Mittwoch, 29. Mai 2019

Keltische Eisenindustrie.

aus derStandard.at, 28. Mai 2019             Etwa so dürfte die Keltensiedlung im Raum Schwarzenbach-Burgberg vor über 2.000 Jahren ausgesehen haben.

Die Kelten hinterließen vor 2.000 Jahren eine Industriewüste 
Forscher wiesen bei Oberpullendorf Tausende Eisenerz-Abbaustätten nach

Schwarzenbach/Oberpullendorf/Wien – Tausende Gruben, in denen Eisenerz gefördert wurde, großflächige Waldrodungen und eine stark befestigte, weitläufige keltische Siedlung: So etwa kann man sich die Gegend um das heutige Oberpullendorf im Burgenland vor 2.000 Jahren vorstellen. Archäologen haben in den vergangenen Jahren die bisher ungeahnten Dimensionen dieses früheren Zentrums der Eisenerzeugung mit neuen virtuellen Forschungsmethoden erfasst.

Seit rund 25 Jahren erforschen Wissenschafter des Ludwig Boltzmann Instituts für Archäologische Prospektion und Virtuelle Archäologie (LBI ArchPro) und der Universität Wien die Gegend im heutigen Grenzgebiet zwischen Niederösterreich und dem Burgenland rund um das keltische Freilichtmuseum am Burgberg in Schwarzenbach in der Buckligen Welt (Bezirk Wiener Neustadt-Land). Die Lage auf dem Burgberg gewährte den dort ansässigen Keltenfürsten einen guten Überblick über das weite Umland. Seine Blütezeit hatte der Ort im Zeitraum zwischen ungefähr 250 bis 15 vor unserer Zeitrechnung.

Eisen von berühmter Qualität

Der Schlüssel zum einstigen wirtschaftlichen Erfolg lag in der Eisenproduktion und dem Eisenhandel. Über die hohe Qualität des "ferrum noricum", des norischen Stahls, berichtete bereits Ovid in seinem "Metamorphosen" ([…] durior […] ferro quod noricus excoquit ignis […] ("hart wie Eisen und Stahl, in der norischen Esse geschmolzen"). In welchem Ausmaß dieses gewonnen und verarbeitet wurde, analysierte das Forschungsteam nun mittels digitaler Modelle des Geländes und anhand neuer Luftbilder. Zur Überraschung der Wissenschafter zeigte sich, dass es einst in der Gegend Tausende sogenannte Pingen – also Eisenerzgruben – gab.

Laut Schätzungen des Teams um den Leiter des Boltzmann-Instituts, Wolfgang Neubauer, wurden in einem Zeitraum von rund 150 Jahren zwischen 35.000 bis 60.000 Tonnen Eisenerz gefördert. Das entsprach wiederum rund 3.500 bis 6.000 Tonnen Eisen, die in und um diese wohl zu den wichtigsten Zentren des Königreichs Noricum gehörende Ortschaft erzeugt wurden.

Rekonstruktionen keltischer Häuser im Freilichtmuseum Schwarzenbach.

Bis zu 4.000 Hektar Wald gerodet

Eine Produktion dieses Ausmaßes hatte demnach auch enorme Auswirkungen auf die Umwelt, da es dazu großer Mengen an Holzkohle bedurfte. Es sei davon auszugehen, dass die Kelten in der Gegend 2.200 bis 4.000 Hektar Wald abgeholzt haben. Das derart entwaldete, mit Pingen durchlöcherte, verwüstete Gebiet bezeichneten römische Historiker als "Deserta Boiorum".

Inmitten dieses frühen Industriegebiets ließ es sich für die Elite aber offenbar gut leben: So konnten sich die Keltenfürsten nachgewiesenermaßen Pferde aus römischer Zucht leisten – obwohl das eigentlich nur römischen Bürgern vorbehalten war. Funde aus dem Handwerkerviertel von Schwarzenbach bezeugen, dass dort mit einem über die Zeit zunehmend abgenutzen Stempel Silbermünzen geprägt wurden.

So stellt man sich die umfangreiche Wallanlage rund um die Siedlung vor. 

Einzigartige keltischen Münzprägestätte

Es handle sich hier um den ersten gesicherten Nachweis einer keltischen Münzprägestätte in Österreich und den Beweis für den hohen Status des Ortes, der allerdings vor über 2.000 Jahren ein jähes Ende fand. Die Siedlung war zwar mit einem bis zu sieben Meter hohen Wall gesichert, ihren Untergang konnte diese jedoch nicht verhindern: Mindestens zwei Mal wurde die nun auf Basis der neuen Erkenntnisse virtuell rekonstruierte Siedlung angegriffen und schlussendlich auch zerstört.

Heute können sich Besucher trotzdem ein Bild vom damaligen Leben machen. Mit zwei neuen, vom Experimentalarchäologen Wolfgang Lobisser von der Uni Wien und einem Team aus Archäo-Technikern erbauten keltischen Wohngebäuden kann das an dem historisch bedeutenden Ort seit rund 15 Jahren bestehende Freilichtmuseum aufwarten. Die Eröffnung findet am Donnerstag (30. Mai) statt. (red, APA,)
 

Montag, 27. Mai 2019

Also doch noch?!


Über das Wahlergebnis in Griechenland schreibt der Wiener Standard:

Der frühere Finanzminister Yanis Varoufakis kam mit seinem Democracy in Europe Movement 2025 auf etwa drei Prozent der Stimmen. Er kann damit ins EU-Parlament einziehen. Varoufakis sagte, nun würde das Ende der griechischen Krise beginnen. - 


Nota. - Durfte er in beiden Ländern kandidieren? Ich hab's ja gesagt: Es wird einige Überraschungen geben. Dann hat eine europäische Liste ja wirklich Sinn gehabt!
JE


Sonntag, 26. Mai 2019

Von oben muss sich was ändern.


Nun ist Varoufakis wohl doch nicht nach Europa gewählt worden. Ich wüsste aber auch nachträglich nicht, wen ich sonst mit einigermaßen erhobenem Haupt hätte ankreuzen sollen. Man kennt ja keinen von denen, doch wenn es Köpfe wären, die was zu sagen haben, wäre es anders. Dann könnte man wählen.
 
Dass ich eine europäische Liste gewählt habe und keinen Heimatverein, war jedenfalls richtig, das tu ich das nächste Mal wieder. Wenn es Leute wären, die was zu sagen haben, hätten sie vielleicht auch mehr zu sagen. Von oben muss sich was ändern.





Ich hab's gewagt.

 
Noch nie war eine Europawahl nicht nur der Sache nach, sondern, wer hätte das für möglich gehalten, auch in der öffentlichen Wahrnehmung so wichtig wie diese. Mit Überraschungen und folglich knappen Ergebnissen ist allerorts zu rechnen. Ich habe nur eine Stimme, das ist nicht viel, und umso weniger mag ich sie verschenken.

Also habe ich mich diesmal zusammengerissen und nicht nach heimatlich-provinziellen, sondern geradezu nach europäischen Gesichtspunkten gestimmt. Ich habe eine europäische Liste gewählt, weil ich ihren Spitzenmann als Abgeordneten in Straßburg-Brüssel sehen will. 


