J. L. Gérôme, Gebet in Kairo
Aus der
ZEIT Nr. 13/2017, 23. 3. 2017
Die Buchhaltung des Kalifats
Im Keller der Hofburg lagern Tausende Schriften, die von
der Frühzeit des Islams erzählen. Wien ist heute das Zentrum der
Papyrusforschung – was längst nicht mehr nur Fachleute interessiert.
Es gibt ungelöste Rätsel, die auch nach fast eineinhalb Jahrtausenden noch
Brisanz besitzen. Wie konnten etwa die Araber nach dem Tod des Propheten Mohammed im 7.
Jahrhundert in kürzester Zeit das Perserreich erobern, Nordafrika überrollen und die Iberische
Halbinsel einnehmen? Wie funktionierte das Kalifat, auf das sich auch die Terrororganisation
"Islamischer Staat" heute bezieht? Und war der Islam ursprünglich gar eine Art ökumeni- sche
Bewegung, in der Juden, Christen und Anhänger Mohammeds in einer Gemeinschaft miteinander
lebten? Generationen von Historikern arbeiteten über diese Fragen, und doch bleibt vieles bis
heute dunkel. Nun blicken Islamforscher hoffnungsvoll nach Wien. Denn in der Wiener Hofburg,
in der Österreichischen Nationalbiblio- thek (ÖNB), könnten neue Antworten liegen.
In einem
Kellergewölbe hinter mehreren alarmgesicherten Türen lagern rund 180.000
Papyri aus mehreren Jahrtausenden, fast alle davon stammen aus Ägypten
aus der Zeit kurz nach der arabischen Eroberung, die größte Sammlung
der Welt. Es sind Texte aus dem Alltag, Pacht- und Eheverträge,
Verwaltungskorresponden- zen oder Abmachungen über Darlehen. Sie erzählen
Geschichten über das tägliche Leben der Menschen in dieser Umbruchszeit,
über ihre Sorgen und Nöte. Die New Yorker Mellon-Stiftung finanziert
seit einigen Jahren mit insgesamt rund 1,5 Millionen Euro die
Digitalisierung der relevantesten Dokumente. Ein riesiges Vorhaben, mit
dem das verborgene Archiv für Forscher auf der ganzen Welt zugänglich
gemacht werden soll. Denn die Schriften von damals sind auch für den
Islam von heute wichtig.
Wie gefragt die
Wiener Papyrusforscher sind, merkt, wer sie in der Hofburg besucht.
Bernhard Palme hat sein ganzes Leben mit den alten Dokumenten verbracht,
er ist Professor für Alte Geschichte an der Universität Wien und leitet
die Papyrussammlung. Der Mann mit dem gezwirbelten Schnurrbart wirkt
gehetzt und hin- und hergerissen. Jeder will etwas von ihm. Im Foyer
sitzen zwei italienische Studentinnen, die sechs Monate lang als
Stipendiatinnen hier arbeiten werden. Am Empfang ist eine Professorin
aus Algerien aufgetaucht. Sie möchte die berühmten Papyri einsehen, am
liebsten gleich 20 Stück auf einmal. Palme rennt die Treppen hinauf,
stolpert, und während er sich aufrappelt, läutet auch noch das Handy.
So geht es hier
mittlerweile ständig zu. Aus dem verschmähten Orchideenfach wurde eine
politische Wissen- schaft. Was Islamforscher, Arabisten oder Papyrologen
über die Frühzeit des Islams zu sagen haben, interessiert längst weit
mehr als nur den Kollegenkreis. Der ist ohnehin begrenzt. Nur rund 30
Menschen auf der Welt beschäftigen sich professionell mit der Edition
von Papyri.
"Dass wir plötzlich
so im Zentrum stehen, war wirklich nicht vorherzusehen", sagt Palme und
lacht, "im Jahr 2001 fragte der damalige Finanzminister Grasser
öffentlich, wozu es die Orientalistik an der Uni brauche. Zwei Wochen
später waren die Anschläge vom 11. September, und plötzlich
interessierten sich alle dafür."
