aus Tagesspiegel.de, 9. 6. 2021 Feierabend in der Toskana
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Mehr Steinzeit wagen – das ist der Rat, den James Suzman uns an Herz legt. Ausgiebig hat der Sozialanthropologe die letzten Jäger- und Sammler-Kulturen in Namibia erforscht und dabei überraschende Einsichten auch über die Frühgeschichte des Menschen gewonnen. Unsere ur-zeitlichen Vorfahren führten demnach keine defizitäre, von der Sorge ums tägliche Brot (das es im buchstäblichen Sinn ja noch gar nicht gab) geprägte Existenz, sondern hatten eine benei-denswerte Work-Life-Balance entwickelt.
Mit nur 15 Stunden Nahrungssuche pro Woche sicherten sie ihr Auskommen, wobei ihre Ar-beit auch noch Spaß machte – nicht zufällig betreiben die Menschen noch heute das Sammeln und Jagen als Hobby. Der Steinzeit-Speisezettel war vielfältig und die Lebenserwartung ver-gleichsweise hoch.
James Suzman: Sie nannten es Arbeit. Eine andere Geschichte der Menschheit.
Aus dem Englischen von Karl Heinz Siber. C.H. Beck, München 2021. 400 Seiten, 26,95 €
Zudem schätzt man in Jäger- und Sammler-Kulturen die soziale Gleichheit. Wenn bei je-mandem individueller Ehrgeiz aufkommt, wird er zurückgepfiffen. Wer sich etwa mit Jagd-erfolg brüstet, den verspottet die Gemeinschaft und „beleidigt“ seine Beute. Auf diese Weise konnten sich freilich weder Statusdenken noch Leistungsprinzip etablieren. Die Menschheit kam nicht voran. Aber warum auch? Das Leben war gut.
Man kennt die erfrischende Aufwertung des Jäger- und Sammler-Lebens andeutungsweise bereits aus Yuval Noah Hararis „Eine kurze Geschichte der Menschheit“. Wie Harari ver-bindet der 1970 in Südafrika geborene, heute in Cambridge forschende James Suzman viel-fältige Kenntnisse und kühne Thesen. Und auch bei ihm beginnt das Übel mit der Erfindung von Landwirtschaft und Viehzucht vor etwa 10 000 Jahren. Nun musste buchstäblich geackert werden. Die Nahrungspalette verkleinerte sich drastisch. Krankheiten breiteten sich durch das enge Zusammenleben mit den Nutztieren aus; die Lebenserwartung sank. Es hat etwas von der biblischen Vertreibung aus dem Paradies.
Aber wieso konnte sich bei so vielen Nachteilen die agrarische Lebensform überhaupt durchsetzen? Den Grund sieht Suzman in klimatischen Veränderungen, durch welche die Steinzeit-Menschen das „Vertrauen in die ewige Freigiebigkeit ihrer Umwelt“ verloren. Die neue Lebens- und Wirtschaftsform war deutlich produktiver und konnte mehr Menschen ernähren.
Mehr Menschen – darin bestand allerdings das nächste Problem, das die Menschheit bis zur Industriellen Revolution in Atem hielt. Die Überschüsse der Landwirtschaft wurden in Bevöl-kerungswachstum umgesetzt, wodurch sich der Mangel fortsetzte. Also musste noch mehr „geackert“ und immer mehr Territorium für die Landwirtschaft erschlossen werden.
Jäger- und Sammler-Gemeinschaften haben kein Interesse am Anhäufen von Überschüssen. Sie erleben ihre Umwelt als Fülle. Ein zentrales Argument von Suzman ist, dass mit dem Wandel zur Agrarwirtschaft eine neue Einstellung zur Arbeit und ein anderer Umgang mit der Ressource Zeit aufkamen. Vorausschauende Planung und eine hohe Arbeitsdisziplin wurden erforderlich, die Menschen richteten ihr Handeln auf Zukünftiges aus, denn die Ernte ließ als Lohn für die Mühe erst einmal auf sich warten. Der Hoffnung auf volle Kornkammern stand immer die Angst vor Missernten gegenüber.
