Samstag, 31. August 2019

Der Islam war nicht immer nur eine Gesetzesreligion.

aus nzz.ch,

«Den» Islam gibt es nicht
Muslime kennen viele Wege zur geistigen Erneuerung
Der Mainstream-Islam ist heute ein Diktat der Politik. Dabei werden Muslime als Opfer fremder Mächte dargestellt – eine Sicht, die sich viele muslimische Communitys längst zu eigen gemacht haben. Das muss sich ändern.

von Lamya Kaddor  

Unter Muslimen hat sich eine geistige Bequemlichkeit eingeschlichen. Statt die Mühen des eigenständigen Denkens auf sich zu nehmen, verweilen zu viele von ihnen in der Bequemlichkeit der Nachfolge. Sie haften sich an die Glaubensdarstellungen der eigenen Familie, der eigenen kulturellen Gruppe oder der Moscheegemeinde, in der sie sozialisiert wurden, ohne dabei freilich vom absoluten Wahrheitsanspruch abzulassen.

Islamexperten haben sich lange darum bemüht, Nichtmuslimen zu erklären, dass es «den» Islam nicht gibt. Viel wichtiger indes wäre es, unter Muslimen selbst diesen Gedanken stärker zu verankern. Islam ist nicht gleich Islam, und wer von der eigenen Vorstellung und Praxis abweicht, ist nicht gleich ein schlechterer Muslim. Den einen «wahren» Islam mag es aus einer göttlichen Perspektive geben, aber kein Mensch kann sich anmassen, ihn ebenfalls zu kennen. Das beanspruchen nur Fundamentalisten, dünkelhafte Gelehrte und blasierte Imame für sich.

Anfällig für deren Avancen ist man vor allem dann, wenn man einen Leitfaden fürs eigene Leben sucht – mit klaren Anweisungen. Man läuft vermeintlich weisen Männern hinterher in der Hoffnung, die eigene Verantwortung im Zweifelsfall auf sie abwälzen zu können. «Gehorchen ist leichter als befehlen», wusste schon Friedrich Maximilian Klinger. 

Viele Versionen des Islams

Sich von vertrauten Gewissheiten aus der Kindheit abzunabeln, bedeutet Abschied von Bequemlichkeit und Akzeptanz von Ungewissheit. Der Islam ist eine anspruchsvolle Religion, die entgegen landläufigen Vorstellungen keine einfachen Antworten liefert.

Weder der Koran ist eindeutig noch die Erkenntnisse über das Leben des Propheten Mohammed. Unzählige Schriften aus 1400 Jahren Islam zeugen davon. Somit ist der Koran an sich ebenso wenig wie Mohammed das Problem – das Problem ist der Anspruch einiger «auserwählter» Menschen, die glauben, die islamischen Quellen allein wahrheitsgemäss auslegen zu können.

Mangels allgemeiner oberster Autorität gibt es in der islamischen Geschichte bereits seit dem Ableben Mohammeds divergierende Auffassungen von der «wahren» Religion. Inzwischen gilt der Islam vielen als «Gesetzreligion», in der es primär um das Einhalten von Geboten und Verboten geht. Doch das ist nur ein Verständnis vom Islam, das sich insbesondere in den vergangenen 150 Jahren vielerorts durchgesetzt hat.

Es wird zumeist von solchen propagiert, die Machtinteressen mit Glaubensfragen verknüpfen; weshalb Islamisten oft zugleich Fundamentalisten sind. Der Mainstream-Islam ist heute vor allem ein Diktat der Politik. Überall auf der Welt spielen politische Interessen in die gelebte Religion hinein.

Am deutlichsten wird das in dem Versuch, den Niedergang der glorreichen alten Welt im Kampf mit dem Westen wieder wettzumachen. Die Losung der Islamisten, wonach der Islam die Lösung aller Probleme sei, prägt seit Generationen das Denken zu vieler Musliminnen und Muslime – vor allem dort, wo es ihnen im Alltag nicht so gut geht, also in etwa 90 Prozent der islamischen Welt.

Viele von ihnen fliehen vor diesen Zuständen in den Westen, wo sie sich trotz vielfachen Dissonanzen Freiheit und Wohlstand erhoffen, und bringen ihre religiösen Prägungen mit. Sofern noch nicht geschehen, müssen sich Muslime unbedingt davon befreien, Religion von Politik reinigen und den Zwang abstreifen, sich permanent als Opfer böser fremder Weltmächte zu fühlen, die angeblich «den» Islam schwächen und «die» Muslime kleinhalten wollten. 

Schuld sind nicht die anderen

Auch dieses islamistische Narrativ ist inzwischen tief in die muslimische Community weltweit eingesickert – mit dem Ergebnis: Die Schuld wird zuerst bei anderen gesucht. Um Teil der Religion des Islams sein zu können, bedarf es eines hohen Masses an Toleranz für andere Positionen. In der Vergangenheit hatten gläubige Muslime das vergleichsweise gut eingeübt. Daran sollten sie anknüpfen und wieder mehr Selbstbewusstsein im Umgang mit dem Koran, dem Leben des Propheten Mohammed und dem Gelehrtenwissen aufbringen. Dazu bedarf es Mündigkeit, Emanzipation, Vernunft.

Damit sind die Schlagworte, die aufs Zeitalter der Aufklärung in Europa hinweisen, gefallen. Dennoch ist «Aufklärung» hier der falsche Begriff, weil er falsche Assoziationen weckt. Hört auf, den Islam und andere Religionen durch die christliche Brille zu betrachten!

Die Entwicklung der muslimischen Gemeinschaft ist eine andere als die der katholischen Kirche. Hier versuchte eine Macht, der Vatikan im Pakt mit weltlichen Führern, die Gläubigen zu beherrschen. Dort scheiterte ein vergleichbarer Anspruch spätestens während der Abbasiden-Dynastie, weil der Kalif zunehmend zum Grüssaugust degradiert wurde.

Im Islam gibt es stattdessen einzelne Gruppierungen, konfessionelle Abspaltungen, theologische Schulen, Rechtsschulen, Sekten, die mehr oder weniger Dominanz für sich beanspruchen. Hinzu kommen vielfältige kulturelle Unterschiede, die die Religionsvorstellungen zwischen Hindukusch und Andalusien geprägt haben. In Indien etwa arrangierten sich Muslime ungeachtet anderslautender Koranverse mit den sogenannten «Götzendienern», während Muslime auf der Arabischen Halbinsel bis heute eher eine radikale Ablehnung gegen sie predigen.

Solche grundlegenden Differenzen verhindern es, die europäische Aufklärung eins zu eins auf andere Kulturräume zu übertragen. Um das hervorzuheben, habe ich schon des Öfteren betont: «Der» Islam braucht keine Aufklärung im europäischen Sinn, aber Muslime müssen wieder Herr und Herrin über ihre Vernunft werden und ihren Verstand in religiösen Fragen einsetzen.

Das wäre keine Neuerung, dafür gibt es vielfältige Anknüpfungspunkte in der Geschichte – etwa in Gestalt der Philosophen Alpharabius alias Abu Nasr al-Farabi (gestorben 950) oder Averroes alias Ibn Ruschd (gest. 1198), des religionskritischen Arztes und Freidenkers Rhazes alias Abu Bakr al-Razi (gest. 925), des Korankommen- tators Fakhr al-Din al-Razi (gest. 1210), des Dichters al-Ma’arri (gest. 1057) – ein Skeptizist, der heute als religions- bzw. islamfeindlich verfemt würde – oder in Gestalt späterer Persönlichkeiten wie des islamischen Humanisten Murtada al-Zabidi (gest. 1791) oder des ägyptischen Beinah-Literaturnobelpreisträgers Taha Husain (gest. 1973).