Mit dem
neuen Jahrtausend setzte auch eine Renaissance der Erforschung
arabischer Papyri ein. Man erkannte, dass ihr Potenzial als Quellen
längst nicht ausgeschöpft war. Ihre Auswertung und Interpretation bleibt
aber eine herausfordernde Balance zwischen wissenschaftlicher
Gründlichkeit und gesellschaftlicher Verantwortung.
Das erfährt Lucian
Reinfandt in seiner Arbeit. Er arbeitet in der Papyrussammlung, sitzt
mittlerweile regelmäßig auf Podien und diskutiert mit Vertretern von
Islamverbänden die Ergebnisse seiner Arbeit. Was glaubten die frühen
Anhänger Mohammeds, und wie lebten sie? Die Debatte gilt es mit Umsicht
zu führen, sagt Reinfandt, "wir müssen in unserer Forschung ein großes
Maß an interkultureller Sensibilität aufbringen."
Dass Wien zum Zentrum der Papyrusforschung wurde, ist Zufall.
Ein Wiener Antiquitätenhändler fand in den 1880er Jahren in einer
Oasenlandschaft südlich von Kairo mehr oder weniger zwischen Abfall
antiker Siedlun- gen alte Papyri und schickte einige davon nach Wien.
Josef von Karabacek, der damalige Professor für orientalische Sprachen
an der Universität, erkannte, welchen Schatz er in Händen hielt.
Erzherzog Rainer, ein Förderer der Wissenschaft, kaufte so viel auf, wie
er konnte: Ägyptische Totenbücher aus dem 2. Jahrtausend vor Christus,
koptische Bauernkalender oder die älteste Partitur der Welt, ein Lied
mit Musiknoten aus der Tragödie
Orestes
von Euripides. 4.000 Jahre Kulturgeschichte kamen so nach Wien.
Im Jahr 1899 schenkte Erzherzog Rainer die Sammlung Kaiser Franz Josef
zum Geburtstag – ein Glücksfall, denn so blieb sie zusammen und wurde
nicht in alle Winde verstreut.
"Diese Sammlung ist unglaublich wichtig für uns"
Heute liegen die Papyri
auf Hunderte Schachteln verteilt im Keller der Hofburg, gelagert bei 19
Grad Celsius und geschützt vor Sonnenlicht. Sie zu restaurieren und
inhaltlich zu erschließen ist ein langwieriger Prozess. Für ungeübte
Augen sehen sie oft eher aus wie ein kleiner Haufen Dreck. Für die
Forscher ist es ein gigantisches Puzzlespiel. Mal fehlt ein großes
Stück, mal sind nur wenige Wörter darauf zu lesen – doch gerade die
können interessant sein. Systematisch wird das riesige Archiv derzeit
durchforstet, jeder Papyrus studiert und in Klassen eingeteilt, von gut
erhaltenen Stücken mit relevantem Inhalt bis zu uninteressanten, die
unbearbeitet wieder in den Keller wandern.
Sensationsfunde
gab es immer wieder. Zuletzt hat der Papyrologe Federico Morelli ein
zusammengehöriges Dossier gefunden, Briefe unter hohen
Verwaltungsbeamten kurz nach der Eroberung Ägyptens. Die Texte erzählen
über den Umbruch, als die Macht am Nil von den Byzantinern auf die
Araber überging. Die neuen Herrscher vermieden Übergriffe auf die
Zivilbevölkerung. Sie übernahmen die bestehenden Verwaltungsstruktu- ren
und ließen ihren Untertanen viele Freiheiten. "Man erfährt in diesen
Texten viel über die Beziehungen zwischen einheimischen Christen und
Arabern", erzählt der Italiener Morelli. "Die Religion kommt aber kaum
vor. Bis in das achte Jahrhundert stellen christliche Beamte ein Kreuz
an den Beginn vieler Briefe, das war überhaupt kein Problem." Der Islam
habe sich gegen Heiden gerichtet, aber nicht gegen Juden und Christen.
Eine Islamisierung Ägyptens habe erst später und langsam stattgefunden
und wurde nicht mit Gewalt erzwungen. "Aus meiner Sicht spielten bei
vielen Konvertierungen steuerliche Gründe eher eine Rolle als
religiöse", sagt Morelli, "Christen und Juden mussten nämlich höhere
Abgaben bezahlen."
