Dienstag, 1. Juni 2021

Die expertokratische Involution.

 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Alexander Bogner
Die Epistemisierung des Politischen
Verlag: Reclam, Ditzingen 2021
ISBN: 9783150140833 | Preis: 6,00 € 
 

aus spektrum.de, 25.05.2021 

Experten - eine Gefahr für die Demokratie?
Wie die politische Nähe zur Wissenschaft die Demokratie verändert.


von Josef König

Virologen und Epidemiologen bestimmten die öffentliche Diskussion zu Beginn der Corona-Pandemie. Rasch drangen Begriffe wie Reproduktionszahl, Inzidenz, Herdenimmunität, PCR-Test in den Alltag ein. Die Politik zeigt sich bis in die Gegenwart als »alternativlos«, so das Mantra von Kanzlerin Merkel. Sie folgte lange fast blind dem Rat weniger Wissenschaftler und Experten, die kurz darauf auch als Helden der Öffentlichkeit die Medien dominierten. Inzwi-schen ist die Auseinandersetzung deutlich breiter, sowohl innerhalb der Wissenschaft als auch zwischen ihren Hauptakteuren, den Politikern, Journalisten und der breiten Öffentlichkeit.

Probleme anderen Ursprungs

Den Einfluss und die Auswirkungen von zunehmender Expertise auf die Politik analysiert der Wiener Soziologe Alexander Bogner in seinem Buch »Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet«. Seine Ausgangsthese: In einer Gesell-schaft, in der »Kalkül, Wissen und Expertisen« in den Vordergrund rücken, könne »das Ver-trauen in die Macht des Wissens selbst demokratiepolitisch zweifelhafte Folgen« haben. So würden viele »politische Krisen und Konflikte primär als ›epistemische‹ Probleme verstanden«, obwohl sie einen anderen Ursprung haben.

Die epistemischen Konflikte verlagern sich zunehmend zwischen Experten, Gegenexperten und Laienexperten, so Bogner. Tatsächlich seien es aber häufig versteckte Werte, die mitein-ander in Konflikt geraten, während sich die Beteiligten nur auf Wissen fokussieren. Dadurch tritt ein epistemischer Populismus auf die große Bühne, der Impf- und Klimawandelleugner in den Vordergrund schwappen lässt: Aus Pippi Langstrumpfs kindlichem Kredo »Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt« werden Donald Trumps Fakten.

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Bogner analysiert soziologisch die Mechanismen hinter derartigen Konflikten an Beispielen der Coronakrise, des Klimastreits, der Impfkontroverse oder der Kriminalitätsdebatte. Er diskutiert dabei Aspekte der liberalen Demokratie und der in ihr beschworenen Gefahr der »Diktatur der Dummen«. Er rekapituliert die Idee Platons von einer Regierung von Philoso-phen, behandelt spannende Fragen, etwa ob »mehr Demokratie wagen« in Politik und Wis-senschaft der richtige Weg sei. Er zeigt, dass Forderungen von den Philosophen Paul Feyer-abend (»Wider den Methodenzwang«) und Bruno Latour (»Dinge zum Sprechen« bringen) einen zutiefst anarchischen Freiheitsbegriff zur Grundlage haben.

In der Folge differenziert er zwischen Experten, die »im Labor forschen und das Wissen vorantreiben«, und Intellektuellen, die dieses Wissen in der Öffentlichkeit verbreiten. Nach Bogner sind Intellektuelle aus der Krise der Experten geboren. Das zeigt Bogner insbesondere am Beispiel der Dreyfuss-Affäre im Frankreich des späten 19. Jahrhunderts, als der Schrift-steller Emile Zola besagten Justizskandal in seinem Essay »J'accuse« auf den Punkt brachte, nachdem die »Experten öffentlichkeitswirksam vorgeführt hatten, dass sie mit ihrem Latein am Ende sind …«. Heute habe man inzwischen in »der Universität nicht länger mit Intellek-tuellen zu tun, sondern mit ängstlichen, jargonbesessenen Karrieristen, die von Leistungsver-einbarungen gequält und von Evaluationsgremien vor sich her getrieben werden«.

Die Konsequenz ist nach Bogner, dass aus einer »fortschreitenden Entzauberung der Welt durch die Wissenschaft« die »Wiederverrätselung der Welt durch die Komplexitätssteigerung« erfolgt. In dieses Feld stießen Populisten, die im schmalen Grat zwischen »Wissenschaftsleug-nung im Dienst der Komplexitätsreduktion und handfester Verschwörungstheorie« agierten.

