Sonntag, 25. August 2019

Die Belagerung Leningrads.

 
aus nzz.ch, 19.8.2019                    Newski-Prospekt während der Belagerung

Wie viel Schuld trägt Stalin an den vielen Toten der Belagerung Leningrads? – In der heroischen russischen Geschichtskultur ist allein schon die Frage anstössig 

Die Belagerung Leningrads gehört zu den grossen Tragödien und Verbrechen des Zweiten Weltkriegs. Über eine Million Menschen erlagen dem Beschuss, dem Hunger und der Kälte. Die russische Autorin Elena Chizhova wirft Stalin vor, zu wenig zum Schutz der Zivilbevölkerung getan zu haben. Was ist an der These dran?

von Ulrich M. Schmid 

Mit ihrem Essay über die Leningrader Blockade (NZZ 6. 5. 19) hat die Petersburger Schriftstellerin Elena Chizhova in ein Wespennest gestochen. Das Thema gehört zu den tragischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts in Russland: In der fast 900 Tage dauernden Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht waren zwischen 1941 und 1944 über eine Million Menschen meist durch Hunger umgekommen. Chizhova schreibt, Hitler und Stalin hätten die Todesfuge der Blockade vierhändig gespielt: Hitler habe eine klare Vernichtungspolitik verfolgt, während Stalin durch das sinnlose Forcieren der Rüstungswirtschaft in der eingeschlossenen Stadt am Tod Zehn- oder sogar Hunderttausender Leningrader schuldig sei.


Chizhovas Einschätzung stiess sogleich auf den heftigen Widerspruch nationalistischer Politiker. Der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Gennadi Sjuganow nannte Chizhovas Aussagen «blasphemisch» und «schändlich». Damit vertritt Sjuganow die Parteilinie: Die Kommunisten sind in Russland die wichtigsten Gralshüter des Sowjeterbes. Ausserdem erstattete eine junge Politaktivistin beim staatlichen Ermittlungskomitee Anzeige gegen Chizhova wegen «Rehabilitierung des Nazismus». Mittlerweile hat sich der Petersburger PEN-Club mit seinem prominenten Mitglied solidarisiert. Ausserdem haben weitere namhafte Autorinnen wie Alissa Ganiewa, Olga Sedakowa und Ljudmila Ulitzkaja den Unterstützungsbrief des Petersburger PEN-Clubs mitunterzeichnet. 

Der hohe Preis des Leids

Die Aufregung um Chizhovas Essay zeigt, dass der Kampf um Leningrad nicht mit der Befreiung der Stadt durch die Rote Armee am 27. Januar 1944 geendet hat. Bis heute ist die Blockade Gegenstand hitziger Auseinandersetzungen. Auf der einen Seite gibt es Verfechter des sowjetischen Geschichtsnarrativs, das die Eingeschlossenen der Blockade als Widerstandskämpfer verehrt und Leningrad selber in den Status einer «Heldenstadt» erhebt. Auf der anderen Seite melden sich kritische Stimmen zu Wort, die das unsägliche Leid im belagerten Leningrad als zu hohen Preis für den militärischen Erfolg einschätzen.

In den gegenwärtigen Geschichtsdebatten spiegelt sich ein Machtkampf um die historische Deutungshoheit. Der Kreml setzt seit etwa fünfzehn Jahren die patriotische Geschichte als Machtressource ein. Zentral ist dabei der sowjetische Sieg über Hitlerdeutschland. Mit grossem Aufwand wird jeweils der 9. Mai als Tag des Sieges gefeiert. Wer an dieser offiziellen Geschichtserzählung Fragezeichen anbringt, wird oft als Verräter angegriffen. Nur schon eine kritische Einschätzung des Hitler-Stalin-Paktes, der zu Sowjetzeiten zu den grossen Tabuthemen der Geschichtsschreibung gehörte, kann gehässige Kommentare auslösen. Auch heute noch ist der Pakt der beiden Diktatoren in Russland ein heikles Thema. Präsident Putin selber verteidigt den Pakt als taktische Massnahme, die damals die Sicherheit der Sowjetunion gewährleistet habe.



 
Die Leningrader Blockade verfügt gegenüber dem Hitler-Stalin-Pakt über den Vorteil, dass sie vollumfänglich in die Zeit nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion fällt und deshalb als Minisujet für den heldenhaften Widerstand des ganzen Landes gegen die Nazi-Angreifer dienen kann. Für Putin gehört das Heldentum der eingeschlossenen Leningrader sogar zur eigenen Familiengeschichte. In einem Band mit frühen Interviews aus dem Jahr 2000 berichtet er, wie sein Vater bei der Verteidigung Leningrads verletzt wurde. Ein Kamerad trug ihn auf seinem Rücken durch umkämpftes Gebiet und über den gefrorenen Fluss in ein Krankenhaus. Putins Mutter überlebte nur dank den Lebensmittelrationen ihres Bruders und wurde einmal sogar als vermeintlich Tote auf die Strasse getragen. 

Von der Vernichtung zur Blockade

Mittlerweile sind die diskursiven Verteidigungslinien für den Heldenmythos der Leningrader Blockade in aller Deutlichkeit gezogen. Der oppositionelle Fernsehsender «Doshd» führte auf seiner Website im Jahr 2014 eine Umfrage durch: «Hätte man Leningrad nicht besser aufgeben sollen, um dadurch Hunderttausende Menschenleben zu retten?» Allein die Frage löste eine Welle der Empörung aus. Zahlreiche Kabelnetzwerke nahmen «Doshd» aus ihrem Angebot, seither ist der Kanal fast ausschliesslich auf Einnahmen aus Internetabonnements angewiesen.