Selbst der Koran wird von Muslimen an verschiedenen Stellen so verstanden, dass er Rationalität von den Menschen einfordert: «Und er lässt (seinen) Zorn auf jene herab, die ihre Vernunft (dazu) nicht gebrauchen wollen.» (Sure 10, Vers 100) Oder: «Wahrlich, darin liegen Zeichen für die Leute, die Verstand haben.» (16, 12)

Lamya Kaddor ist Islamwissenschafterin und Publizistin.


Nota. - Der Islam steht wegen seiner theologischen Vieldeutigkeit - oder Leere, wie man's nimmt - vor dem Dilemma, 'mit sich identisch sein' zu können nur entweder als strikte Gesetzeslehre oder als eine Religion der reinen Innerlichkeit.

Als Gesetzeslehre kann er sich nicht 'aus der Politik lösen', er wird von der Politik beherrscht sein und die Po- litik beherrschen wollen - einen andern Inhalt hätte er dann ja nicht. Als Religion der Innerlichkeit wird er sich als Lehre (die er eo ipso gar nicht zu sein beanspruchen könnte) mit der Politik nicht einlassen. Dass der einzel- ne Muslim in der Welt wirksam wird, ist ja dabei nicht ausgeschlossen. Mystisch bewegte Gläubige haben, wie die höchstverschiedenen Meister Eckhart und der Emir Abd el-Kader, den Weg in die Öffentlichkeit gesucht und gefunden; auf seine Art auch al-Halladsch, der Vater der islamischen Mystik.

Allerdings neigen mystische Bewegungen dazu, einen Messias hervorzubringen, wie den Juden Sabbatai Zvi oder den sudanesischen Mahdi, dessen Bewegung nicht nur ein Aufstand gegen die britischen Fremdherrscher war, sondern auch eine sehr blutige fundamentalisische Gewaltorgie. Das ist das Eigentümliche mystischer Be- geisterung, dass sie keinen Lehrern folgt, sondern unberechenbaren Propheten. Eine rein innerliche Frömmig- keit hingegen wird den zeitgenössischn fanatischen Gestzeshütern wenig entgegensetzen können, nämlich nicht auf deren Terrain, der Öffentlichkeit.
JE



Freitag, 30. August 2019

Die babylonische Eroberung Jerusalems.

Belagerung Jerusalems
aus scinexx                                                                                   Belagerung Jerusalems, byzantinisch                                  

Relikte der babylonischen Eroberung entdeckt
Asche, Pfeilspitzen und Alltagsobjekte zeugen von dem historisch-biblischen Ereignis

Archäologen haben Zeugnisse der Eroberung Jerusalems durch die Babylonier gefunden – einem Ereignis, das schon in der Bibel beschrieben wird. Am Zionsberg stießen sie auf eine Ascheschicht, in der babylonische Pfeilspitzen, Gefäßscherben, Lampen und andere Relikte untergemischt lagen. Diese Fundkombination passt gut zu den überlieferten Berichten über die Inbrandsetzung großer Teile der Stadt im Jahr 586 vor Christus, wie die Forscher berichten.

Die Eroberung Jerusalems durch die Babylonier und die Zerstörung des ersten Tempels im Jahr 586 vor Christus gilt nach der Zerstörung des zweiten Tempels durch die Römer als einer der großen Einschnitte in der Geschichte der Stadt. Der Überlieferung nach belagerten die Babylonier unter König Nebukadnezar die Stadt mehrere Monate lang, bis sie schließlich die Stadtmauern durchbrechen konnten. Dann brannten sie den Tempel Salomos, den Königspalast und viele Wohnhäuser nieder. 

skythische Pfeilspitze

Skythische Pfeilspitzen und Asche

Jetzt haben Archäologen um Shimon Gibson von der University of North Carolina in Charlotte erste Zeugnisse dieses historischen Ereignisses am Zionsberg zutage gefördert. Zuvor hatten sie dort bereits Funde von der Belagerung Jerusalems durch die Kreuzritter entdeckt. In einer darunter liegenden Fundschicht stießen sie nun auf Relikte aus der Zeit der babylonischen Besatzung.

Die Archäologen fanden eine Ascheschicht aus der Zeit um 587 vor Christus, unter die verschiedene Objekte gemischt waren. Darunter waren Fragmente von Haushaltsgegenständen wie Tongefäßen und Lampen, aber auch Pfeilspitzen aus Bronze und Eisen in skythischer Machart. „Diese skythischen Pfeilspitzen wurden auch an anderen Kampfplätzen aus dem 7. und 6. Jahrhundert vor Christus entdeckt“, erklärt Gibson. „Man weiß, dass diese Spitzen von den babylonischen Kriegern verwendet wurden.“ 

Wohnhaus der jüdischen Elite?

Die Ascheschicht allein wäre noch kein Beleg dafür, dass diese Funde aus der Zeit der Eroberung Jerusalems stammen. Aber die Kombination der skythischen Pfeilspitzen mit den zerbrochenen Alltagsobjekten sei ein starkes Indiz. Zudem stimme auch die Lage der Fundstelle: „Wir wissen, wo die alten Befestigungen lagen, daher wissen wir, dass wir hier in der alten Stadt sind“, erklärt Gibson. „Dies war kein Müllplatz, sondern das südwestliche Viertel der eisenzeitlichen Stadt.“

Ohrring
  Ohrring oder Anhänger aus Gold und Silber

In diesem Viertel könnte einst sogar die wohlhabende Elite gewohnt haben. Denn unter den Funden ist auch ein Ohrring oder Anhänger aus Gold und Silber, wie die Archäologen berichten. „Niemand lässt goldenen Schmuck einfach so liegen“, sagt Gibson. Auch dies spreche dafür, dass die Bewohner schnell vor den Eroberern flüchten mussten. 

Weitere Funde erwartet

„Es ist wirklich aufregend, die materielle Signatur eines historischen Ereignisses auszugraben – umso mehr, wenn es sich um ein so bedeutsames Ereignis wie die babylonische Belagerung von Jerusalem handelt“, sagt Gibsons Kollege Ralph Lewis von der Universität Haifa. Noch allerdings haben die Forscher erst einen kleinen Teil der Fundschicht aus dieser Zeit ausgegraben. „Wir erwarten daher, dass wir noch weit mehr von der Eisenzeit-Stadt finden werden“, sagen sie.

„Wir arbeiten uns an dieser Stätte langsam in die Vergangenheit vor, Schicht für Schicht und Periode für Periode“, erklärt Gibson. In der Grabungssaison 2020 aber wollen sie die Zeugnisse der babylonische Eroberung Jerusalems weiter erforschen.

Quelle: University of North Carolina at Charlotte

Donnerstag, 29. August 2019

Das Bröckeln der athenischen Demokratie.

Reden von bestechender Einfalt riefen hier keinen Korruptionsverdacht hervor: Auf der Pnyx trat die Volksversammlung der Athener zusammen.
aus FAZ.NET,

Ehrt eure kleinen Männer
Konzentration der Macht, Inflation der Würde: Eine Hamburger Tagung debattiert darüber, wie die athenische Demokratie sich mit der Oligarchie arrangierte – und dadurch Stabilität erkaufte.

Von Wolfgang Krischke

Das antike Athen, gerne als Wiege der Demokratie apostrophiert, war vom repräsentativen Parlamentarismus unserer Tage weit entfernt. Das Diskussions- und Entscheidungszentrum der Polis war eine vieltausendköpfige Volksversammlung; tägliche Ämterrotationen, Losverfahren und permanente Rechenschaftspflichten bewirkten eine starke Fragmentierung und strikte Kontrolle der Macht. Heute, da die Forderungen nach direkter Demokratie lauter werden, aber auch die Warnungen vor ihren destruktiven Folgen, stoßen gerade diese plebiszitären Mechanismen auf Interesse.

Zwar war der athenische Stadtstaat übersichtlicher als die Bundesrepublik, aber die Nähe einer Dorfgemeinschaft herrschte hier trotzdem nicht. Etwa 200 000 Menschen bewohnten das 2500 Quadratkilometer große Gebiet, 30 000 von ihnen hatten als freie männliche Vollbürger das Wahlrecht – Frauen, Sklaven und Fremde waren von der politischen Teilhabe ausgeschlossen. Die Kombination aus Überschaubarkeit und Komplexität macht Athen zu einem retrospektiven Labor für das Studium demokratischer Verfahren und gesellschaftlicher Transformationen.

Wie gut funktionierte die attische Demokratie unter Stress? Um diese Frage drehte sich ein Kolloquium an der Universität Hamburg. Im Fokus stand das vierte Jahrhundert vor Christus, als Athens goldenes Zeitalter – die Epoche des Perikles, der Bau der Akropolis – schon Geschichte war. Verlorene Kriege, finanzielle Einbrüche, Bevölkerungsrückgang und der Aufstieg Makedoniens warfen ihre Schatten auf die Polis. Gegen das gängige Bild vom Niedergang Athens in dieser Periode wandte sich Werner Rieß, der Veranstalter der Tagung: „Wir sehen hier einen Staat und eine Gesellschaft, die auf politische Herausforderungen erfolgreich reagieren. Und wie sie das tun, ist auch für uns Heutige noch hoch interessant.“

Die Macht der Kassenverwalter

Tatsächlich erwies sich das demokratische System auch im Angesicht von Krisen als ziemlich stabil; Phasen tyrannischer Herrschaft, die es Ende des fünften Jahrhunderts gab, blieben Episoden. Das Geheimnis der Erfolgs – auf diesen Nenner lassen sich die Vorträge bringen – lag in einer Flexibilität, die, von außen betrachtet, zu Spannungen und Widersprüchlichkeiten im politischen System führte, tatsächlich aber dessen Funktionsfähigkeit erhielt. Dazu gehörten die Spezialisierung, Rationalisierung und Bürokratisierung politischer Abläufe. Mit Konzepten der Moderne beschrieben die Vortragenden eine vormoderne Gesellschaft, in der, ihrem Selbstverständnis zufolge, jeder Bürger für jedes Amt geeignet war.

Funktionale und soziale Eliten entstanden in einem Staat, den ein antielitärer Affekt prägte. Vor allem im finanzpolitischen Bereich bildete sich ein Expertentum heraus, wie Dorothea Rohde (Bielefeld) ausführte. Angesichts leerer Kassen in der Folge verlorener Kriege übernahmen reiche Bürger die Finanzierung öffentlicher Aufgaben. Die Polis wurde dadurch immer abhängiger von ihrer wirtschaftlichen Oberschicht. Zunehmend wurde von Amtsträgern erwartet, dass sie für die Erfüllung ihrer Aufgaben eigene Mittel beisteuerten. Das schloss die ärmeren Bürger von solchen Ämtern aus und war brisant in einer Stadt, die den Teilnehmern der Volksversammlungen Diäten und den Theaterbesuchern „Schaugelder“ zahlte und sich viel darauf zugutehielt, dass Partizipation nicht an die Höhe des Einkommens gebunden war.

Die Macht der Verwalter der öffentlichen Kassen wuchs. Sie wurden nicht mehr – wie in Athen sonst üblich – ausgelost. Stattdessen wählte man Personen mit wirtschaftlicher Fachkenntnis und Erfahrung für eine lange Amtszeit, wobei auch Ämterhäufung hingenommen wurde, wenn der Erfolg es zu rechtfertigen schien. Ökonomische Expertise bekam auch in den Volksversammlungen immer mehr Bedeutung: Die wenigen finanzpolitisch beschlagenen Redner avancierten zu Meinungsführern, die den Diskurs steuerten.

Wer Steuern zahlt, schafft an

„Die athenische Demokratie wandelte sich grundlegend von einer Deliberations- zu einer Akzeptanzdemokratie“, resümierte Dorothea Rohde. Zwar entschied nach wie vor die Mehrheit, aber was sie zu entscheiden hatte, gaben oft nur noch einige wenige vor. Die Bürger arrangierten sich mit dieser Entwicklung, denn sie bescherte ihnen ein prosperierendes Gemeinwesen, ohne dass das demokratische System grundsätzlich in Frage gestellt wurde.

Paradoxerweise stabilisierten die Athener also ihre Demokratie, indem sie eine Oligarchisierung zuließen. Die Pointe, dass eine Modernisierung der Demokratie in ihrem Rückbau bestehen kann, blieb auf der Tagung unausgesprochen. Heutigen Freunden der direkten Demokratie dürfte sie nicht gefallen.

Lobbygruppen kamen auf, die Einfluss auf die Kriegs- und Handelspolitik zu nehmen suchten. Als Keimzellen dieser Entwicklung machte Claudia Tiersch (Berlin) die Steuergesellschaften aus, Gruppierungen, in denen finanzkräftige Bürger vereint waren, um die Zahlung ihrer Abgaben zu organisieren. Ähnliche Seilschaften entdeckte Vincent Gabrielsen (Kopenhagen) unter den Finanziers der athenischen Kriegsflotte – eine „kreative Klasse“, deren Mitglieder meinten, dass es ihnen als Lohn für ihr öffentliches Sponsorentum zustand, sich gelegentlich zu bereichern und wechselseitig zu begünstigen.

Die Wucherung der Widmungen

Die Basis all dieser Entwicklungen – das Unternehmertum – war öffentlich kaum je ein Thema in Athen. Was man heute Wirtschaftsethik nennt, stellt sich als Bündel widersprüchlicher Maximen dar: Privater Reichtum wurde als Ressource öffentlichen Engagements begrüßt und stand zugleich als Quelle der Korruption unter Generalverdacht.

Die partielle Einschränkung der realen Demokratie ging einher mit einer Demokratisierung ihrer Ehrbezeugungen, wie Stephen Lambert (Cardiff) deutlich machte. Inschriften, Widmungen oder Ehrenkränze waren nicht länger herausragenden Staatsmännern vorbehalten. Jeder, der sich irgendwie um die Polis verdient gemacht hatte, konnte nun in ihren Genuss kommen, ein Trend, der sich noch verstärkte, als die öffentliche Hand für die Kosten der Ehrungen aufkam. „Ehre“ war von einem einst aristokratischen Begriff zur ideellen Grundwährung der Demokratie geworden, die allerdings einer zunehmenden Inflationierung unterlag.

Eine Bedrohung dieser Ehre stellte die in Athen permanent brodelnde Gerüchteküche dar, mit der sich Christian Mann (Mannheim) befasste. Gerüchte waren gängiger Bestandteil politischer und gerichtlicher Auseinandersetzungen, die Furcht vor ihnen ein Instrument sozialer Kontrolle in einer sonst relativ liberal geprägten Gesellschaft. Gern wurden den Betroffenen Bestechlichkeit, sexuelle Verfehlungen oder die schlechte Behandlung ihrer Verwandten vorgeworfen.

Das weiß doch jeder

In einem Gemeinwesen, das zu groß war, als dass jeder jeden hätte kennen können, waren die meisten Bürger nicht in der Lage, Wahrheit und Verleumdung in diesen Kolportagen zu trennen – ein Problem, mit dem noch heutige Althistoriker beim Quellenstudium zu kämpfen haben. Wer Gerüchte gegen seine Gegner ins Feld führte, verzichtete in der Regel auf Beweise und berief sich stattdessen auf die Glaubwürdigkeit dessen, was „jeder weiß“. Der bloße Umstand, dass eine Behauptung zum verbreiteten Gerücht geworden war, verlieh ihr das demokratische Qualitätssiegel der Majorität, die prinzipiell recht hat.

Allerdings kannte die direkte Demokratie eine Kontrollinstanz, die der Fake-News-Kommunikation unserer Tage fehlt – die persönliche Konfrontation der Opponenten in der Volksversammlung. Sie verhinderte das, was die sozialen Netzwerke so unsozial macht: die diskursive Abschottung.


Nota. - O wie lehrreich für unsre Tage! Willst du eine Demokratie gegen die Übergriffe wohlhabender Dema- gogen verteidigen, dann - senke deine Ansprüche! Weniger Demokratie wagen - dem könnte auch Präsident Trump beipflichten. Die politologische Formel 'Akzeptanzdemokratie' kennt er sicher noch nicht, doch er wird schon noch eine Pressesprecherin finden, die ihn versteht.
JE


Mittwoch, 28. August 2019

Gefühlt zurückgeblieben.


aus welt.de, 23.08.2019

Das Märchen von den Abgehängten im Osten 
Die Vorstellung, dass die Menschen im Osten beim Gehalt zurückfallen, hält sich hartnäckig. Neue Zahlen zeigen jedoch: Bei den Einkommen holen die östlichen Länder mächtig auf. Dafür leidet die Region an einem ganz anderen Problem.


Die ostdeutschen Länder sind wirtschaftlich hoffnungslos abgehängt, das ist ein Gefühl, mit dem sich
nicht zuletzt die Wahlkämpfer in Brandenburg und Sachsen konfrontiert sehen. Von gleichwertigen Lebensverhältnissen sei Deutschland weit entfernt, bekommen sie zu hören.

Doch eine aktuelle Auswertung der Zahlen zeigt: Was die Einkommen angeht, schließen die Menschen im Osten immer weiter auf ihre Landsleute im Westen auf, und auch von einem generellen ökonomischen Absterben der Provinz kann keine Rede sein. Wenn es das Gefühl gibt, „abgehängt“ zu sein, hat das meist eine andere Ursache, die nicht direkt mit Lohn und Gehalt und Vermögen zu tun hat.

Wissenschaftler des Ifo-Instituts in München haben die relevanten Daten der vergangenen 20 Jahre ausgewertet und kommen zum Schluss, dass Deutschland generell nicht ungleicher, sondern gleicher wird. Sie konstatieren einen starken Trend: „Die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen zwischen den Regionen ist in Deutschland in den letzten zwei Jahrzehnten zurückgegangen“, sagt Ifo-Chef Clemens Fuest.

Quelle: Infografik WELT

Ein erheblicher Teil dieser Konvergenz sei auf den Aufholprozess Ostdeutschlands zurückzuführen. Zusammen mit Lea Immel hat Fuest die Entwicklung der vergangenen 20 Jahre analysiert, und zwar nicht nur mit Blick auf Ost und West, sondern auch das Verhältnis von Metropole und Provinz. Die Untersuchung trägt den Titel: „Ein zunehmend gespaltenes Land? Regionale Einkommensunterschiede und die Entwicklung des Gefälles zwischen Stadt und Land sowie West- und Ostdeutschland“.

Die Ifo-Forscher erkennen an, dass die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik politisch einen hohen Stellenwert hat, auch wenn umstritten ist, „an welchen Indikatoren gemessen werden soll, wann Lebensverhältnisse gleichwertig sind und wann nicht“, merkt Fuest an.

Gerade in der ostdeutschen Provinz hätten Menschen das Gefühl, ökonomisch abgehängt zu sein, nicht nur gegenüber Westdeutschland, sondern auch gegenüber den großen Städten in Ostdeutschland. Sowohl auf Zehn-Jahres- als auch auf Zwanzig-Jahres-Sicht haben sich die verfügbaren Einkommen nirgendwo so stark verbessert zwischen Ostsee und Erzgebirge.



Zwischen 2007 und 2017 (das sind die aktuellsten verfügbaren Daten) führt Sachsen-Anhalt die Liste der Bundesländer mit der stärksten Verbesserung an, und zwar mit einem Zuwachs von 32 Prozent. Deutschlandweit legten die Einkommen in dieser Zeit nur um 22 Prozent zu. Die schwächsten Länder waren Hamburg, Bremen und das Saarland.

Ein anderer Beleg für die Annäherung: Schon 2017 waren die verfügbaren Einkommen im Saarland nur noch unwesentlich höher als in Brandenburg. Angesichts der Tatsache, dass das kleinste Flächenland 2018 mit einer schrumpfenden Wirtschaft konfrontiert war, ist es gut möglich, dass der durchschnittliche Brandenburger vergangenes Jahr mehr Geld zur Verfügung hatte als der durchschnittliche Saarländer, allerdings liegen die Daten für 2018 noch nicht vor.

Das gleiche Ergebnis stellt sich auch ein, wenn nicht die Bundesländer, sondern Kreise und kreisfreie Städte verglichen werden. „Die Ungleichheit unter den Regionen in Deutschland hat den letzten zwei Jahrzehnten entgegen vielen Behauptungen keineswegs zugenommen, sondern ist gesunken“, sagt Fuest.

Quelle: Infografik WELT
Dabei falle auf, dass der Aufholprozess des Ostens seit 2006 stärker ausgeprägt war als in der Zeit zwischen 1994 und 2006. Mit anderen Worten: Gerade im zurückliegenden Jahrzehnt gibt es einen klaren Trend zu mehr Gleichheit, nicht weniger Gleichheit.

In Zahlen sieht das so aus: Im Jahr 1994 ermöglichten die reichsten zehn Prozent der Regionen ein um 57 Prozent höheres Einkommen als als die ärmsten zehn Prozent. Im Jahr 2016 lag diese Einkommensdifferenz nur noch bei etwa 45 Prozent. Beim Vergleich des obersten und untersten Fünftels der Regionen ergibt sich ein Rückgang von 49 Prozent auf 35 Prozent.

Angesichts der Größe der Wohlstandsunterschiede zwischen West und Ost zur Zeit der deutschen Wiedervereinigung könne man die Auffassung vertreten, dass der Aufholprozess zu langsam verlaufe. „Andererseits ist es nicht richtig zu behaupten, der Abstand zwischen reichen und armen Regionen in Deutschland würde immer größer. Zumindest bei den verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte ist vielmehr das Gegenteil der Fall“, erklärt Fuest. Jedenfalls sei es unangemessen, von einem generellen Trend zu wachsender regionaler Divergenz zu sprechen. 

Die Provinz hält sich wacker gegen die Stadt

Auch die These, dass das platte Land gegenüber der Stadt an Wohlstand einbüßt, lässt sich aus den Daten nicht ableiten. Vielmehr haben sich die Unterschiede zwischen den Regionen in den letzten zwei Jahrzehnten deutschlandweit vermindert. Allerdings machen die Ifo-Forscher eine Einschränkung: Sie stellen fest, dass die Einkommensunterschiede zwischen Stadt und Land in Westdeutschland tendenziell zugenommen haben, der starke Aufholprozess der ostdeutschen Provinz gleicht das allerdings mehr als aus.

Die verwendeten Daten stammen aus dem Mikrozensus auf Ebene der Kreise und kreisfreien Städte. „Der auffälligste Befund lautet, dass deutschlandweit das Stadt-Land-Gefälle in den vergangenen zwei Jahrzehnten gesunken ist. Während das Durchschnittseinkommen in der Stadt 1994 noch rund elf Prozent höher war als auf dem Land, lag es 2016 nur noch acht Prozent darüber“, heißt es in der Studie. In der öffentlichen Diskussion herrsche vielfach der Eindruck vor, ländliche Gegenden seien prinzipiell abgehängt, was so nicht der Fall sei.

Das bedeutet allerdings nicht, dass in den Gegenden fern der städtischen Zentren alles zum Besten steht. Die Ifo-Wissenschaftler finden hier auch problematische Entwicklungen, gerade in den neuen Bundesländern: Dörfer und kleine Städte erleiden hier vielerorts Alterung und Wegzug junger Menschen. Laut der Untersuchung ist die Bevölkerungsdichte in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands zwischen 1994 und 2016 um mehr als ein Drittel gesunken. Gleichzeitig ist das mittlere Alter von 38 auf 50 Jahre nach oben gesprungen.

