Mittwoch, 8. Mai 2019

Die Kunst des geordneten Rückzugs.

aus Badische Zeitung, 7. Mai 2019                                                                P. v. Hess, Napoleons Rückzug an der Beresina

Ein kulturhistorischer Blick auf den Rückzug
Viele assoziieren ein Versagen damit: "Vorwärts immer, rückwärts nimmer", sagte Honecker. Dabei ist der Rückzug, zumal der geordnete Rückzug, eine hohe Kunst. Das zeigt Wolfgang Schivelbusch.

Von Martin Halter

Schon vor 2500 Jahren empfahl der chinesische Stratege Sun Tze in seiner (von Motivationstrainern bis heute empfohlenen) "Kunst des Krieges", bei zahlenmäßiger Überlegenheit des Feindes den Rückzug anzutreten. Der Rückzug, vor allem der "geordnete", ist eine hohe Kunst. Man darf ihn nicht mit planlos-panischer Flucht verwechseln, obwohl er leicht in diese Richtung eskalieren kann. Der überraschende Gegenangriff ist stärker als jeder Angriff, wusste Clausewitz. Scheinrückzüge haben einige der glorreichsten Siege der Weltgeschichte eingeleitet, etwa 1066 den Triumph der Normannen über die Angelsachsen in Hastings.

Ob erzwungen, angetäuscht oder taktisch motiviert: Der Rückzug nach einer Niederlage gehört jedenfalls zu den größten Herausforderungen eines Heerführers; schließlich muss er nicht nur seine geschlagenen Truppen in sichere Stellungen zurückführen, sondern auch ihre Moral gleichsam rückwärts wieder aufrichten.


Die Französische Revolution revolutioniert auch den Krieg

Wolfram Schivelbusch stellt daher in seiner kleinen Geschichte des Rückzugs Napoleons berühmten Übergang 1812 über die Beresina, der in der Militär- und Kunstgeschichte meist als trauriger Tiefpunkt seiner Grande Armee betrachtet wird, als Geniestreich in bedrängter Lage neben, ja fast über seine Siege. Das Prädikat der erfolgreichsten Rückzieher aller Zeiten gebührt allerdings den Russen: Sie ließen Napoleon seinerzeit durch die Preisgabe des Raums ebenso ins Leere laufen wie Stalin es im Zweiten Weltkrieg mit Hitler und der Wehrmacht tat.

Für Schivelbusch markiert 1789 die Wende in der Geschichte des Rückzugs. In den "Kabinettskriegen" davor ging es selten um die physische Vernichtung des Gegners. Rational agierende Generäle und professionelle Condottiere schoben Söldnerheere wie Schachfiguren hin und her. Kriegsziele waren nicht die Ausrottung des Feindes oder Geländegewinne, sondern diplomatische Interessen, Machtoptionen, dynastische Allianzen. Die Französische Revolution aber revolutionierte auch die Kriegführung. An die Stelle von Söldnern traten jetzt ideologisch fanatisierte Volksheere, enthusiastische "Bürgersoldaten", die den Marschallstab im Tornister mit sich trugen. Wo sich der Krieg demokratisch und patriotisch legitimieren musste, galt Vorwärtsverteidigung als erste Bürgerpflicht und Rückzug als Verrat.


"Vorwärts immer, rückwärts nimmer"

Für den jakobinischen Strategen Bertrand Barère war Angriff die für die Revolution einzig angemessene Form des Kampfes: "Stillstand und Verteidigung zersetzen ihr Potenzial", selbst für Napoleon war "retraite" ein "unaussprechliches Wort". So drückte Erich Honeckers "Vorwärts immer, rückwärts nimmer" die Staatsdoktrin aller totalitären Diktaturen aus. Und auch im fortschrittsgläubigen Kapitalismus wird Rückzug bis heute mit Stillstand, Versagen und Scheitern assoziiert.

Hitlers Durchhaltebefehle, selbst auf verlorenem Posten bis zum letzten Mann und "letzten Blutstropfen" auszuharren, führten zur katastrophalen Niederlage von Stalingrad. Umgekehrt lernten die Generäle damals, Niederlagen mit Euphemismen wie "Ausweichbewegung", "Umgruppierung" oder "Frontbegradigung" als kleine Umwege zum Endsieg umzudeuten. Für große Armeen ist der Rückzug immer eine Katastrophe. Guerillakrieger wie Mao in China, Fidel Castro in Kuba oder Ho Tschi Minh in Vietnam dagegen mussten sich nie dafür rechtfertigen: Sie marschieren im permanenten Rückzugsmodus bis zum Sieg.

Schivelbusch analysiert auf seinen nur rund hundert Seiten mehr oder weniger geordnete Rückzüge von Homers "Ilias" bis heute. Im Mittelpunkt stehen Napoleons Rückzüge und Verlierer- und Siegerlegenden aus den Weltkriegen, etwa die Marneschlacht 1914 und Dünkirchen 1940. Das Büchlein endet ziemlich abrupt mit dem Abzug der USA aus Vietnam 1975, den Schivelbusch nicht sehr überzeugend als Ende des Frontier-Mythos und Umwandlung von Amerikas Land- in "Markthunger" deutet: Chinamission statt Indianerausrottung.


Eine Art universeller Metapher

Überhaupt gehört "Rückzug" nicht zu den besten Büchern des Kultur- und Mentalitätshistorikers Schivelbusch ("Geschichte der Eisenbahnreise"). Er lässt sich von seiner anekdotischen, essayistisch-assoziativen Erzähllust immer wieder forttreiben zu Abschweifungen etwa über Napoleons Indien-Projekt oder die biologisch-rhythmische Gleichschaltung des Soldatenkörpers im Gleichschritt. Je weiter er sich der Gegenwart nähert, desto mehr verengt sich sein Blick auf strategische und taktische Details der Militärgeschichte; Seitenblicke auf andere gesellschaftliche Sphären fehlen fast ganz.

Dabei ist der Rückzug ja nicht nur "das gefechtsmäßige Lösen vom Feind" (Wikipedia), sondern eine Art universeller Metapher. Heldinnen und Helden des Rückzugs – etwa Marlene Dietrich, Greta Garbo oder auch Papst Benedikt – ziehen sich so rechtzeitig aus der Öffentlichkeit zurück, dass ihr Ruhm intakt bleibt oder sich sogar noch vermehrt. Politiker, Fußballfunktionäre und Topmanager ziehen dagegen oft den Kampf auf verlorenem Posten einem ehrenvollen Rückzug vor. Und wenn sie dann nicht mehr am Rückzug vorbei kommen, nennen sie ihn "Exit-Strategie", um Souveränität und Kontrolle noch im Moment der Niederlage zu suggerieren.


Wolfgang Schivelbusch: Rückzug. Geschichten eines Tabus. Hanser Verlag, München 2019. 112 Seiten, 18,50 Euro

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen