aus nzz.ch, 6.5.2019
Das doppelt verriegelte Gedächtnis
Die Wahrheit über die Blockade Leningrads war in Russland lange ein strikt gehütetes Tabu
Mit 1 bis 1,2 Millionen zivilen Toten war die Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht eines der grossen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs. Was man kaum weiss: Stalins Hass auf die Stadt beförderte Hitlers Vernichtungspläne. Die beiden Diktatorenmonster spielten diese tragische Fuge vierhändig.
Zu den unerträglichsten Szenen der Filmgeschichte gehören die wenigen Sekunden in dem Film «Sophie’s Choice», als die Hauptfigur selbst entscheidet, wen sie in den Tod schickt – den Sohn oder die Tochter. Ich konnte diese Szene nur ein einziges Mal anschauen. Als ich den Film ein weiteres Mal sah, musste ich Bild und Ton ausschalten. Wer sich eine Vorstellung von der Leningrader Blockade machen will, sollte wissen: Im Winter 1941/42 mussten viele Mütter in Leningrad die Wahl treffen, welchem ihrer Kinder sie zu essen geben sollten.
In unseren Familien wird die Erinnerung an die Blockade von Generation zu Generation weitergegeben. Diese Erinnerung ist ein unstillbarer Schmerz und ein kollektives Trauma des Leningrader Bewusstseins: Jede Familie hat ihr eigenes Martyrologium – ihr Verzeichnis derer, die während der Blockade gestorben oder gefallen sind.
Hunger und Kälte zusammen
Am 3. Juli 1941 wurde meine Mutter zehn Jahre alt. Ihre Mutter arbeitete in einer Schuhfabrik, ihre Grossmutter in der Notaufnahme des Konjaschin-Krankenhauses. Im August 1942, nachdem sie das, was Leningrader bis heute als «die tödliche Zeit» bezeichnen, überlebt hatten, wurden sie in den Ural evakuiert. Am Leben geblieben waren sie aus einem einzigen Grund: Bevor mein Grossvater an die Front ging, hatte er eine Wagenladung Holz gekauft und die Fenster im Zimmer mit Brettern vernagelt. Und noch eher, schon im Mai 1941, hatte er den grossen Ofen auseinandergebaut und einen neuen, kleinen Ofen gesetzt, für den man nur zwei oder drei Scheite zum Heizen brauchte.
In jenem Winter litt meine Familie also nur Hunger. Die Leningrader wissen: Hunger und Kälte zusammen bedeuten den sicheren Tod. Für mich aber, die ich nach dem Krieg geboren wurde, heisst das, dass mein Grossvater, der am 27. Januar 1944 umkam (an dem Tag, als die Blockade endgültig aufgehoben wurde), der offiziellen Propaganda keinen Glauben schenkte – sie hatte behauptet, der Krieg würde nicht lange dauern, spätestens im Herbst würden die faschistischen Truppen zurückgeschlagen sein.
Meine Kindheit verlief im Zeichen des Schweigens. Heute weiss ich, dass das Blockadegedächtnis meiner Familie doppelt verriegelt war, von innen und von aussen. Von innen, weil die Blockade ein Schmerz ist, über den zu erzählen schwer und schrecklich ist; von aussen, weil man ständig von der Furcht geplagt war, man könnte «zu viel sagen». Noch während des Krieges nämlich wurde das Thema der Blockade mit Zensur belegt – der sowjetische Staat tat alles, um die Wahrheit zu verheimlichen.
Aus diesem Grund zerstörten die Behörden das Museum, dem die Leningrader Bevölkerung Tagebücher und persönliche Dinge aus der Blockadezeit anvertraut hatte in der Hoffnung, die Erinnerung an ihre Leiden möge nicht verloren gehen. Angehörige der älteren Generation können sich noch an das Feuer im Hof des verwüsteten Museums erinnern, in dem diese Tagebücher und persönlichen Dinge verbrannt wurden. Unter Verschluss blieb auch die wahre Zahl der Opfer bei der Zivilbevölkerung. Erst nach der Perestroika wurde sie offengelegt: zwischen 1 000 000 und 1 200 000.
Geflüsterte Unterhaltungen
Die Zahl kann man sich nicht vorstellen. Aber man kann die Gesichter ansehen. In unserem Familienarchiv befindet sich eine Fotografie aus der Vorkriegszeit: meine damals zehnjährige Mutter und ihre Freundinnen, mit denen sie im Hof spielte. Auf dem Foto sind neun Mädchen. Sechs von ihnen starben während der Blockade. Drei haben überlebt. (Von den Jungen auf ihrem Hof, die nacheinander sämtlich eingezogen und an die Front geschickt wurden, ist kein einziger zurückgekehrt.)