Werde ich nun meine Stimme verschenkt haben? Na, diesmal hab ich's gewagt.


Samstag, 25. Mai 2019

Mein Wahlaufruf.



Wer im Internet an die Öffentlichkeit drängt, muss keine Verantwortung übernehmen, auch nicht auf YouTube. Dort braucht er lediglich vor ein bisschen Selbstdarstellung nicht zurückzuscheuen.

Als ich mich entschlossen habe, morgen Varoufakis zu wählen, war der Rezo-Scoop noch gar nicht on air, und ich habe ihn bis heute nicht angesehen. Stünde morgen Angela Merkel
als Ratspräsidentin zur Wahl, würde ich keinen Moment zögern, mein Kreuz zu machen, egal auf welcher Liste sie stünde. Zwar vertritt sie nicht ihre ganze Partei, das werfen ihr manche vor, aber mich beruhigt es. Doch steht sie für viel mehr. Sie hat nicht das daraus ge- macht, was ich erhofft habe, aber sie ist ja noch nicht aus der Welt.

Auf der Liste, die sie unterstützt, kenne ich keinen, der ihre Politik so verträte, dass ich sie wiedererkenne. Das ist der Grund, weshalb ich mich anderswo umgesehen habe. Varoufakis ist einer, den ich kenne. Nicht, dass ich ihn für einen Angela-Merkel-Statthalter hielte; aber ein Europäer ist er so entschieden wie sie, und das ist auf seiner Seite des politischen Spektrums überhaupt nicht selbstverständlich. Umso mehr Grund, ihm Verantwortung anzuver- trauen.

Freitag, 24. Mai 2019

Ich wähle Varoufakis.


"Aber das ist doch ein Linker!"

Als Finanzminister hat er die Interessen seiner Leute wahrgenommen, das war seines Amtes. Doch in keinem Moment hat er ihnen geraten, Europa den Rücken zu kehren - obwohl er damit im politischen Geschäft bleiben konnte.

Und in keinem Moment hat er auf Merkel und Schäuble geschimpft. Dass Deutschland die feste Burg Europas ist, hat er nie verschwiegen, und darum kandidiert er hier.

Was er im Europaparlament im Einzelnen vorhat, weiß ich gar nicht. Ich wähle ihn aus einem ganz andern Grund.

Er ist ein Kopf und Selberdenker. Er sagt, was er für richtig hält, und nicht durch die Blume. Solche Leute fehlen in Europa. In den einzelnen Ländern weißgott auch, aber dort werden immer genug um die Posten rangeln. Nach Europa muss man sie prügeln, freiwillig gehen nur Martin Schulze und sein Kaliber. Es ist nötig, dass ein paar von Varoufakis' Schlag dort einen neuen Ton angeben. Wenn nicht vom Parlament Ideen ausgehen, von wo sonst?




 




Donnerstag, 23. Mai 2019

Deutschland muss Verantwortung übernehmen.

etruskisch, 5. Jhdt v. Chr.
 aus welt.de, 23. 5. 2019


François Hollande: Spannung hat es immer schon gegeben. Wir müssen den Deutschen jetzt sagen: Europa kann nicht nur ein wirtschaftliches, finanzielles, monetäres Unternehmen sein. Wir haben Europa nicht gegrün- det, nur um Handel zu treiben. Für die zukünftigen Generation geht es um Demokratie, Kultur, Ökologie, Ver- teidigung und Entwicklungshilfe. Es war lange Zeit normal, dass unsere deutschen Freunde wirtschaftliche Macht gewinnen wollten, um politische Einfluss auszuüben. Aber heute, ohne eine starke EU mit enger Bindung von Frankreich und Deutschland, können sie nicht mehr sicher sein, diese Wirtschaftsmacht zu erhalten. Des- halb muss Deutschland Verantwortung übernehmen. Wenn es in die Defensive geht und sich nur für seine wirt- schaftlichen Interessen stark macht, wird es nicht länger Teil eines politischen Projektes sein.

WELT: Warum hat dann die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer ausgerechnet jetzt Vorschläge gemacht, die die Franzosen verärgern mussten?

François Hollande: Während des Wahlkampfs gibt es immer die Versuchung, die Wähler mit nationalistischen oder populistischen Argumenten zu ködern. Frankreichs Sitz im UNO-Sicherheitsrat anzuzweifeln oder das Europaparlament von Straßburg nach Brüssel legen zu wollen, das sind keine Vorschläge, die die deutsch-französische Freundschaft vertiefen werden. Es ist noch nicht mal hilfreich, wenn man die Wähler am rechten Rand ködern will. Wenn Frankreich und Deutschland sich verstehen, das hat mich meine Erfahrung als Präsi- dent gelehrt, dann beschweren sich viele Länder über diese privilegierte Beziehung. Und umgekehrt, wenn sie uneinig sind, kommen dieselben einzeln an und flehen uns an, schnellstmöglich einen Konsens zu finden. Der europäische Motor funktioniert nur, wenn Frankreich und Deutschland gemeinsam etwas wollen.


Nota. - Angela Merkel hat für Deutschlannd Verantwortung übernommen, zuerst in der Griechenlandfrage, dann beim Flüchtlingsproblem. Dass Frau Kramp-Karrenbauer ihr auf dem Weg folgen will, hat sie bislang nicht er- kennen lassen  Es sieht eher aus, als stünde sie auf dem Schlauch. Da mag es nötig werden, dass Merkel noch einmal persönlich für Europa Verantwortung übernimmt.
JE

Mittwoch, 22. Mai 2019

Das Khanat Chiwa.


aus derStandard.at, 22. Mai 2019                                                                                                     Chiwa, Usbekistan.

Das Archiv der Khane von Chiwa: 
Dokumentationskultur der islamischen Welt
Können Archive quer durch die Zeit, den Raum, die Kulturen einander ähnlich sein?

von Paolo Sartori

Warum brauchen wir Dokumente? Warum benötigen wir Archive? Manch einer würde sich denken, dass man sich zu den Archiven begibt, um ein Beweisstück über die Vergangenheit ausfindig zu machen. In den Archiven dieser Welt, in denen ich gearbeitet habe, bin ich Leuten begegnet, die glaubten, die Archive seien jene Orte, in denen sie auf die Wahrheit über ihre Vergangenheit stoßen können. Gleichgültig ob in London oder in Moskau, gehen Menschen in die Archive, um etwa ihre Familiengeschichte auf die Wurzeln zurückzuführen. In solchen Fällen verstehen die Menschen die Archivalien erneut als Beweisstücke.

Anders als die Historiker. Letztere nehmen keineswegs das in den Archiven Ausgegrabene für bare Münze. Im Zuge der letzten Jahrzehnte hat eine Reihe von Gelehrten in aller Ausführlichkeit darüber reflektiert, dass die Archive jeweils in spezifischer Art und Weise organisiert sind, das heißt um eine bestimmte Vision der Geschichte zu unterstützen. Man könnte zugespitzt sagen, dass sie wie eine Art Familienalbum funktionieren. Heutzutage stimmen viele Historiker darin überein, dass die Archive keineswegs ein rein neutraler Aufbewahrungsort der Vergangenheit sind. Sie spiegeln vielmehr eine Form der Staats- oder Regierungsordnung, ein staatlich geführtes Narrativ wider.

Können die Archive quer durch die Zeit, den Raum, die Kulturen einander ähnlich sein? Werden die dort gesammelten Dossiers derart penibel gemeistert und zu den gleichen Zwecken aufbewahrt, mit denen wir im Westen vertraut sind? Oder würden die Archivierungspraktiken zum Beispiel in der Geschichte der islamischen Welt andere, ganz unterschiedliche Staatlichkeits- und Regierungsformen reflektieren?

Das Archiv der Khane von Chiwa

Chiwa war lange Zeit die Hauptstadt einer Region, die unter dem Namen Choresmien bekannt ist und ungefähr dem Territorium der größten Oase Zentralasiens entspricht – ein Juwel, das zwischen den drei auf dem Gebiet der heutigen Republiken Usbekistan, Turkmenistan und Kasachstan gelegenen Wüsten eingebettet ist. Aus der nach der Kriegskampagne des iranischen Eroberers Nadir Shahs verbliebenen Asche entstand eine neue usbekische Stammesdynastie, jene der Qongraten, die Choresmien unter ihre Kontrolle brachte. Die Qongraten-Dynastie regierte von den 1770er-Jahren bis 1873, als die Russen Chiwa belagerten und dort anschließend ein Protektorat etablierten, das bis zum Jahre 1924, also bis zur Etablierung der Sowjetmacht, in der Region existierte.

Als die Russen in die Stadt einzogen, fanden sie eine umfangreiche Sammlung von Aufzeichnungen in arabischer Schrift, die mehr als 10.000 Einzeltitel umfasste. Gemeinsam mit den etwa 300 Kodizes gehörten sie der Kanzlei des Khanats von Chiwa an. Die Dokumente wurden unverzüglich nach St. Petersburg abtransportiert. Dort lagen sie in Vergessenheit bis 1936, als der sowjetische Orientalist Pawel Iwanow sie in der Öffentlichen Bibliothek der gleichen, damals Leningrad genannten, Stadt ausfindig gemacht hat. Seit ihrer (Wieder-)Entdeckung durch Iwanow wurde diese Textsammlung unter der Bezeichnung "Archiv der Khane von Chiwa" (russisch: "Archiv chivinskich chanov") bekannt. Im Jahr 1962 wurde die gesamte Sammlung der damaligen sowjetischen Teilrepublik Usbekistan zurückgegeben. Dieses Archiv hat für uns eine enorme Bedeutung, da es heutzutage die reichste Sammlung von Texten in arabischer Schrift aus dem islamischen Zentralasien darstellt, die die ganze Periode vor der russischen Eroberung abdeckt.

Der "einheimisch-ethnografische" Staat

Die Dokumente aus den Archiven Chiwas bringen zwei auffällige Merkmale zum Vorschein. Das erste ist das Fehlen eines einheitlichen Wortschatzes zur Beschreibung der choresmischen Gesellschaft – eines Erfassungssystems, das dem Khanat verhelfen würde, das Wissen über seine Untertanen zu disziplinieren. Das Archiv reflektiert einen Versuch, die Lokalbevölkerung zum Selbstausdrücken zu bringen, als eine Bemühung, einen Diskurs in Bewegung zu setzen, mit dem man die eigene Herrschaft und Hegemonie auf die Welt rund um Chiwa projizieren hätte können. Das Khanat Chiwa war eine staatliche Formation, die sich ausdrücklich auf lokale politische Einheiten zu verlassen pflegte.

Dies ist natürlich von Bedeutung, um die Loyalität zu stärken und die gesellschaftliche Beteiligung an der Kommunikation mit der Dynastie und ihrer Administration zu fördern. Aber das lässt auch die Gefahr entstehen, den Staat zu den mehrfachen, wenn auch widersprüchlichen, Sorgen der Gesellschaft viel zu nahe zu bringen. Es sieht so aus, als hätte das Khanat viele Dinge gesehen. Wahrscheinlich fehlten ihm aber die Mittel, das Wissen, das es produzierte, zu verarbeiten und zu systematisieren. Das Khanat Chiwa war ein "einheimisch-ethnografischer" Staat, der den verschiedenen Ausdrucksformen des Lokalismus vielleicht viel zu stark sympathisierte, um diesen seine eigenen interpretativen Kategorien auferlegen zu können.

Ein Archiv für lokale Historiker

Dies bringt mich zum zweiten und wichtigsten Merkmal der Chiwa-Archive, das der Materialität derartiger Texte innewohnt. Warum bewahrten sie die Khans überhaupt auf? Bezüglich der Register oder der königlichen Vollmachten für Hoflieferanten ist es offensichtlich, dass diese Texte die Kraft von gesetzlichen Präzedenzfällen besaßen. Die Botschaftermitteilungen, die Berichte von Schlachtfeldern, die Berufungen auf die Loyalität von Nachbarstämmen und viele andere Arten von Aufzeichnungen stellen jedoch einen anderen und komplexeren Fall dar. Es sind dies Texte, die hochwahrscheinlich den Qongraten erlaubten, die Gesellschaft irgendwie unter Kontrolle zu behalten, und erlaubten es dem Hof, seine politischen Maßnahmen anzupassen, um soziale Verhältnisse zu verändern. Die Aufbewahrung dieser Texte stellt jedoch ein Problem dar. Am wahrscheinlichsten verloren diese Aufzeichnungen innerhalb eines kurzen Zeitraums ihren ursprünglichen Dokumentationswert. Es ist nun einmal schwer vorstellbar, dass die Khane von Chiwa sonderlich engagiert waren, die Hilferufe einzelner Personen nach einem Angriff der Kasachen auf ihre Karavanen für die Ewigkeit aufzubewahren.

Die Frage lautet also: Was für ein Nachleben erhielten solche Texte dadurch, dass sie sich nunmehr im Archiv befanden? Um diese Frage zu beantworten, würde ich mit der Hausverstand-Beobachtung beginnen, dass die Textualisierung Faktizitäten erzeugt, das heißt, dass sie die Ereignisse in der Zeit festlegt und sie der Geschichte anvertraut. Ein Dokumentationsprojekt wie jenes von Chiwa ist deshalb eine Möglichkeit, Geschichte zu erschaffen. Und es sollte uns daher nicht überraschen, dass sämtliche kleine Details über einen Botschafterbesuch oder Berichte über die x-ten Gefechte mit den Turkmenen des Öfteren erst durch die Arbeit der Hofhistoriker unsterblich gemacht wurden. Unter den Bergen von blumigen Worthülsen und Lobpreisungen lassen sich viele Elemente finden, die darauf andeuten, dass derartige Dokumentationspraktiken in der Abfassung historischer Werke gipfelten und die auf Beispiele hinweisen, in denen ein Dokumentationsgenre ins Historische metamorphierte. Tatsächlich können wir nun zeigen, in welchem Maße sich die Historiker auf die bürokratischen Praktiken der Verarbeitung von Berichten und Meldungen verließen.

Dies lässt sich nachweisen, indem man auf minutiöse Weise die letzten dynastischen Chroniken mit der Dokumentensammlung vergleicht, die wir heute unter dem Namen "Archive der Khane von Chiwa" kennen. Das Archiv der Khane Chiwas war höchstwahrscheinlich ein Aufbewahrungsort von Aufzeichnungen zum Gebrauch lokaler Historiker.