Quelle: Infografik WELT
Zum Vergleich: In den ostdeutschen Städten ist das Medianalter im gleichen Zeitraum nur von 39 auf 43 Jahre gestiegen. „In Westdeutschland gibt es ebenfalls ein demografisches Stadt-Land-Gefälle, es ist aber deutlich weniger ausgeprägt“, heißt es in der Studie. Fuest spricht von einer „wachsenden Divergenz zwischen Stadt und Land insbesondere in Ostdeutschland“. Zwar schrumpfe und altere die Bevölkerung in den ländlichen Regionen auch im Westen schneller. Im Osten schreite der Prozess allerdings deutlich schneller voran.

Ökonomisch ist es strittig, ob es Sinn hat, dem Fortzug der Menschen in größere und dichtere Siedlungen entgegenzuwirken. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) betonte zuletzt die Bedeutung der Regionalförderung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und auch für die dezentrale wirtschaftliche Infrastruktur des Landes. Fuest führt hingegen an, dass Zuwanderung in die Städte ökonomisch durchaus Vorteile mit sich bringt.

Er nennt das „Nutzung von Agglomerationsvorteilen durch Skalenerträge und Wissensexternalitäten“. Insofern sei es ökonomisch nicht ohne weiteres möglich, eine Förderung der ländlichen Räume mit Effizienzargumenten zu rechtfertigen. Zugleich räumt der Ifo-Chef ein: „Politisch finden Maßnahmen zur Eindämmung regionaler Divergenzen in Deutschland jedoch breite Unterstützung.“ Damit solche Maßnahmen erfolgreich sein können, müssten sie jedoch vor allem die Stabilisierung der demografischen Entwicklung der ländlichen Regionen in den Blick nehmen.

Es bleibt eine naheliegende Kritik, dass die verfügbaren Einkommen anders als die Markteinkommen zum nicht geringen Teil durch staatliche Umverteilung beeinflusst werden. Ohne Renten, Kindergeld und andere Ausgleichszahlungen würde sich die finanzielle Situation also deutlich weniger gleich präsentieren.

„In der Tat wären die Einkommensunterschiede zwischen den Regionen deutlich höher, wenn sie nicht durch progressive Einkommensteuer, Sozialversicherungen und Finanzausgleich reduziert würden“, erklärt der Chef des Ifo-Instituts, der zu den angesehensten Ökonomen Deutschlands gehört. Das erkläre aber nicht das Ausmaß, in dem die Einkommensunterschiede zurückgehen. Der Hauptgrund sei eine Konvergenz der realen Wirtschaftskraft pro Kopf.

Was beim Stadt-Land-Vergleich außerdem zu berücksichtigen ist: In der Ifo-Analyse wurden regionale Preisniveauänderungen zum Beispiel durch steigende Wohnkosten in Ballungsräumen nicht berücksichtigt. Die höheren Wohnkosten in den Städten dürften also den Einkommensvorsprung der Städter zum großen Teil aufzehren. Dieser Faktor dürfte in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen haben, auch und gerade in Ostdeutschland.


Sonntag, 25. August 2019

Die Belagerung Leningrads.

 
aus nzz.ch, 19.8.2019                    Newski-Prospekt während der Belagerung

Wie viel Schuld trägt Stalin an den vielen Toten der Belagerung Leningrads? – In der heroischen russischen Geschichtskultur ist allein schon die Frage anstössig 

Die Belagerung Leningrads gehört zu den grossen Tragödien und Verbrechen des Zweiten Weltkriegs. Über eine Million Menschen erlagen dem Beschuss, dem Hunger und der Kälte. Die russische Autorin Elena Chizhova wirft Stalin vor, zu wenig zum Schutz der Zivilbevölkerung getan zu haben. Was ist an der These dran?

von Ulrich M. Schmid 

Mit ihrem Essay über die Leningrader Blockade (NZZ 6. 5. 19) hat die Petersburger Schriftstellerin Elena Chizhova in ein Wespennest gestochen. Das Thema gehört zu den tragischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts in Russland: In der fast 900 Tage dauernden Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht waren zwischen 1941 und 1944 über eine Million Menschen meist durch Hunger umgekommen. Chizhova schreibt, Hitler und Stalin hätten die Todesfuge der Blockade vierhändig gespielt: Hitler habe eine klare Vernichtungspolitik verfolgt, während Stalin durch das sinnlose Forcieren der Rüstungswirtschaft in der eingeschlossenen Stadt am Tod Zehn- oder sogar Hunderttausender Leningrader schuldig sei.


Chizhovas Einschätzung stiess sogleich auf den heftigen Widerspruch nationalistischer Politiker. Der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Gennadi Sjuganow nannte Chizhovas Aussagen «blasphemisch» und «schändlich». Damit vertritt Sjuganow die Parteilinie: Die Kommunisten sind in Russland die wichtigsten Gralshüter des Sowjeterbes. Ausserdem erstattete eine junge Politaktivistin beim staatlichen Ermittlungskomitee Anzeige gegen Chizhova wegen «Rehabilitierung des Nazismus». Mittlerweile hat sich der Petersburger PEN-Club mit seinem prominenten Mitglied solidarisiert. Ausserdem haben weitere namhafte Autorinnen wie Alissa Ganiewa, Olga Sedakowa und Ljudmila Ulitzkaja den Unterstützungsbrief des Petersburger PEN-Clubs mitunterzeichnet. 

Der hohe Preis des Leids

Die Aufregung um Chizhovas Essay zeigt, dass der Kampf um Leningrad nicht mit der Befreiung der Stadt durch die Rote Armee am 27. Januar 1944 geendet hat. Bis heute ist die Blockade Gegenstand hitziger Auseinandersetzungen. Auf der einen Seite gibt es Verfechter des sowjetischen Geschichtsnarrativs, das die Eingeschlossenen der Blockade als Widerstandskämpfer verehrt und Leningrad selber in den Status einer «Heldenstadt» erhebt. Auf der anderen Seite melden sich kritische Stimmen zu Wort, die das unsägliche Leid im belagerten Leningrad als zu hohen Preis für den militärischen Erfolg einschätzen.

In den gegenwärtigen Geschichtsdebatten spiegelt sich ein Machtkampf um die historische Deutungshoheit. Der Kreml setzt seit etwa fünfzehn Jahren die patriotische Geschichte als Machtressource ein. Zentral ist dabei der sowjetische Sieg über Hitlerdeutschland. Mit grossem Aufwand wird jeweils der 9. Mai als Tag des Sieges gefeiert. Wer an dieser offiziellen Geschichtserzählung Fragezeichen anbringt, wird oft als Verräter angegriffen. Nur schon eine kritische Einschätzung des Hitler-Stalin-Paktes, der zu Sowjetzeiten zu den grossen Tabuthemen der Geschichtsschreibung gehörte, kann gehässige Kommentare auslösen. Auch heute noch ist der Pakt der beiden Diktatoren in Russland ein heikles Thema. Präsident Putin selber verteidigt den Pakt als taktische Massnahme, die damals die Sicherheit der Sowjetunion gewährleistet habe.



 
Die Leningrader Blockade verfügt gegenüber dem Hitler-Stalin-Pakt über den Vorteil, dass sie vollumfänglich in die Zeit nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion fällt und deshalb als Minisujet für den heldenhaften Widerstand des ganzen Landes gegen die Nazi-Angreifer dienen kann. Für Putin gehört das Heldentum der eingeschlossenen Leningrader sogar zur eigenen Familiengeschichte. In einem Band mit frühen Interviews aus dem Jahr 2000 berichtet er, wie sein Vater bei der Verteidigung Leningrads verletzt wurde. Ein Kamerad trug ihn auf seinem Rücken durch umkämpftes Gebiet und über den gefrorenen Fluss in ein Krankenhaus. Putins Mutter überlebte nur dank den Lebensmittelrationen ihres Bruders und wurde einmal sogar als vermeintlich Tote auf die Strasse getragen. 