Das Schweigen meiner Mutter und meiner Grossmutter bedeutet indes nicht, dass ich als Kind von der Blockade nichts mitbekommen hätte. Sie konnten ihren Erinnerungen nicht entrinnen. Wenn sie daran zurückdachten, veränderten sich ihre Stimmen. Sie wurden unsicher, gerade so, als schämten sie sich ihrer Leiden. Sie sprachen verstohlen miteinander, im Flüsterton. Und manchmal gaben sie versehentlich etwas preis.
Meine Mutter sagte zum Beispiel: «In unserer Familie bleiben die Jungen nicht am Leben.» Und ich sass mit meinen vier Jahren da und rätselte: Welche Jungen, und warum bleiben sie nicht am Leben? Oder meine Grossmutter erzählte von «Weichteilen», sie sagte zum Beispiel: «Wenn du morgens ins Krankenhaus kommst, sind sie noch ganz; wenn du abends wieder gehst, sind alle Weichteile herausgeschnitten.» (Vom Kannibalismus während der Blockade hatte ich schon eine Ahnung, bevor meine Grossmutter mir später davon erzählte.)
Alles Wesentliche, was ich über die Blockade weiss, habe ich also mehr oder weniger zufällig aufgeschnappt. Ich meine nicht die Informationen, die man aus Büchern oder Tagebüchern schöpfen kann. Davon habe ich auch viele gelesen. Aber was genau die Leningrader Blockade bedeutete, das habe ich begriffen, als ich etwa fünf Jahre alt war. Seit der Zeit lasse ich mir von offiziellen Legenden nichts mehr vormachen. Ich bin bis heute überzeugt, dass meine Mutter und meine Grossmutter mir mit ihren geflüsterten Unterhaltungen eine Art Blockade-Kammerton vorgaben, anhand dessen ich Wahrheit und Lüge mühelos unterscheiden kann.
Das Blockadegedächtnis meiner Generation ist ein langsamer und langer Prozess des Umdenkens, der allmählich zu dem Schluss führt, dass Hitler und Stalin Schuld an der Tragödie der Leningrader Blockade tragen: Die beiden schlimmsten Diktatoren des 20. Jahrhunderts spielten diese tragische Fuge vierhändig. Hitlers Part ist offensichtlich: Um die bei Kämpfen in einer grossen Stadt unausweichlichen Verluste an Menschen und Technik zu vermeiden, traf er eine «wissenschaftlich fundierte» Entscheidung – die Leningrader Bevölkerung verhungern und erfrieren zu lassen, alle, auch Alte und Kinder.
Leningrad als Hassobjekt
Für Stalin war Leningrad ganz offensichtlich nichts anderes als ein Hassobjekt. Der Grund dafür war, so denke ich, das Selbstbewusstsein der Leningrader, ihre Kraft zum eigenständigen Denken – beides galt es zur Stärkung von Stalins gottgleicher Macht mit Stumpf und Stiel auszurotten. Ein für alle Mal zu zerstören. Anders lässt sich nicht erklären, dass zu Blockadezeiten ganze Züge von Rüstungsgütern aus Leningrader Fabriken aufs «Festland» (wie das nicht okkupierte Gebiet der Sowjetunion bezeichnet wurde) rollten, während Stalin und seine Helfershelfer nicht einmal die minimale, geschweige denn die reguläre Versorgung der Stadt mit Lebensmitteln organisierten. Wenn diese Züge vom «Festland» zurückkehrten, waren sie beladen mit Rohstoffen (Tausende Tonnen Metalle der benötigten Sorten), mit Bauteilen und Werkzeugen – nach Schätzungen von Historikern waren nicht weniger als einhundert Güterzüge im Einsatz. Ich bin keine Historikerin, aber ich glaube, selbst ein kleiner Teil dieser Züge hätte Zehn-, wenn nicht Hunderttausende Menschenleben retten können.
Heute, fünfundsiebzig Jahre später, sind die Archive geöffnet (wenn auch bei weitem nicht alle!), und es gibt bezüglich der Blockade mehr Fragen als Antworten. Aber ich bin sicher, früher oder später wird sich die Wahrheit Bahn brechen. Die allgemeine Wahrheit ebenso wie die persönliche jeder einzelnen Leningrader Familie.
Mein bescheidener Beitrag zum allgemeinen Blockadegedächtnis ist der Roman «Die Stadt, aus dem Gedächtnis geschrieben». Ihm zugrunde liegen Erzählungen meiner Mutter (die ich vor etwa zwei Jahren auf Band aufgenommen habe, weil mir klarwurde, dass es bald einmal zu spät sein könnte), Familienfotos, Erzählungen meiner Grossmutter und schmerzliche Geschichten, die ich selbst erlebt habe.