Muhammad Amin Khan Medrese in Chiwa.

So betrachtet verkörpert eine zwischen der zweiten Hälfte des 18. und dem ausgehenden 19. Jahrhundert in einer zentralasiatischen Oase entstandene Sammlung von Aufzeichnungen Staatlichkeits- und Regierungspraktiken, die denjenigen ähneln, die für das Staatswesen im frühmodernen Europa typisch sind. Es gibt allerdings eine wesentliche Anzahl von aus dem Chiwa-Archiv stammenden Texten, die sich unserem Verständnis entziehen und deren mögliche Funktionen und Aufbewahrungsgründe unklar bleiben.

Archive und Dokumente in der persisch geprägten Welt

Die Sommerschule "Cultures of Documentation in Persianate Eurasia (15th–19th Centuries)" vom österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, der Themenplattform "Religion, Gesellschaft und Politik im euro-asiatischen Raum" und der Jungen Akademie finanziell unterstützt, hat es sich zum Ziel gesetzt, die Diversität in den Dokumentationskulturen jener Teile Eurasiens zu erfassen, in denen das Persische − in einer Situation anhaltender Vielsprachigkeit − als Medium zur gelehrten und diplomatischen Kommunikation verwendet wurde. Diese Sommerschule verbindet Wissenschafter und Studierende aus Nordamerika, Europa, Südasien und den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, die sich den Herausforderungen gegenüber der Erforschung der Aufzeichnungen, Schreibpraktiken und Archivierungstätigkeiten in der islamisch geprägten Welt zuwenden möchten. Unsere Sommerschule erachtet als ihre Prioritäten das Studium von Sammlungen von in arabischer Schrift entstandenen Aufzeichnungen der (früh-)modernen Periode in der heutigen Türkei, in Kaukasien, Iran, Zentralasien und Indien. Des Weiteren hat sich dieses Ereignis zum Zweck gesetzt, unterschiedliche Disziplinen wie Geschichte, Philologie, Paläografie, Kodikologie und Anthropologie ins Gespräch zu bringen.

Paolo Sartori ist seit 2011 Senior Scientist am Institut für Iranistik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Im Jahr 2006 schloss er sein Doktoratsstudium der Islamwissenschaft an der Universität La Sapienza, Rom, ab. Daraufhin erhielt Sartori zwei Fellowships der Volkswagen-Stiftung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg für die Periode 2007–2011. In 2013 verlieh ihm der Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung den Start-Preis für sein Projekt "Seeing Like an Archive: Documents and Forms of Governance in Islamic Central Asia (18th–19th Centuries)". 2016 wurde er zum Mitglied der Jungen Akademie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gewählt.

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Dienstag, 21. Mai 2019

Das Kreuz der Arbeit.

A. Boucher
aus Die Presse, Wien,

Der Fluch des Ackers: Weniger Freizeit Eine Studie auf den Philippinen zeigt: Der Übergang zur Landwirtschaft erhöht die Arbeitszeit.
 


„Verflucht sei der Acker“, sagt Gott zu Adam: „Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang.“ Tatsächlich habe die Einführung der Landwirtschaft (in verschiedenen Regionen zu verschiedenen Zeiten, im Nahen Osten vor ca. 11.000 Jahren) einen Fluch bedeutet, befand Biologe Jared Diamond 1988: Sie habe uns Fehlernährung, Seuchen, Herrschaft und Ausbeutung gebracht.

Diamond stützte sich u. a. auf Marshall Sahlins, der in „Stone Age Economics“ (1972) erklärt hatte, dass Jäger und Sammler viel mehr Freizeit (gehabt) hätten, er sprach von der „ursprünglichen Überflussgesellschaft“. Wobei sich fragt, wie unsere heutige Vorstellung von Arbeit und Freizeit auf eine altsteinzeitliche Gesellschaft passt. Und wie man in einer solchen die Arbeitszeit misst.

Forscher um Mark Dyble (Uni Cambridge) beobachteten den Tagesablauf von 360 Agta, das sind Menschen in den Bergen der philippinischen Insel Luzon, die teilweise noch halbnomadisch als Jäger und Sammler leben. Auch ihre Kultur ist freilich dem Druck der umliegenden Zivilisation ausgesetzt, vorangetrieben durch Bergbau und Rodung, in manchen Agta-Gemeinschaften arbeiten bereits viele in der Landwirtschaft. Dieser Fortschritt verringert die Freizeit deutlich, und zwar vor allem für die Frauen: Ihr Aufwand für Haushalt und Kinderbetreu- ung bleibt annähernd gleich – zu diesen Aufgaben tragen sie mehr bei als die Männer –, aber sie arbeiten mehr außerhalb des Lagers. Das könnte auch an kulturellen Normen liegen: Jagen und Fischen werden als Männersache gesehen, zusätzliche landwirtschaftliche Arbeit wird dann eher den Frauen zugemutet. Sie beschränkt sich jedenfalls auf ca. 30 Stunden pro Woche, Jäger und Sammler widmen sich gar nur 20 Stunden dem Nahrungserwerb.

Diese Ergebnisse seien in der heutigen Umweltkrise besonders interessant, kommentiert die Zeitschrift Nature Human Behaviour (20. 5.): „Vielleicht sollten wir auf prähistorische Jäger-und-Sammler-Gesellschaften zurückblicken, um zu lernen, wie man seine materiellen Bedürfnisse beschränkt, und nebstbei ein wenig Freizeit zurückzugewinnen.“

Agta auf den Philippinen
aus scinexx                                                                                       Nichtstun am Nachmittag

Jäger und Sammler leben entspannter

Stressiger Alltag: Mit der Erfindung der Landwirtschaft hat sich der Mensch bedeutend mehr Arbeit aufgehalst. Wie das Beispiel der Agta von den Philippinen zeigt, geht die Abkehr vom Jäger-und-Sammler-Dasein für den Einzelnen mit spürbar weniger Freizeit einher. Vor allem der Alltag von Frauen wird dadurch offenbar deutlich stressiger. Dies bestätige, dass die neolithische Revolution nicht nur Vorteile gebracht habe, berichten die Forscher.

Vor rund 10.000 Jahren ereignete sich ein großer Wandel: Unsere Vorfahren wurden sesshaft und begannen, Landwirtschaft zu betreiben. So wurden aus ehemaligen Jägern und Sammlern nach und nach Bauern. Doch was brachte den Menschen diese sogenannte neolithische Revolution überhaupt?
 
„Lange Zeit galt die Erfindung der Landwirtschaft als Fortschritt, der es den Menschen ermöglichte, einer mühseligen Lebensweise zu entfliehen“, erklärt Mark Dyble von der University of Cambridge. „Inzwischen zeichnet sich jedoch etwas anderes ab.“ So könnte das Leben als sesshafter Bauer im Gegenteil sogar mit mehr Arbeit und weniger Freizeit verbunden gewesen sein.