Von der Vernichtung zur Blockade

Mittlerweile sind die diskursiven Verteidigungslinien für den Heldenmythos der Leningrader Blockade in aller Deutlichkeit gezogen. Der oppositionelle Fernsehsender «Doshd» führte auf seiner Website im Jahr 2014 eine Umfrage durch: «Hätte man Leningrad nicht besser aufgeben sollen, um dadurch Hunderttausende Menschenleben zu retten?» Allein die Frage löste eine Welle der Empörung aus. Zahlreiche Kabelnetzwerke nahmen «Doshd» aus ihrem Angebot, seither ist der Kanal fast ausschliesslich auf Einnahmen aus Internetabonnements angewiesen.


Vor dem Hintergrund dieses Skandals verzichtete der Filmregisseur Alexei Krassowski aus eigenen Stücken darauf, für seine schwarze Komödie «Das Fest» (2019) staatliche Gelder zu beantragen. Er finanzierte seinen Film durch Crowd-Funding und stellte ihn kostenlos auf Youtube zur Verfügung. Innerhalb eines Monats erreichte der Film 1,5 Millionen Zuschauer. Die Handlung des «Fests» spielt am 31. Dezember 1941 im belagerten Leningrad. Ein Physikprofessor, der wegen seiner Spezialaufgaben eine besondere Lebensmittelration erhält, will mit seiner Familie das neue Jahr feiern. Der Sohn und die Tochter bringen jedoch ihre neuen Partner mit ins Elternhaus. Die makabre Komik des Films dreht sich um eine peinliche Grundsituation: Die privilegierte Familie muss den hungernden Gästen erklären, woher sie das viele Essen hat. Die politische Brisanz von Krassowskis Film besteht nicht nur im Tabubruch, die Leningrader Blockade als Komödie zu präsentieren, sondern auch in der Entlarvung regimetreuer Intellektueller, deren einziges Interesse in der Wahrung ihrer Vorrechte besteht. Nicht wenige Zuschauer deuten «Das Fest» als Parabel auf die russische Gegenwart.

Inwieweit treffen Chizhovas Vorwürfe zu? Zunächst muss festgehalten werden, dass Hitler in der Tat eine verbrecherische, ja sogar genozidale Politik gegenüber Leningrad verfolgte. In den euphorischen ersten Wochen des Unternehmens «Barbarossa» hatte Hitler befohlen, Leningrad müsse «dem Erdboden gleichgemacht» werden. In der Nachkriegsplanung war die Newa als Grenze zwischen Deutschland und Finnland vorgesehen, für eine Stadt gab es also an diesem Ort keine Existenzberechtigung mehr. Als sich im September 1941 beim Angriff auf Leningrad ein erbitterter Widerstand abzeichnete, wechselte die Heerführung die militärische Strategie von der Vernichtung zur Blockade. Die Begründung war aber für beide Vorgehensweisen gleich: Man wollte die Leningrader Bevölkerung nicht ernähren. Für den Fall der Fälle verfügte Hitler sogar, dass eine Kapitulation der eingeschlossenen Stadt nicht anzunehmen sei. Die einzige menschliche Regung im deutschen Oberkommando bestand darin, dass man sich fragte, ob es den deutschen Soldaten zuzumuten sei, auf ausbrechende Frauen und Kinder zu schiessen. 

Bis zum letzten Mann

Schwieriger ist die Beurteilung von Stalins Schuld an den hohen Opferzahlen in Leningrad. Im Frühjahr 1941 hatte Stalin zahlreiche Warnungen der eigenen Geheimdienste über einen bevorstehenden deutschen Angriff in den Wind geschlagen. Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass der notorisch misstrauische Stalin seinen gefährlichsten Feind nicht erkannte. Stalin fürchtete den Fall Leningrads, weil sich dann die deutsche und die finnische Armee hätten vereinigen und von Norden gegen Moskau vorrücken können. Deshalb gab er früh die Parole aus, Leningrad bis zum letzten Mann zu verteidigen

 
Allerdings spielte er damit genau der deutschen Aushungerungsstrategie in die Hände, wie Joseph Goebbels in seinem Tagebuch mit Genugtuung vermerkte: Die Weltöffentlichkeit würde das Sterben der eingeschlossenen Stadtbevölkerung der sowjetischen Führung anlasten. Stalin und die Moskauer Führung liessen allerdings nichts unversucht, um Leningrad zu befreien. Während der Blockade führte die Rote Armee insgesamt sechs Angriffe auf den deutschen Belagerungsring durch.

Seit Beginn der Blockade war der «Weg des Lebens» über den Ladogasee der einzige Zugang zur belagerten Stadt. Im Sommer gab es einen mühseligen Fährbetrieb, im Winter fuhren Lastwagen auf dem Eis, wo sie aber immer wieder einbrachen. Im Januar 1943 eroberte die Rote Armee ein Landstück am südlichen Seeufer zurück. Innerhalb zweier Wochen wurde eine Bahnlinie verlegt, die eine spürbare Verbesserung der Versorgung Leningrads ermöglichte. Trotz den katastrophalen Verhältnissen, die auch zu Kannibalismus führten, fuhr man fort, in Leningrad Rüstungsgüter und Munition herzustellen. Allerdings führten die prekären Produktionsbedingungen dazu, dass über 50 Prozent der hergestellten Ware Ausschuss waren. In der Tat hätte eine frühe Konzentration der Produktion auf die Bedürfnisse der Zivilbevölkerung eine grosse Anzahl Menschen retten können. Für Stalin hatte aber ganz klar die Schlagkraft der Armee oberste Priorität.

Immer wieder wird gemutmasst, Stalin habe eine besondere Antipathie gegenüber Leningrad gehegt. In der Tat war St. Petersburg der Inbegriff des zaristischen Russland, gegen das der Revolutionär Stalin in seiner Jugend gekämpft hatte. Im Machtkampf um die Nachfolge Lenins war Stalin in der Person des Leningrader Parteichefs Grigori Sinowjew ein ernsthafter Rivale erwachsen, der überdies mit der «Leningradskaja Prawda» über eine eigene Tageszeitung verfügte. Auch Sinowjews Nachfolger Sergei Kirow erschien in Stalins Augen als gefährlicher Widersacher – Kirow wurde 1934 unter ungeklärten Umständen Opfer eines Mordanschlags. 

«Heldentum» ist anders

Stalins Argwohn gegenüber Leningrad ist durch zahlreiche Äusserungen belegt. So nannte er die Stadt etwa eine «einsame Insel im Meer». Im Jahr 1942 waren Gerüchte im Umlauf, die Sowjetführung wolle Leningrad für 10 oder 25 Jahre an die Briten und Amerikaner verpachten, um für die westliche Militärhilfe im Kampf gegen Nazi-Deutschland zu bezahlen. Nach der Beendigung der Blockade wurden in Leningrad sogar Stimmen laut, die Hauptstadt müsse wieder an die Newa verlegt werden. Ende der vierziger Jahre kam es schliesslich im Rahmen der sogenannten Leningrader Affäre zu einer Reihe von Entlassungen, Verhaftungen und Prozessen, in denen sich das Moskauer Zentrum rücksichtslos gegen die Stadt an der Newa durchsetzte.



Die Liste der Verwerfungen zwischen Stalin und Leningrad ist also lang. Gleichwohl ist es schwierig, aus dieser problematischen Beziehung eine bewusste Vernichtungspolitik Stalins gegenüber Leningrad abzuleiten. Stalin war ein rücksichtsloser Massenmörder – in Leningrad, Moskau und in seinem heimatlichen Georgien. Jedenfalls ist es wichtig, dass Elena Chizhova mit ihrem Beitrag eine Diskussion über das russische Geschichtsbild angestossen hat. Darüber hinaus merkt sie an, dass es falsch sei, vom «Heldentum» der eingeschlossenen Leningrader zu sprechen. Nur ein bewusst gewähltes Handeln könne «heldenhaft» sein. Die Blockade stelle aber für die Leningrader ein von aussen auferzwungenes tragisches Schicksal dar.