Wie viele Dokumente
zum sogenannten Morelli-Archiv gehören, weiß derzeit noch keiner. 100
bis 150 sind es derzeit. Federico Morelli könnte sein gesamtes
restliches Forscherleben mit dem Fund verbringen. Denn in Wien liegen
wohl Hunderte weitere, möglicherweise finden sich auch in anderen
Archiven, in London, Straßburg oder New York noch Papyri, die zu dem
Konvolut gehören.
Fred Donner von der
Universität Chicago ist einer der führenden Wissenschaftler für die
Geschichte des frühen Islams – und hat einige der umstrittensten Thesen
aufgestellt, unter anderem jene, der Islam sei in seiner Anfangszeit
eine Art Ökumene gewesen. Belege dafür sind spärlich. Auch er hofft auf
die Papyri in Wien. "Diese Sammlung ist unglaublich wichtig für uns",
sagt Donner. Die Dokumente beschreiben eine Zeit, über die noch wenig
bekannt ist. Wie wurde die religiöse Lehre ausgelegt, wie wurden
Begriffe benutzt. "Es wäre etwa großartig, wenn wir ein Papyrus finden,
in dem einer der frühen Anhängern des Islams über den Dschihad schreibt
und erklärt, was er darunter versteht, was er für sein Leben bedeutet",
sagt Donner.
Die
Papyrologie und die Arabistik florieren. Das liegt auch am allgemeinen
Interesse, das Islam und Islamwissenschaften seit 2001 auf sich ziehen.
Wissenschaftler aus der ganzen Welt pilgern nach Wien, durch das
Papyrusmuseum schieben sich jeden Tag Schulklassen. Es gibt
Forschungsgelder und Aufmerksamkeit in Zeiten von Sicherheits- und
Integrationsdebatten. "Wir haben von diesem Interesse profitiert, für
das Fach ist es von Nutzen", sagt Lucian Reinfandt. Doch man dürfe sich
beim Islam nicht nur auf Fragen wie den Dschihad beschränken. Es gebe
mehr, das man erzählen müsse, sagt er, "die arabische Dichtung und ihre
Geschichten etwa. Wir müssen die Kultur in ihrer ganzen Breite und Würde
zeigen."
Nota. - Im Kalitfat von Cordoba und in den maurischen Nachfolgestaaten wurden im Lauf der Jahrhunderte immer wieder Gesetze erlassen, die es Christen und Juden erschweren sollten, zum Islam zu konvertieren, um Steuern zu sparen. Moslem wird man, indem man den rechten Zeigefinger hebt und sagt: "Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist sein Prophet", das ist alles. Dann musste man im islamischen Staat nur den zakât entrichten, die Spende für Arme, Witwen und Waisen. Vom Staat selbst besteuert wurden dagegen die anderen 'Religionen des Buchs'; heidnische Götzendiener freilich wurden verfolgt.
Es ist begreiflich, dass der Islam zunächst als eine monotheistische Ökumene erscheinen konnte. Noch als Tarik von rivalisierenden westgotische Kronprätendenten nach Spanien gerufen wurde, hielt mandie Anhänger Mohammeds für ein vielen verfeindeten christologischen Sekten im Osten. Tatsächlich fällt es dem Außenste- henden bis heute schwer, im Koran spezifische Glaubensinhalte auszumachen. Sunna und Shia unterscheiden sich politisch und nicht theologisch, und so alle andern muslimischen Glaubensrichtungen.
Die Ausbreitung des Kalifats geschah als militärisch-politische Machtübernahme; das Volk nahm daran keinen Anteil. An der Verbreitung des Glaubens war der winzigen arabischen Erobererschicht nicht gelegen, sie hätte ihre Sonderstellung beeinträchtigt. Und in fiskalischer Hinsicht war dem islamischen Staat an der Vermehrung von Juden und Christen mehr gelegen als an deren Bekehrung. Die religiöse Toleranz, die dem frühern Islam nachgesagt wird, follgte lediglich dem Primat der Politik.
JE .