gewesen wäre.
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Doch Bundestagswahlen werden seither im Osten gewonnen oder verloren, und unter dem Motto Der Ossi darf nicht verletzt werden gab es keinen, der ihnen eine solche zuzumuten wagte. An dem Ergebnis werden wir noch lange zu tragen haben.
JE
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