Ulrich M. Schmid ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands sowie Prorektor Aussenbeziehungen an der Universität St. Gallen. Zuletzt ist von ihm 2015 bei Suhrkamp erschienen: «Technologien der Seele. Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur».

Samstag, 24. August 2019

80 Jahre Hitler-Stalin-Pakt


aus Tagesspiegel.de, 23. 8. 2019

Die Sowjetunion hatte die Wahl – und entschied sich für Hitler 
Hitler und Stalin teilten 1939 Europa unter sich auf, das regelte ein geheimes Zusatzdokument des Nichtangriffsvertrags. Nun wurde das Original veröffentlicht.
 
 

Am Nachmittag des 23. August 1939 wehen rote Flaggen über dem Moskauer Flughafen Chodynkafeld, zehn Kilometer nordwestlich vom Kreml. An sich nicht ungewöhnlich, doch nicht alle Flaggen tragen Hammer und Sichel. Die Hälfte von ihnen zeigt auf weißem Kreis das schwarze Hakenkreuz. Die Fahnen stammen aus einem Filmstudio, in dem gerade ein Streifen gegen die Nazis gedreht wird. Auf der einen Fahnenseite sei das faschistische Symbol spiegelverkehrt abgebildet, bemerkt ein Angehöriger der deutschen Delegation, die an diesem Tag in der sowjetischen Hauptstadt landet.

Der Fehler ist unwichtig, entscheidend ist das Signal, das Josef Stalin dem deutschen Außenminister Joachim von Ribbentrop senden will: Der Gesandte Hitlers ist in Moskau willkommen. Am gleichen Abend unterzeichnen im Kreml Ribbentrop und sein sowjetischer Amtskollege Wjatscheslaw Molotow im Beisein des Diktators einen Vertrag, der wie kein anderes bilaterales Dokument das Schicksal der Staaten und Völker in Ostmittel- und Osteuropa auf viele Jahrzehnte beeinflussen wird. Er geht als Hitler-Stalin-Pakt in die Geschichte ein.

Die westlichen Mächte reagieren entsetzt, sie sind – durch beträchtliches eigenes Verschulden – von den beiden Diktatoren ausmanövriert worden. Die europäische Linke, die sich seit sechs Jahren nicht nur in Deutschland, sondern auch im spanischen Bürgerkrieg im Kampf gegen den Faschismus aufgeopfert hat, fühlt sich verraten. Den Pakt werden in den darauffolgenden Jahren tausende deutsche Kommunisten mit dem Leben bezahlen, weil Stalin sie an Hitler ausliefert.

Die Scans des Originalvertrags sind im Juni veröffentlicht worden

Opfer sind aber vor allem Millionen von Polen, Litauern, Letten, Esten, Bewohner der Regionen Bukowina und Bessarabien, die in der direkten Folge dieses deutsch-sowjetischen Paktes ermordet, terrorisiert oder verschleppt werden. Was zu diesem Zeitpunkt außerhalb des Kremls und der Berliner Schaltzentralen niemand weiß: Dies ist nicht bloß ein Nichtangriffspakt zwischen zwei Staaten, wie es ihn zu diesem Zeitpunkt einige in Europa gibt. Das ist nur der offizielle Teil.

In einem geheimen Zusatzprotokoll enthält der Hitler-Stalin-Pakt faktisch die Verabredung zur Vernichtung Polens und der baltischen Staaten sowie zur Teilung Osteuropas in geopolitische Interessensphären. Die Sowjetunion und Deutschland haben an diesem 23. August vor 80 Jahren das Abkommen geschlossen, das – nicht allein, aber entscheidend – den Beginn des Zweiten Weltkrieges möglich macht. Dass das Zusatzprotokoll überhaupt existiert, werden Sowjetführer bis kurz vor der Auflösung der UdSSR leugnen.

Ribbentrop (links neben Stalin) und sein sowjetischer Amtskollege Molotow (sitzend)

Die Scans des sowjetischen Originalvertrags sind erst im Juni diesen Jahres von der Historischen Abteilung des russischen Außenministeriums veröffentlicht worden. Der Text in russischer Sprache ist schon seit gut zwei Jahrzehnten bekannt. Gleichzeitig erschien jetzt in Moskau ein Sammelband mit dem Titel: „Anti-Hitler-Koalition 1939. Formel des Scheiterns“.

Schon diese Formulierung gibt die Hauptthese an, die die Historikerin Veronika Krascheninnikowa in ihrem Vorwort dann ausführt: „Der Nichtangriffsvertrag war für Moskau ein erzwungener Schritt, der gegangen wurde, als klar war, dass es nicht zu einer Anti-Hitler-Koalition kommen wird. Er gab der Sowjetunion fast zwei Jahre zum Atemholen für die Vorbereitungen zur Abwehr der unabwendbaren Aggression. Mehr noch, analoge Verträge haben vor der Sowjetunion auch die ,Hauptankläger’ (des sowjetischen Vorgehens, die Redaktion) geschlossen: Großbritannien, Frankreich, Dänemark, Lettland, Litauen und Estland.“


Krascheninnikowa ist nicht irgendeine Stimme in der russischen Historikerzunft, sie ist Generaldirektorin des staatlichen Instituts für Außenpolitische Studien und Initiativen. Man kann wohl sagen, sie vertritt die offiziöse Lesart des Kreml unter Präsident Wladimir Putin. Nach Jahren differenzierter historischer Analyse des Pakts ist der Hauptstrom der russischen Historiografie jetzt ganz offensichtlich wieder zurück bei der eindimensionalen Interpretation, deren Richtung schon Stalin vorgegeben hat, und die zu kommunistischen Zeiten kanonisch war. Wenn überhaupt über diesen Vertrag gesprochen wurde, waren Zweifel unzulässig. Es galt: Die Sowjetunion hatte keine andere Wahl, dieser Vertrag war „Realpolitik“ und in der gegebenen Situation im strategischen Interesse der UdSSR.

Der jüdische Minister muss gehen – ein Signal nach Berlin

Einen wesentlichen Unterschied gibt es heute im Vergleich zur sowjetischen Sicht: Die Zusatzprotokolle zu den Verträgen, in denen die Auslöschung von Staaten Osteuropas und ihre Aufteilung zwischen den Diktaturen niedergelegt ist, können nicht mehr geleugnet werden. Sie werden aber in Russland auch kaum noch kritisch analysiert. Krascheninnikowa schreibt dagegen wider die Fakten: „Im Jahr 1939 – bis unmittelbar zum Beginn der Kampfhandlungen am 1. September – unternahm die Sowjetunion unermüdlich Versuche, eine Koalition der europäischen Staaten zu formen, um die Aggression des Dritten Reiches zu stoppen.“

Die Versuche, eine Anti-Hitler-Koalition zu schmieden, waren immer nur eine Seite der stalinschen Politik. Der sowjetische Diktator hatte nicht nur eine erzwungene Option, er konnte wählen. Stalin fuhr mehrgleisig, doch die „deutsche Option“ stand spätestens nach 1935 im Vordergrund. Im Dezember 1934 hatte Stalin seinen Vertrauten Dawit Kandelaki als Leiter der Handelsvertretung nach Berlin geschickt. Der sollte nicht nur die mit der Machtübernahme der Nazis 1933 erheblich verschlechterten Wirtschaftsbeziehungen wieder ankurbeln, sondern auch einen politischen Vertrag vorbereiten. Damals hatte Hitler kein Interesse. Kandelakis Mission scheiterte.

Ein Bündnis gegen die Nazis versuchte in der zweiten Hälfte der 30er Jahre vor allem Außenminister Maxim Litwinow zu schmieden. Sicher zu diesem Zeitpunkt nicht gegen die Intentionen Stalins. Doch die Westmächte suchten lieber die Verständigung mit Hitler. Das Münchner Abkommen war aus russischer Sicht ein Wendepunkt. Litwinow verlor im Mai 1939 sein Amt – den Politiker jüdischer Herkunft abzulösen, war ein klares Signal nach Berlin. Nachfolger wurde Molotow, dessen Unterschrift neben der von Ribbentrop auf dem deutsch-sowjetischen Vertrag steht.