Auf diese Weise hielt mit der Erfindung der Landwirtschaft eine Ökonomie des „verzögerten Ertrags“, der Knappheit und der Vorratshaltung Einzug, die bis heute unser Wirtschafts- und Berufsleben bestimme. Wir disziplinieren uns zur täglichen Arbeit, sorgen vor, wollen Über-schüsse und Wachstum erzielen.
Auch die heutige Konsum- und Überflussgesellschaft folge weiterhin, so Suzman, der Öko-nomie des Mangels, auch wenn dieser nur noch relativ ist, im Vergleich mit vermeintlich er-folgreicheren oder wohlhabenderen Freunden, Kollegen oder Vorbildern aus den Medien spürbar wird. Die Werbung erzeuge das Gefühl von Defiziten, um das Hamsterrad der Wa-renproduktion am Laufen zu halten.
Heute sind in den Vereinigten Staaten nur noch zwei Prozent der Menschen in der Land-wirtschaft tätig. Könnte die Gesellschaft also nicht mit ihren Überschüssen ein weniger ge-triebenes, von weniger Ungleichheit gekennzeichnetes Leben führen? Darüber hinaus sieht Suzman das Potenzial, das mit der zunehmenden Automatisierung und dem Einsatz künst-licher Intelligenz verbunden ist. Aber er befürchtet, dass sich die Situation noch verschlim-mern könnte, ganz so, wie Harari eine Zweiteilung der Menschheit in den rundum bevor-zugten Homo Deus und den Homo nutzlos (die Massen) prophezeit.
Ein weiteres Problem bestehe darin, dass sich die Menschen in den letzten 10 000 Jahren daran gewöhnt hätten, Sinn und Struktur ihres Lebens durch die Erwerbsarbeit zu beziehen. Schon heute seien viele „Bullshit-Jobs“ vor allem im Dienstleistungssektor nur noch eine Art Beschäftigungstherapie zur kontrollierten Verausgabung von Energie.
Geistreich durch die Jahrhunderte
Suzman hat keine Rezepte für eine bessere Organisation des Wirtschaftslebens, aber er will zum Nachdenken anregen. Auch wenn manche seiner Thesen ein wenig simplifizieren – sein Buch ist pointiert geschrieben, streift geistreich durch die Jahrhunderte, schildert die Umbrü-che in den Arbeitsverhältnissen, greift sich hier eine Handvoll Naturwissenschaft, dort zwei Portionen Wirtschaftstheorie (Adam Smith und John Kenneth Galbraith) und bringt das alles auf die Linie der eigenen Argumentation.
Das liest sich unterhaltsam und oft anekdotisch – wenn man zum Beispiel erfährt, dass John Harvey Kellogg, Erfinder der Cornflakes, nicht nur ein Pionier der Arbeitszeitverkürzung war, sondern mit seinen Frühstücksflocken auch ein Mittel zur Dämpfung des Sexualtriebs gefun-den zu haben glaubte.
Dass eine Acht-Milliarden-Menschheit nicht zum Leben der Jäger und Sammler zurückkehren kann, ist auch Suzman klar. Er will mit seinem Buch aber deutlich machen, dass unsere Spezies über die längste Zeit ihres Bestehens andere Prioritäten gesetzt hat als Vollzeit-Arbeit und Kar-rierestress: „In allererster Linie geht es mir darum, den krakenhaften Klammergriff, mit dem die Knappheits-Ökonomie unser Arbeitsleben im Schwitzkasten hält, zu lockern und unsere damit verbundene, nicht durchhaltbare Fixierung auf wirtschaftliches Wachstum aufzubre-chen.“ So gesehen ist diese „andere Geschichte der Menschheit“ eine gute Lockerungsübung.
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