Bauern vs. Jäger und Sammler

Was an dieser Hypothese dran ist, haben Dyble und seine Kollegen nun bei den Agta untersucht – einer indigenen Bevölkerungsgruppe von den Philippinen. Das Interessante: Die Agta leben traditionell als Jäger und Sammler. Einige Gemeinschaften wenden sich heute jedoch zunehmend auch der Landwirtschaft zu.

Um herauszufinden, welche Auswirkungen diese beiden Lebensweisen auf den Alltag haben, begleiteten die Wissenschaftler zwei Jahre lang 359 Mitglieder aus insgesamt zehn unterschiedlichen Agta-Gemeinschaften. Wie sah ein typischer Tag bei diesen Menschen aus? Wie viel Zeit wendeten sie für Arbeit, Haushalt und Kinder auf – und wie viel Freizeit blieb ihnen?

Zehn Stunden mehr Freizeit

„Unsere Ergebnisse stützen die Annahme, dass das Jäger-und-Sammler-Dasein viel Zeit für Freizeitaktivitäten lässt. Dies scheint sich zu ändern, wenn Gemeinschaften im kleinen Stil Landwirtschaft betreiben“, berichten die Forscher. Konkret offenbarten die Auswertungen: Je mehr sich eine Gemeinschaft dem bäuerlichen Lebensstil verschrieben hatte, desto härter arbeiteten ihre Mitglieder und desto weniger Freizeit blieb ihnen.

Im Schnitt wendeten Agta, die hauptsächlich von der Landwirtschaft lebten, demnach 30 Stunden pro Woche für die damit verbundene Arbeit auf. Ihre benachbarten Jäger und Sammler waren dagegen nur rund 20 Stunden unterwegs, um Nahrung zu organisieren – ihnen blieben dadurch zehn Stunden mehr Freizeit.

Vor allem Frauen betroffen

Bemerkenswerter Weise kam diese drastische Differenz vor allem durch eine veränderte Lebensweise der Frauen zustande, wie das Wissenschaftlerteam herausfand. Anstatt sich ausschließlich auf nötige Arbeit im Haushalt und die Kindererziehung konzentrieren zu können, mussten die weiblichen Mitglieder Landwirtschaft betreibender Gemeinschaften zusätzlich auf den Feldern arbeiten. Sie hatten dadurch nur halb so viel Freizeit wie Frauen aus Gruppen, in denen ausschließlich gejagt und gesammelt wurde.

Warum das weibliche Geschlecht am meisten unter der neuen Lebensweise leidet, ist den Forschern zufolge noch unklar. „Ein Grund könnte sein, dass landwirtschaftliche Arbeit leichter unter den Geschlechtern aufzuteilen ist als beispielsweise Jagen oder Fischen“, spekuliert Dyble.

„Effektive Lebensweise“

Was sagen diese Ergebnisse nun über das Leben unserer Vorfahren aus? Zwar lassen Beobachtungen moderner Jäger und Sammler nicht zwangsläufig Aussagen über deren Vorgänger vor tausenden von Jahren zu. „Sollten die ersten Farmer jedoch tatsächlich härter gearbeitet haben als die Jäger und Sammler, drängt sich eine Frage auf: Warum übernahm der Mensch die landwirtschaftliche Lebensweise überhaupt?“, konstatiert Dybles Kollegin Abigail Page.

Frühere Untersuchungen haben in diesem Zusammenhang nahegelegt, dass das sesshafte Bauernleben unter anderem die Produktivität und das Bevölkerungswachstum förderte sowie der Etablierung hierarchischer politischer Strukturen entgegenkam.

„Die Menge an Freizeit, die die Agta genießen, zeigt aber auch, wie effektiv die Jäger-und-Sammler-Lebensweise ist. Die große gemeinsame Freizeit könnte auch erklären helfen, wie es solche Gemeinschaften schaffen, so viel Wissen von Generation zu Generation weiterzugeben“, schließt Page. (Nature Human Behaviour, 2019, doi: 0.1038/s41562-019-0614-6)

Quelle: University of Cambridge

Sonntag, 19. Mai 2019

Deutschland kann die Welt...


 
...nicht retten, da hat auch ein Friedrich Merz mal Recht.
Aber Deutschland ist in der Welt zu wichtig, um nur an sich selbst zu denken.

Darum wird man sich an Angela Merkel erinnern und an Friedrich Merz nicht.








 

Samstag, 18. Mai 2019

Donnerstag, 16. Mai 2019

Merkel for Ratspresident.


aus Süddeutsche.de, 16. 5. 2019

... In wenigen Tagen wählen die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union ein neues Parlament. Die Gemeinschaft ist in der Krise, es wird mit Stimmengewinnen rechtspopulistischer Parteien gerechnet. Welche Verantwortung dafür trägt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die nach 14 Jahren im Amt trotz ihres für spätestens 2021 angekündigten Abschieds aus der Politik noch immer als mächtigste Frau Europas gilt? Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung hat Merkel jetzt wichtige Entscheidungen der vergangenen Jahre verteidigt: "Hätten wir in der Euro-Krise und in der Flüchtlingskrise nicht oder ganz anders gehandelt, hätte das meiner Meinung nach sehr viel schlimmere Folgen als manche Probleme heute gehabt."

Merkel war wegen der harten Sparauflagen für Krisenstaaten wie Griechenland als Austeritätskanzlerin kritisiert worden, die Europa in die reicheren Länder des Nordens und die ärmeren des Südens gespalten habe. In der Flüchtlingskrise seit 2015 kam der Vorwurf hinzu, die Kanzlerin habe ihre Entscheidungen ohne Abstimmung mit den europäischen Partnern getroffen und damit vor allem osteuropäische Regierungen verprellt. Merkel sagte: "Das sind keine Entscheidungen, die am Reißbrett entstehen, sondern Antworten auf das reale Leben." Weltweit seien knapp 70 Millionen Menschen auf der Flucht, deshalb sei es nachvollziehbar gewesen, "dass sich Europa mit gut einer Million davon befassen muss". Dass das zu gesellschaftlichen Kontroversen führe, verstehe sie. "Aber die müssen dann eben ausgetragen werden. " ...


Nota I. - An beiden Punkten - Griechenland und Flüchtlingskrise - hat Merkel den Charakter der Europäischen Union geprägt wie kein Politiker vor ihr. Dass sie in Deutschland kein Wahlamt mehr anstrebt, ist in Ordnung; dieser Rahmen ist für sie zu eng geworden. Aber die Verantwortung, den eingeschlagenen europäischen Weg zu einem guten Ende zu führen, sollte man ihr nicht vorenthalten. Wer könnte das besser als sie, die ihn vorgege- ben hat? Und wer hätte die Autorität dazu?

Angela Merkel muss neue Ratspräsidentin werden.


Nota II. -  Eben hat sie gesgt, das käme für sie nicht in Frage. Was aber ihre Autorität ausmacht, ist, dass sie als eine Führungsperson gilt, bei der Pragmatismus nicht Opportunismus bedeutet. Mit andern Worten, starken Gründen ist sie jederzeit zugänglich. Ein lauter Ruf wäre so eine starker Grund.
JE


 


Mittwoch, 15. Mai 2019

Vernunft und Moral.

