Kannibalismus gilt heute als großes Tabu, dennoch gibt es den Verzehr von Artgenossen sowohl im Tierreich als auch unter Menschen. So belegen Knochenfunde, dass der Neandertaler nicht vor Kannibalismus zurückschreckte. In Notlagen haben jedoch auch moderne Menschen schon häufiger ihresgleichen vertilgt, beispielsweise bei der fatalen Franklin-Expedition des Jahres 1845.
Warum isst man Artgenossen?
„Kannibalismus ist eine alte und weit verbreitete menschliche Praxis“, konstatieren Jesus Rodriguez und sein Team von Nationalen Forschungszentrum für Menschheitsgeschichte im spanischen Burgos. Doch die möglichen Gründe und die Bedeutung des Verzehrs von Mitmenschen sind heiß umstritten. So sehen einige Forscher im Kannibalismus primär einen Weg zur Deckung des Kalorienbedarfs, andere halten dagegen kulturelle und soziale Gründe für wesentlicher.
„Warum Menschen sich gegenseitig aufessen, ist eine komplexe Frage“, so die Forscher. Um sie zu beantworten, haben sich Rodriguez und sein Team nun eine der ältesten und bekanntesten Fundstätten menschlichen Kannibalismus vorgenommen – die Gran Dolina-Höhle nördlich der Stadt Burgos. Sie enthält eine große Ansammlung von Fossilien, die dem vor rund 900.000 Jahren lebenden Homo antecessor zugeschrieben werden.
Bissspuren, Brüche und ausgelutschte Knochen
Das Gruselige daran: Die in der Fundstätte entdeckten Menschenknochen weisen klare Anzeichen für kannibalistische Praktiken auf: „Die menschlichen Körper wurden gehäutet, ausgeweidet und entbeint“, schildern Rodriguez und sein Team. „Die Langknochen wurden zerbrochen, um an das Knochenmark zu gelangen. Zudem sind auf mehreren menschlichen und tierischen Überresten Bissspuren dokumentiert.“
Das Muster der Schäden deutet nach Ansicht der Forscher daraufhin, dass hier Vertreter des Homo Antecessors den gesamten Körper toter Mitmenschen verzehrt haben – mitsamt Gehirn, Organen und Knochenmark. Sogar die Rippenknochen wurden angekaut und ausgelutscht, wie entsprechende Bissspuren verraten.
An einer Hungersnot lag es nicht
Das Merkwürdige an diesen Zeugnissen für frühmenschlichen Kannibalismus: Die reichlich vorhandenen Tierknochen in der gleichen Fundschicht belegen, dass diese Frühmenschen keinen Hunger litten. Es war daher wahrscheinlich nicht die Not, die sie zu Menschenfressern machte. Wie Rodriguez und sein Team ausrechneten, hätte allein die durch die Tiere abgedeckte Essensmenge ausgereicht, um 20 Gruppenangehörige drei Monate lang mit Nahrung zu versorgen.
Ungewöhnlich auch: Im Vergleich zu den Tierknochen sind Menschenknochen mit Bearbeitungsspuren in der Fundschicht deutlich überrepräsentiert. „Während die Tiere proportional zu ihrer Häufigkeit in der Umwelt konsumiert wurden, wurden die Menschen in einem höheren Anteil verzehrt als es ihrer Dichte in dieser Umwelt entsprach“, sagen die Forscher. Mit anderen Worten: Sie wurden absichtlich ausgewählt.
Mensch als lohnendste Beute
Aber warum? Um das herauszufinden, wendeten die Wissenschaftler ein klassisches Beutewahl-Modell an. Dieses geht davon aus, dass ein Tier – oder Mensch – die Beute wählen wird, die ihm die meiste Energie unter geringstem Aufwand liefert. Eine Beute, die kalorienreich, aber schwer zu erlegen ist, kann demnach ähnlich lohnend sein wie ein kalorienärmeres, aber leicht zu fangendes Beutetier.
Als die Forscher dieses Modell auf die Knochenfunde von Gran Dolina anwendeten, zeigte sich: Die menschlichen Überreste machen zwar nur rund 13 Prozent des Kalorienumfangs aller dort verzehrten Organismen aus, aber berücksichtigt man den Aufwand, liegen die Frühmenschen an erster Stelle. Denn im Gegensatz zu schnellen oder wehrhaften Beutetieren wie Hirschen oder Nashörnern waren die meist jugendlichen oder zumindest noch jungen menschlichen Opfer eher leichte Beute, sagen Rodriguez und sein Team.
Ähnlich wie Schimpansen bei Konflikten zwischen Gruppen vorwiegend Jungtiere töten und fressen, könnten auch diese Frühmenschen bei einem Konflikt getötet und dann als Nahrung konsumiert worden sein.
Durch frühen Tod zur Mahlzeit geworden?
Demnach ist es kein Zufall, dass der Homo antecessor hier zum Kannibalen wurde – es lohnte sich für ihn offenbar mehr als die Jagd auf Tiere. Doch das muss nicht heißen, dass diese Frühmenschen ihre Opfer auch absichtlich umbrachten, wie die Forscher betonen: „Die einfachste Erklärung aber könnte sein, dass diese Opfer zur gleichen Gruppe wie die Kannibalen gehörten und eines natürlichen Todes starben“, so Rodriguez und sein Team.
Wie sie erklären, belegen ethnografische Daten, dass bei Jägern und Sammlern die Sterblichkeit bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen sehr hoch ist. „So sterben beispielsweise bei den !Kung, Hadza und Ache zwischen 40 und 65 Prozent der Stammesangehörigen vor dem Erreichen des Erwachsenenalters““, berichten die Forscher. Der Homo antecessor könnte daher den frühen Tod seiner Gruppenangehörigen einfach ganz praktisch und tabufrei als willkommene zusätzliche Nahrung betrachtet haben. (Journal of Human Evolution, 2019; doi: 10.1016/j.jhevol.2019.03.010)
Quelle: Centro Nacional de Investigaci on sobre la Evoluci on Humana (CENIEH)
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