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Die Lösung könne nur aus der Einsicht folgen, »dass Politik und Wissenschaft voneinander getrennte Sphären sind: So wenig sich wissenschaftliche Wahrheit nach der Mehrheitsmeinung richtet, so wenig ist die Aufgabe von Politik, die Wahrheit zu vollstrecken.«

Bogners Studie ist sprachlich klar und verständlich geschrieben. Die Argumentation ist offen, kritisch und gut nachvollziehbar. Und dennoch gibt es Leerstellen, die womöglich der knappen Seitenzahl der Reihe »Was bedeutet das alles?« des Reclam-Verlags geschuldet ist. So postuliert Bogner »Wahrheit« als eine Leitidee der Wissenschaft, ohne zu diskutieren, dass dies nicht für alle Disziplinen gleichermaßen gelten kann. Daher fehlt im Buch zum Beispiel eine Diskussion über die »Sorte Wissenschaftler«, die sich zunehmend selbst als Aktivisten verstehen, denen damit die Studie freien Lauf zur politischen Einflussnahme bietet. Zudem wünscht man sich eine soziologische Diskussion darüber, wie und wo sich die Grenzen zwischen Wissenschaft-lern und Politikern verwischen, ebenso einen Beitrag, welchen Einfluss politisch motivierte Gutachten und Projekte sowie der durch sie vorangetriebene Geldfluss auf die Wissenschaft haben. Dennoch ist die Lektüre des Buchs uneingeschränkt zu empfehlen.

 

Nota. - Der Aufschwung der Wissenschaften im siebzehnten Jahrhundert war das politische Ereignis par excellence, schrieb ich gelegentlich. Denn sie machten den freiheitlich Rechtsstaat und die Demokratie möglich.

Die Rechtfertigung der Vernunft ist nicht, dass sie als Herrschaftsform die Demokratie gebie-tet, sondern umgekehrt rechtfertigt die Demokratie, dass sie die Herrschaftsform ist, die am wenigsten der Vernunft widerspricht.

Ob aber Herrschaft der Vernunft Herrschaft der Wissenschaftler oder auch nur der Wissen-schaft bedeutet, ist eine Frage für sich. Der Wissenschaftler richtet seine Aufmerksamkeit - methodisch gesagt: seine ganze Aufmerksamkeit - auf das Phänomen, das er untersucht. Die Ergebnisse, zu denen er gelangt, betreffen dieses Phänomen und nichts anderes: Das ist es, was ihn als Wissenschaftler von anderen Zeitgenossen unterscheidet. Zum Beispiel von machthabenden Politikern. 

Dass es wissenschaftlichen Disziplinen gibt, die von vornherein mehrere Wirklichkeitsbereiche ins Auge fassen - zum Beispiel der Epidemiologe, der Medizin und Soziologie zugleich be-trachtet -, kompliziert die Sache, macht aber wesentlich keinen Unterschied. Wesentlich ist dagegen der Unterschied der Politik. Die hat von Anfang an einen ihr eigenen Gegenstand: das gesellschaftliche Ganze. Das ist der höchstmögliche Gesichtspunkt, und von ihm aus blickt sie auf alle Spezifikationen herab, während ein Einzelwissenschaftler - und sei es eine interdisziplinäre Einzelwissenschaft -, sobald er zum Ganzen aufsteigt, immer nur Einzelne zu Einzelnen addieren kann. 

Sagen sie nun nicht, ich rede nur vom Idealpolitiker, der in der Wirklichkeit nicht vorkommt. Der Idealwissenschaftler kommt in der Wirklichkeit auch nur hin und wieder vor - sie sind ja auch viel zahlreicher als die Machthabenden. Ein Idealzustand lässt sich in diesen Breiten in-stitutionell gar nicht herstellen. Es kann immer nur prozessierende Emendationen geben, und da wir von demokratischen Rechtsstaaten reden, kann dieser Prozess nur Öffentlichkeit hei-ßen. Die Öffentlichkeit muss darauf achten, dass jeder Protagonist seine Rolle 'möglichst gut' spielt. Das ist banal, aber genauso ist es.

Nicht banal, sondern Quell aller erdenklichen Komplikationen, ist die moderne Gegebenheit, dass unter den Bedingungen sich im Eiltempo ausweitender Kommunikaationsmittel die große Masse derer an den öffentlichen Verhandlungen beteiligt, die weder Wissenschaftler noch im institutionellen Sinne Politiker sind. Und auf allen erdenklichen Ebenen über alle erdenklichen Kanäle.

Das ist nun im Alltag unendlich viel umständlicher als früher. Doch so viel Wörter man auch darüber sagen kann - am Grunde ist es dann doch kein bisschen weniger banal: Es sollte eben jeder sein Bestes beitragen. Institutionell vorsorgen kann man da nichts. Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.

JE


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