Stellen Sie sich folgende Szene vor: Es klingelt. Sie öffnen die Tür und sehen einen alten Mann. Neben ihm eine Frau in mittleren Jahren. Der alte Mann steht da, auf ihren Arm gestützt, und schweigt. Die Frau redet. Bitte entschuldigen Sie, wir kommen von weit her, mein Vater hat als Kind während der Blockade hier gewohnt. Vierundvierzig sind sie weggegangen und nie mehr zurückgekehrt. Er wollte schon lange einmal kommen, aber irgendwie hat es sich nie ergeben, Sie wissen ja, wie das ist, mal fehlt das Geld, mal die Zeit . . . Sie verstummt, um Ihnen Zeit zu lassen – zu begreifen, verlegen zur Seite zu treten, die Tränen zu unterdrücken, froh zu sein, dass es Sie nichts kostet, seinem Wunsch zu entsprechen, ihm das zu ermöglichen, wovon er sein Leben lang geträumt hat. Er tritt ein und geht, nun nicht mehr auf den Arm der Frau gestützt, von Zimmer zu Zimmer. Sie folgen ihm. Entschuldigen Sie, hier ist jetzt alles anders, murmeln Sie, die Renovierung, die Türen, die Fenster . . . Nein, sagt er, und seine Finger zittern, als er die Hand an die Wand legt, es ist noch alles genau so, wie es war. Jetzt kann ich sterben.
Beschämende Art des Gedenkens
Mein Blockadegedächtnis – das ist, Sebald zu lesen, über die Flächenbombardierung von Köln, und dabei zu denken: Sie sind auch durch die Hölle gegangen.
Mein Blockadegedächtnis – das ist auch Beschämung darüber, wie der russische Staat heute mit den blokadniki, den Überlebenden der Blockade, umgeht. Einerseits gibt es am Tag der Aufhebung der Blockade eine Militärparade auf dem Platz vor dem Winterpalast. Andererseits hat die «Blockade-Gesellschaft» (eine offizielle, von der Stadt finanzierte Organisation) meiner Mutter zum neuen Jahr drei Päckchen Cracker überreicht, die obendrein schon abgelaufen waren. Was meine Mutter in dem Moment empfand, habe ich sie gar nicht erst gefragt. Ich habe das Geschenk einfach in den Abfalleimer geworfen.
Das Thema der Blockade spaltet die russische Gesellschaft bis heute. Noch immer, auch nach so vielen Jahrzehnten, wird um die «Blockadewahrheit» gestritten. Als der Fernsehsender Doschd die Frage stellte, ob es nicht vernünftiger gewesen wäre, Leningrad aufzugeben und so der Bevölkerung die Greuel der Blockade zu ersparen, hätte er beinahe den Betrieb einstellen müssen. Für diese Frage, zudem öffentlich gestellt, riskiert man eine Anklage wegen «Geschichtsfälschung» oder «Extremismus». Gleichzeitig verwenden die Behörden bei passender Gelegenheit die Frage zur Diskreditierung ihrer politischen Gegner. So beschuldigte der interimistische Gouverneur von Petersburg einen Abgeordneten der Opposition, dieser habe geäussert, man hätte Leningrad damals aufgeben sollen. Als der Abgeordnete seine Ehre und Würde verteidigen und die Sache zur Anzeige bringen wollte, wurde seine Klage für unzulässig erklärt.
Man muss nicht sonderlich scharfsichtig sein, um zu begreifen, dass es gar nicht so sehr um diese Frage geht. Es geht vielmehr darum, dass die heutigen Machthaber, die Erben der sowjetischen Ideologie, bei jeglichem Nachdenken über die Blockade, das über den offiziellen Diskurs hinausgeht (einschliesslich der wahren Rolle Stalins), in blinde Wut geraten. Ihr Blockadegedächtnis, das sind nicht die Leiden der elend verhungerten Leningrader Kinder, sondern imposante Monumente und pompöse Feierlichkeiten, bei denen die Heldenhaftigkeit der Leningrader, die ihre Stadt vor den Nazihorden verteidigten, in höchsten Tönen besungen wird. Qualen und Leiden finden angesichts der heutigen militaristischen Rhetorik höchstens noch beiläufig Erwähnung.
Ich finde es bedauerlich, dass die Blockade – anders als der Holocaust oder Stalins Gulag – im europäischen Bewusstsein noch immer ein marginales Thema ist. Dabei ist sie ein Spiegel, in den das heutige Russland blickt. Wenn man genau in diesen Spiegel schaut, kann man vieles verstehen.
Elena Chizhova lebt als Schriftstellerin in St. Petersburg. Zuletzt ist bei DTV der Roman «Die Terrakottafrau» erschienen. – Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg.
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