Diese Luftaufnahme zeigt chinesische Reisbauern bei der Feldarbeit: Reisbauern sollen eher kollektivistisch denken als Weizenbauern.
aus FAZ.NET, 14.05.2019                                               Reisbauern sollen eher kollektivistisch denken als Weizenbauern.      

Wohnen Sie lieber neben einem Dieb oder einem Sodomiten? 
Unsere moralischen Urteile sind nicht rational, sie gründen sich vielmehr auf Angst, Zorn, Ekel: Der Philosoph Philipp Hübl fragt in seinem neuen Buch nach dem Ursprung der Polarisierung.

von Manuela Lenzen

Würden Sie einem Psychologen Ihre Seele verkaufen? Für zwei Dollar? Scott Murphy von der Virginia University hat es ausprobiert: Nur dreiundzwanzig Prozent der Probanden unterzeichneten seinen „Vertrag“ und steckten die zwei Dollar für eine sinnlose Unterschrift ein. Was hielt die anderen davon ab? Was regiert unsere Entscheidungen? Ein Bauchgefühl, um das bestenfalls im Nachhinein eine Rechtfertigung gestrickt wird, oder die Vernunft? Und was bedeutet das für unser Zusammenleben? Das sind Fragen, denen der Philosoph Philipp Hübl in seinem neuen Buch nachgeht.

Dabei geht es weniger, wie der Titel verspricht, um die aufgeregte als um die gespaltene Gesellschaft: Konservative gegen Progressive, Stadt gegen Land, Jung gegen Alt, Kollektivisten gegen Individualisten. Hübl setzt auf die Moralpsychologie: Sie soll helfen zu verstehen, wie diese Polarisierung zustande kommt.


Moralpsychologie untersucht, wie Menschen tatsächlich urteilen, nicht, wie die philosophische Ethik, wie sie urteilen sollten. Dazu verwendet sie mit Vorliebe fiktive Geschichten, zu denen die Versuchspersonen ihre Meinung äußern oder eine Lösung vorschlagen sollen, wobei je nach Versuchsaufbau ihre Reaktionszeiten, die Veränderung des Hautwiderstandes oder die Schweißbildung gemessen wird.

Hübl erzählt eine ganze Reihe dieser Studien nach, der Leser kann selbst überlegen, wie er antworten würde: Darf man mit der Landesflagge die Toilette putzen? Würden Sie lieber neben einem Ladendieb wohnen oder neben jemanden, von dem bekannt ist, dass er Sex mit Tieren hat? Ist einvernehmlicher Sex zwischen erwachsenen unfruchtbaren Geschwistern verwerflich? Und auch die „Fruchtfliege der Psychologen“ darf nicht fehlen: Darf man den dicken Mann vor den Zug schubsen, wenn man damit fünf Menschen retten könnte?

Philipp Hübl: Die aufgeregte GesellschaftIm ersten Teil des Buches zeigt Hübl, dass die Regelmäßigkeiten, die die Forscher aus diesen Studien extrahieren, nicht gerade geeignet sind, ein Selbstbild als rationales Individuum aufrechtzuhalten, das nach wohlüberlegten Prinzipien handelt. Einer amerikanischen Langzeitstudie zufolge kann man etwa anhand der Charaktermerkmale, die Erzieher bei Vierjährigen feststellen, recht zuverlässig vorhersagen, ob sie später eher republikanisch oder demokratisch wählen werden und welche Einstellungen sie zu Schwangerschaftsabbrüchen oder Homosexualität haben. Ebenso korreliert die Ekelneigung einer Person mit ihren politischen Präferenzen und Einstellungen gegenüber Fremden. 

Unsere Moral, so schließt Hübl daraus, verdankt sich eben nicht Prinzipien, sondern Emotionen wie Angst, Zorn, Ekel, Scham oder Schuld. Und sie ist biologisch grundiert, will heißen: anfällig für Angst vor Unbekannten, auf Hierarchien und Anerkennung aus. Und sie wird geprägt von der Welt, in der wir leben. Chinesen, die Reis anbauen, sind solchen Studien zufolge eher gesellschaftsorientiert und konservativ, solche, die Weizen anbauen, eher progressiv und individualistisch. Die angebotene Erklärung lautet: Reisanbau ist ein gemeinschaftliches Unterfangen, die Bewässerung muss geregelt werden, das Ganze kann nur gelingen, wenn alle an einem Strang ziehen. Beim Anbau von Weizen kann es dem einen Bauer hingegen ziemlich egal sein, was der andere auf seinem Acker tut.

Neben dieser „Reistheorie“ gibt es auch eine „Parasitentheorie“, der zufolge Menschen in Gebieten mit hoher Parasitenbelastung eher zum Kollektivismus neigen, Traditionen betonen, Autorität schätzen, für Vetternwirtschaft und Fremdenfeindlichkeit anfällig sind.

Mit der Rationalität der Moral ist es demnach also nicht so weit her. Aber warum polarisiert sich dann heute die Welt immer stärker? Weil der Wandel immer schneller voranschreitet, meint Hübl in den Teilen zwei und drei, die Politik und Gesellschaft gewidmet sind. Die jungen, progressiven Stadtbewohner, so legt er sich die Sache zurecht, begrüßen diesen Wandel, sie erwarten, dass es in der Zukunft besser wird. Die konservativen Landbe- wohner hingegen sähen die Globalisierung als Gefahr, verklärten eine vermeintlich bessere Vergangenheit und reagierten mit Abwehr, im Extrem mit Nationalismus und Xenophobie auf die Veränderungen.

Wir können Vorurteile überdenken und revidieren

Doch trotz solcher Umweltbestimmtheit und der gleichzeitig konstatierten Neigung zu stammesartigen Gebilden, über die Identitäten und Loyalitäten organisiert werden, hat Hübl auch naheliegende aufmunternde Worte parat. Die Moral habe zwar eine biologische Basis, sei aber ebenso eine Frage der Entscheidung. Wir können lernen, unsere Einseitigkeiten und Vorurteile wahrzunehmen, sie zu überdenken und zu revidieren. Wir sind in der Lage, eine gefühlte Terrorangst mit dem Blick auf die Statistik auf ein realistisches Maß zurückzudrängen. ...

Dienstag, 14. Mai 2019

Getreideverzehr in Göbekli Tepe.

aus derStandard.at, 7. Mai 2019

Große Festgelage am ältesten Großbauwerk der Menschheit
Archäologen finden in Göbekli Tepe in Anatolien Belege für pflanzliche Verköstigung bei Arbeitsfesten vor 10.000 Jahren

Als Beginn der menschlichen Zivilisation werden häufig die Anfänge des Alten Ägypten oder der sumerischen Stadtstaaten Südmesopotamiens etwa ab dem 4. Jahrtausend vor unserer Zeit genannt. Tatsächlich aber entstanden die ersten Monumente noch bedeutend früher im heutigen Anatolien: Vor rund 11.000 Jahren errichteten Steinzeitmenschen auf einem Hügel aus meterhohen, bis zu 20 Tonnen schweren Steinpfeilern ein gewaltiges Heiligtum. Der Göbekli Tepe benannte Tell in den Germus-Bergen nahe der türkischen Stadt Şanlıurfa beherbergt damit wohl eines der ältesten Großbauwerke der Menschengeschichte. 