Im Frühsommer 1939 redete in Europa noch immer jeder mit jedem. Zu kaum einem Zeitpunkt hat es eine intensivere Pendeldiplomatie zwischen den Staaten gegeben. Aber jeder misstraute auch jedem – aus gutem Grund. Hitler wollte Frankreich und Großbritannien davon abbringen, Sicherheitsgarantien für Polen auszusprechen, dessen Vernichtung er schon beschlossen hatte. Frankreich und Großbritannien wollten Hitlers aggressive Absichten von sich selbst ablenken und auf Russland richten. Polen versuchte vergeblich, sich gegen Deutschland wie gegen den Nachbarn im Osten abzusichern. Die Sowjetunion hatte vor, sich aus den europäischen Angelegenheiten herauszuhalten und ihre militärischen Ressourcen gegen Japan zu bündeln.

Stalin selbst hatte die Rote Armee erst zwei Jahre zuvor in einer mörderischen Säuberungskampagne um ihre Führung gebracht. Seit Mitte der 30er Jahre wuchsen im Fernen Osten jedoch die Spannungen mit dem faschistischen Japan. Dass nicht nur Hitler, sondern auch Stalin „in zwei Fronten“ dachte, wird in Europa kaum reflektiert. Doch der Vertrag mit Hitler sollte aus Sicht des sowjetischen Diktators die Verbündeten Berlin und Tokio spalten.

Das Ende der sowjetischen Bemühungen um eine Anti-Hitler-Koalition liegt Monate vor dem Kriegsbeginn. Wenn man so will, lässt es sich sogar auf die Minute genau festlegen. Im Mai 1939 begannen in Moskau trilaterale Gespräche mit Großbritannien und Frankreich, um eine Allianz gegen Hitler zu schmieden. Die Dinge schritten rasch voran, und im August waren die militärischen Unterhändler kurz davor, eine Vereinbarung für den Fall einer deutschen Aggression zu schließen.

Doch am 21. August um 17.25 Uhr beendete die sowjetische Seite unerwartet die Gespräche. Briten und Franzosen verstanden kurz darauf, warum. Um 23.15 Uhr unterbrach der deutsche Rundfunk seine Übertragung für folgende Mitteilung: Die Regierung des Reiches und die sowjetische Regierung, hieß es da, hätten vereinbart, einen Nichtangriffspakt zu schließen. Der Reichsaußenminister werde am Mittwoch, dem 23. August zur Unterzeichnung des Vertrages nach Moskau fahren.

Moskau wollte Revanche für den Frieden von 1920

Stalin hatte die Wahl – und entschied sich für Hitler. Das auch deshalb, weil ihn die Westmächte in verhängnisvoller Fehleinschätzung der Situation hinhielten. Aber das ist nicht der einzige Grund.
Hitler gab Stalin ohne zu zögern, was ihm Frankreich und Großbritannien verweigerten: freie Hand für die Annexion des Baltikums und Revanche für den Frieden von Riga 1920, als die junge Sowjetunion ihre Ansprüche auf den Westen Weißrusslands und der Ukraine an Polen abtreten musste. Auch Hitler fuhr bis zu einem bestimmten Zeitpunkt mehrgleisig, ließ vor allem mit Großbritannien verhandeln. Aber spätestens im Mai 1939 hatte er sich entschieden: die Vernichtung Polens bekam absoluten Vorrang.

Dass Großbritannien und Frankreich Sicherheitsgarantien für Warschau abgaben, störte seine Pläne immens. Anders als noch Mitte der 30er Jahre brauchte er jetzt Stalin. Wenn er schon einen Krieg in Polen und gegen den westlichen Nachbarn würde führen müssen, konnte eine zweite Front im Osten, ein Eingreifen der Sowjetunion in den Krieg, tödlich sein. Die Initiative zum Hitler-Stalin-Pakt ging vom deutschen Diktator aus.

Von da an lief alles sehr schnell ab. Im Juli signalisierten Beamte des Reichsaußenministeriums den russischen Gesandten in Berlin, wenn Moskau im Falle eines deutschen Krieges gegen Polen neutral bleibe, könne die Sowjetunion mit bestimmten Zugeständnissen rechnen. Es war das entscheidende Argument, das Stalin auf die Seite Hitlers zog. Am 19. August sandte Stalin seinen Entwurf eines Abkommens nach Berlin. In einem Begleitbrief legte er fest, dass es den Nichtangriffsvertrag nur mit dem geheimen Zusatzprotokoll geben werde. Das sicherte der deutsche Botschafter in Moskau den sowjetischen Stellen am nächsten Tag zu. Am 21. August erhielt Stalin um 15 Uhr eine persönliche Botschaft von Hitler. Nach zwei Stunden antwortete der sowjetische Diktator nach Berlin. 25 Minuten später wurden die Verhandlungen mit Großbritannien und Frankreich beendet.

1941 war der Nichtangriffspakt Makulatur

Der Zweite Weltkrieg begann am 1. September 1939 in den Morgenstunden mit dem Angriff deutscher Truppen auf Polen. Am 17. September 1939 überschritt die Sowjetarmee mit 600 000 Mann die polnische Grenze. Offiziell hieß es: zum Schutz der „Blutsbrüder“ vor den vorrückenden Deutschen. Ein paar Tage später aber marschierten sowjetische Soldaten Seite an Seite mit eben diesen Deutschen bei einer Parade durch Brest. 1940 wurden dann Estland, Lettland und Litauen – „auf deren Bitten“ – gezwungen, ihre Unabhängigkeit aufzugeben.



Der Hitler-Stalin-Pakt sei gerechtfertigt gewesen, heißt es in Moskau wieder, weil er der UdSSR „fast zwei Jahre zum Atemholen“ gegeben habe, um sich auf den deutschen Überfall vorzubereiten. Dem wird auch von russischen Historikern entgegen gehalten: Der Pakt sei strategisch ein Desaster gewesen, weil er den Beginn der Aggression gegen die Sowjetunion beschleunigt habe. Das sei nur deshalb schnell in Vergessenheit geraten, weil die UdSSR die Hauptlast des Kampfes gegen Hitler getragen hat und in welchem sie schließlich glücklicherweise obsiegte.

Stalin hatte 1939 darauf spekuliert, dass sich Hitler auf viele Jahre in einem Krieg im Westen verkämpfen würde. Tatsächlich war Paris innerhalb weniger Wochen eingenommen – auch angetrieben von den Rohstofflieferungen, die Moskau nach weiteren Verträgen für die deutsche Kriegsmaschine geliefert hatte. Wie ernüchternd die rasche Kapitulation Frankreichs für die Sowjetunion war, hat der Schriftsteller Ilja Ehrenburg 1942 in seinem Roman „Der Fall von Paris“ beschrieben. Die Enttäuschung über die französische Schwäche findet sich dort beinahe auf jeder Seite. Den Hitler-Stalin-Pakt und sowjetische Lieferungen für die deutsche Rüstungsindustrie erwähnt Ehrenburg mit keinem Wort.

Als Hitler 1941 dann gegen die Sowjetunion marschieren ließ, war der Nichtangriffspakt Makulatur. Er hatte das Land in eine Isolation gebracht, die auch noch lange nach dem Überfall der Wehrmacht nachwirken sollte. In den folgenden Jahren waren es nun die Westmächte, die darauf hofften, Hitler und Stalin mögen sich in einem langen Krieg gegenseitig schwächen. Erst als die Sowjetunion als Sieger faktisch feststand, eröffneten sie in der Normandie 1944 die zweite Front. Kurz danach sicherten auch sie in Jalta Stalin das zu, was er mit dem Hitler-Stalin-Pakt bekommen hatte: die Kontrolle über den Osten Europas.