Totentempel vom Übergang zur Sesshaftigkeit

Wissenschafter vermuten, dass sich die bedeutende Entwicklung vom umherziehenden Jäger und Sammler zum sesshaften Ackerbauern, Viehzüchter und Vorratshalter ebenfalls in dieser Region erstmals vollzogen hat. Die Bauherren der vermutlich einem Totenkult dienenden Anlage von Göbekli Tepe mit ihren mehr als drei Meter hohen und massiven Mauern und Kalksteinpfeilern waren frühe Meister der Baukunst. Die Steinoberflächen waren sorgsam geglättet, einige sind mit Tierreliefs oder Zeichnungen von Körperteilen verziert worden.


Erst ein Bruchteil der riesigen frühneolithischen Anlage von Göbekli Tepe wurde bisher ausgegraben.
Manche Wissenschafter ziehen Vergleiche mit Stonehenge im heutigen England, obgleich das Bauwerk in der Türkei wesentlich komplexer und umfangreicher und zudem um rund 6.000 Jahre älter ist. Der Großteil der Anlage steckt zudem noch unter der Erde. Kürzlich wurde der freigelegte Teil der Weltkulturerbe-Stätte für Touristen in Form eines "Open-Air-Museums" umfassend zugänglich gemacht. Die sichtbarste Verbesserung sind 4.000 Quadratmeter große Schutzdächer über der Ausgrabung. Sie wurden von deutschen Archäologen mit entworfen und von der EU finanziert.

Rituelle Versammlungsplätze

Nachdem vor zwei Jahren Archäologen in Göbekli Tepe Hinweise auf einen Schädelkult gefunden haben, liefern jüngste Ausgrabungen nun weitere Einblicke in die Funktion der ungewöhnlichen Anlage: Die gewaltigen Steinmonumente dienten nach bisherigen Erkenntnissen als wichtige Versammlungsplätze für Rituale, für die Kommunikation und dem Austausch untereinander. Die Wissenschafter nehmen an, sie sind eng mit dem Konzept von ‚work feasts‘ verbunden. Gemeint sind Arbeitsfeste, also große Zusammenkünfte, die vor Ort ausgerichtet wurden, um die notwendigen Arbeitskräfte zu rekrutieren.


Mörser und andere Geräte zur Verarbeitung pflanzlicher Nahrung liefern ein detailreiches Bild über die Verpflegung bei gemeinschaftlichen Arbeitsfesten.

Bisher beruhte der Nachweis für die Versorgung dieser Feste vor allem auf umfangreichem archäozoologischen Material: den oft zerbrochenen und verbrannten Knochen von Jagdwild, insbesondere Auerochsen und Gazellen. Im Rahmen einer umfangreichen Studie haben nun Forscher um Laura Dietrich vom Deutschen Archäologischen Institut (DAI) und der Freien Universität Berlin mit mehr als 7.000 Reibsteinen, Läufern, Mörsern und Stößeln eine außergewöhnlich große Anzahl solcher Geräte zur Verarbeitung pflanzlicher Nahrung untersucht.

Zeitlich begrenzte Treffen

Die im Fachjournal "Plos One" präsentierten Ergebnisse weisen auf einst große Mengen verarbeiteten Getreides hin und schließen so die Lücke nur wenig erhaltener tatsächlicher Pflanzenreste. Ohne klar identifizierbare Vorratslager vor Ort belegen diese Resultate, dass die Speisen nur zum unmittelbaren Verzehr während der Feste bereitgestellt wurden. Dies ergänzt das aus den Tierknochen gewonnene Bild und stützt die Hypothese großer Feste anlässlich zeitlich begrenzter Treffen am Göbekli Tepe im Sommer und Herbst, wie auch die Anwesenheit saisonal wandernder Tiere wie Gazellen nahelegt. (red.)

Studie im Volltext

Sonntag, 12. Mai 2019

Als der Kapitalismus vor dem Ende stand.

 
aus nzz.ch, 12. 5. 2019                                                                Demonstration von Arbeitslosen in Berlin um 1930

Schicksalsjahr 1931:
Als der Kapitalismus vor dem Ende stand
1932 wurde Adolf Hitlers NSDAP stärkste Partei im Deutschen Reichstag. In einem packenden Buch zeigt der Schweizer Historiker Tobias Straumann, wie es dazu kam: Eine auch wegen hoher Reparationspflichten übermässige Verschuldung kulminierte 1931 in einer Bankenkrise und dem Kollaps des Währungssystems.

von Christoph Eisenring, Berlin
 
Am Morgen kostete die Zeitung 50 000 Mark, am Abend schon 100 000: So beschrieb der Schriftsteller Stefan Zweig die Hyperinflation von 1923 in Deutschland. Die Geldpresse war angeworfen worden, um Löhne und Staatsausgaben zu finanzieren, die Währung zerfiel. Es ist ein Ereignis, das die Haltung der Deutschen zum Geld bis heute prägt. Preisstabilität hat hier ein höheres Gewicht als anderswo in Europa. Die Weimarer Republik brachte keine Stabilität.

Nur zehn Jahre später kam es zur Machtergreifung durch die Nationalsozialisten, die zum Holocaust und zum Zweiten Weltkrieg führte. Der Zürcher Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann zeigt in seinem neuen Buch, wie das Land auch nach der Währungsreform von einer Krise in die andere schlitterte und wie dies den Aufstieg Hitlers begünstigte. Im Jahr 1931 fallierte nicht nur die zweitgrösste deutsche Bank, sondern wurde das westliche Gesellschaftssystem immer brüchiger.

 
Gustav Stresemann (1878–1929)

Einladung zum Schuldenmachen

Von 1929 bis 1932 brach die deutsche Wirtschaftsleistung um ein Viertel ein; die Arbeitslosenquote kletterte auf über 20%. Einer Linderung der Misere in Europa standen wiederholt französisch-deutsche Animositäten entgegen. Dabei hatte es ab Mitte der 1920er Jahre zunächst nach einer Annäherung der «ewigen Rivalen» ausgesehen.

Das lag besonders an den beiden Aussenministern: Gustav Stresemann und Aristide Briand bekamen 1926 gemeinsam den Friedensnobelpreis. Sie verstanden sich bestens, wohl auch weil sie einen ähnlichen sozialen Hintergrund teilten: Während Briands Eltern in Nantes ein Café führten, betrieben die Stresemanns eine Kneipe in Berlin. Doch Stresemann starb schon mit knapp 50 Jahren. Man könne für ihn auch gleich einen Sarg bestellen, alles sei zu Ende, soll Briand nach dem Tod seines Freundes gesagt haben.

Für Straumann ist klar, dass die fragile wirtschaftliche Lage der Weimarer Republik auch mit den Reparationszahlungen für den Ersten Weltkrieg zusammenhing, deren Höhe zwar nachvollziehbar gewesen sei, die deutsche Leistungsfähigkeit jedoch überstiegen habe. Berlin war deshalb fortlaufend zu Sparprogrammen und Steuererhöhungen gezwungen. Deutschland hatte zum einen die Schäden für die Kriegsfolgen zu tragen, zum anderen die Schulden von Frankreich und Grossbritannien gegenüber den USA. Beides zusammen belief sich auf rund 100% der deutschen Wirtschaftsleistung.

Der Dawes-Plan von 1924 sollte eine Erleichterung bringen: Er machte es dem Reich möglich, die jährlichen Zahlungen zu strecken, wenn die neue, mit Gold und Devisen gedeckte Reichsmark in Gefahr war. Dies wirkte jedoch wie eine Einladung an ausländische Gläubiger, deutschen Banken und Firmen Kredite zu geben, weil durch den Dawes-Plan die Bedienung privater Schulden faktisch Priorität genoss. Da Deutschland höhere Zinsen als das Ausland bot, machten Banken aus den USA, Grossbritannien oder der Schweiz gerne mehr Geschäfte.
 
Deutsche Hyperinflation von 1923: Bankmitarbeiter stapeln im Tresorraum die Millionen für die Kunden. 

Über drei Generationen abstottern

Die Wende zum Guten brachte der Dawes-Plan trotzdem nicht, also wurde 1930 der Young-Plan geboren. Er verringerte zwar die jährlichen Reparationszahlungen. Im Gegenzug für diese Entlastung wurde jedoch eine fixe Zahlung vereinbart, die das Deutsche Reich in jedem Fall leisten musste. Das tönt nach einer kleinen Änderung. Doch sie war fundamental, wie Straumann erläutert. Damit änderte sich nämlich die Reihenfolge, wie die Schulden zu bedienen waren: erst die vereinbarte Reparationszahlung, dann der Rest. Private ausländische Gläubiger mussten nun befürchten, dass ihre Kredite in einer Krise nicht mehr bedient würden. Sie wurden vorsichtiger, die Kreditvergabe erfolgte immer kurzfristiger.

Im Young-Plan wurde auch festgelegt, dass das Deutsche Reich seine Schulden bis ins Jahr 1988 abstottern musste. Dies wurde nun von den Gegnern der Weimarer Republik, so auch von Adolf Hitlers Nationalsozialisten, ausgeschlachtet. Die Deutschen seien für drei Generationen geknechtet, lautete seine Botschaft.

Anschaulich beschreibt Straumann, wie der damalige Reichskanzler Heinrich Brüning von der Zentrumspartei in der Zwickmühle sass: Wenn er für die Abschaffung der Reparationen eintrat, musste dies sofort zum Exodus der ausländischen Investoren führen und damit zum wirtschaftlichen Kollaps. Wandte er sich offen gegen die populäre Bewegung für ein Ende der Reparationen, war er in den Wahlen chancenlos.

 
Reichskanzler Heinrich Brüning (1885–1970)

Chauvinismus statt Versöhnung

Im Young-Plan wurde auch der Abzug der Alliierten aus dem besetzten Rheinland festgelegt. Die Franzosen hielten sich an diese Abmachung. Doch statt sich bei Paris zu bedanken, bedienten deutsche Politiker um Reichspräsident Paul von Hindenburg nationalistische Gefühle. So wurde eine Münze geprägt mit der Inschrift: «Der Rhein – Deutschlands Strom, aber nicht Deutschlands Grenze».

Auch der Abschluss einer Zollunion mit Österreich liess bei den Franzosen die Alarmglocken schrillen. Das sei die Vorbereitung für den Anschluss, rief Aussenminister Briand wutschnaubend. Kein Wunder, waren französische Politiker der Auffassung, man könne Deutschland nur kontrollieren, wenn die Lasten aus den Reparationen hoch blieben. Deutschland hatte Mitte der 1920er Jahre 63 Mio. Einwohner, Frankreich nur 40 Mio.

Der amerikanische Präsident Herbert Hoover hatte einen nüchternen Blick auf die Lage. Ihm war klar, dass ohne Nachlass Europa weiter von einer Krise in die nächste taumeln würde. Selbst der Architekt des Young-Planes, Owen Young, sprach sich 1931 dafür aus, die deutschen Reparationen und Schulden um 20% zu verringern. Doch die Franzosen blockierten Hoovers Initiative, bis es zu spät war.

Die Darmstädter und Nationalbank (Danat-Bank), damals die deutsche Nummer 2, rutschte im Juli 1931 in die Insolvenz und wurde vom Staat gerettet. Auch die Dresdner Bank geriet in Schwierigkeiten. Schliesslich wusste sich die Reichsbank nur noch mit Kapitalverkehrskontrollen zu helfen.
Ein Arbeitsloser versucht, die Aufmerksamkeit von Arbeitgebern zu erregen, Deutschland um 1932. (Bild: Keystone)

Das zweitschwächste Glied in Europa war Grossbritannien. Auch dort fehlte der Notenbank nun die Munition, um den Goldstandard zu verteidigen. Heutigen Anhängern eines Goldstandards führt Straumanns Buch somit vor Augen, welche Konsequenzen es hat, wenn eine Notenbank die Banken in einer Krise nicht mit Liquidität unterstützen kann.

1932 war schliesslich rund ein Viertel der deutschen Erwerbsbevölkerung ohne Job – die Misere war so gross, dass vom Ende des Kapitalismus die Rede war. Die Nationalsozialisten eroberten im gleichen Jahr 37% der Parlamentssitze.

Die permanenten Krisen hätten Kräfte entfesselt, die kaum noch kontrollierbar gewesen seien und schliesslich den schlimmsten Albtraum hätten Realität werden lassen, schliesst Straumanns Buch. Es ist Straumann gelungen, auf knappem Platz und auf äusserst kurzweilige Weise eine Wirtschaftskrise zu sezieren, die mit zur grössten Katastrophe des 20. Jahrhunderts beigetragen hat.

Es ist spannend, zu sehen, dass die hohe kurzfristige Verschuldung der Banken schon damals als Brandbeschleuniger wirkte – wie das auch in der jüngsten Finanzkrise der Fall war. Und man wird wieder einmal gewahr, dass ein freundschaftlicher Umgang von Deutschland und Frankreich keineswegs eine Selbstverständlichkeit ist.

Tobias Straumann: 1931. Debt, Crisis, and the Rise of Hitler. Oxford University Press, 2019.


Nota. - Sollte sich wer noch immer die Frage stellen, ob es eine Epoche der Weltrevolution überhaupt je gege- ben habe, dann soll er sich den unaufhaltsamen Untergang der Weimarer Republik anschauen. Es gab nach dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise unter den gegebenen politisch-historischen Bedingungen für die deutsche Wirtschaft nur diese Alternative: entweder faschistische Rosskur* oder Ende der kapitalistischen Ordnung. Und diese Alternative war real. Der gemeinsame Verrat von Stalinisten und Sozialdemokraten hat Hitler, dessen Stern ab 1932 schon im Sinken war,** doch noch den Weg an die Macht gebahnt.


*) Das Aufbauprogramm von Hitlers Wirtschaftsminister Schacht unterschied sich nicht grundsätzlich von Roosevelts New Deal. Aber Roosevelt konnte sich eine politische Mehrheit verschaffen. An die war in Deutschland nicht entfernt zu denken: Dort herrschte Klassenkampf.

**) Im Juli 1932 war die NSDAP mit 37,4% zum erstenmal stärkste Partei im Reichstag geworden; im November 1932 fiel sie auf 33,1% zurück.

JE