Vor dem Hintergrund dieses Skandals verzichtete der Filmregisseur Alexei Krassowski aus eigenen Stücken darauf, für seine schwarze Komödie «Das Fest» (2019) staatliche Gelder zu beantragen. Er finanzierte seinen Film durch Crowd-Funding und stellte ihn kostenlos auf Youtube zur Verfügung. Innerhalb eines Monats erreichte der Film 1,5 Millionen Zuschauer. Die Handlung des «Fests» spielt am 31. Dezember 1941 im belagerten Leningrad. Ein Physikprofessor, der wegen seiner Spezialaufgaben eine besondere Lebensmittelration erhält, will mit seiner Familie das neue Jahr feiern. Der Sohn und die Tochter bringen jedoch ihre neuen Partner mit ins Elternhaus. Die makabre Komik des Films dreht sich um eine peinliche Grundsituation: Die privilegierte Familie muss den hungernden Gästen erklären, woher sie das viele Essen hat. Die politische Brisanz von Krassowskis Film besteht nicht nur im Tabubruch, die Leningrader Blockade als Komödie zu präsentieren, sondern auch in der Entlarvung regimetreuer Intellektueller, deren einziges Interesse in der Wahrung ihrer Vorrechte besteht. Nicht wenige Zuschauer deuten «Das Fest» als Parabel auf die russische Gegenwart.

Inwieweit treffen Chizhovas Vorwürfe zu? Zunächst muss festgehalten werden, dass Hitler in der Tat eine verbrecherische, ja sogar genozidale Politik gegenüber Leningrad verfolgte. In den euphorischen ersten Wochen des Unternehmens «Barbarossa» hatte Hitler befohlen, Leningrad müsse «dem Erdboden gleichgemacht» werden. In der Nachkriegsplanung war die Newa als Grenze zwischen Deutschland und Finnland vorgesehen, für eine Stadt gab es also an diesem Ort keine Existenzberechtigung mehr. Als sich im September 1941 beim Angriff auf Leningrad ein erbitterter Widerstand abzeichnete, wechselte die Heerführung die militärische Strategie von der Vernichtung zur Blockade. Die Begründung war aber für beide Vorgehensweisen gleich: Man wollte die Leningrader Bevölkerung nicht ernähren. Für den Fall der Fälle verfügte Hitler sogar, dass eine Kapitulation der eingeschlossenen Stadt nicht anzunehmen sei. Die einzige menschliche Regung im deutschen Oberkommando bestand darin, dass man sich fragte, ob es den deutschen Soldaten zuzumuten sei, auf ausbrechende Frauen und Kinder zu schiessen. 

Bis zum letzten Mann

Schwieriger ist die Beurteilung von Stalins Schuld an den hohen Opferzahlen in Leningrad. Im Frühjahr 1941 hatte Stalin zahlreiche Warnungen der eigenen Geheimdienste über einen bevorstehenden deutschen Angriff in den Wind geschlagen. Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass der notorisch misstrauische Stalin seinen gefährlichsten Feind nicht erkannte. Stalin fürchtete den Fall Leningrads, weil sich dann die deutsche und die finnische Armee hätten vereinigen und von Norden gegen Moskau vorrücken können. Deshalb gab er früh die Parole aus, Leningrad bis zum letzten Mann zu verteidigen

 
Allerdings spielte er damit genau der deutschen Aushungerungsstrategie in die Hände, wie Joseph Goebbels in seinem Tagebuch mit Genugtuung vermerkte: Die Weltöffentlichkeit würde das Sterben der eingeschlossenen Stadtbevölkerung der sowjetischen Führung anlasten. Stalin und die Moskauer Führung liessen allerdings nichts unversucht, um Leningrad zu befreien. Während der Blockade führte die Rote Armee insgesamt sechs Angriffe auf den deutschen Belagerungsring durch.

Seit Beginn der Blockade war der «Weg des Lebens» über den Ladogasee der einzige Zugang zur belagerten Stadt. Im Sommer gab es einen mühseligen Fährbetrieb, im Winter fuhren Lastwagen auf dem Eis, wo sie aber immer wieder einbrachen. Im Januar 1943 eroberte die Rote Armee ein Landstück am südlichen Seeufer zurück. Innerhalb zweier Wochen wurde eine Bahnlinie verlegt, die eine spürbare Verbesserung der Versorgung Leningrads ermöglichte. Trotz den katastrophalen Verhältnissen, die auch zu Kannibalismus führten, fuhr man fort, in Leningrad Rüstungsgüter und Munition herzustellen. Allerdings führten die prekären Produktionsbedingungen dazu, dass über 50 Prozent der hergestellten Ware Ausschuss waren. In der Tat hätte eine frühe Konzentration der Produktion auf die Bedürfnisse der Zivilbevölkerung eine grosse Anzahl Menschen retten können. Für Stalin hatte aber ganz klar die Schlagkraft der Armee oberste Priorität.

Immer wieder wird gemutmasst, Stalin habe eine besondere Antipathie gegenüber Leningrad gehegt. In der Tat war St. Petersburg der Inbegriff des zaristischen Russland, gegen das der Revolutionär Stalin in seiner Jugend gekämpft hatte. Im Machtkampf um die Nachfolge Lenins war Stalin in der Person des Leningrader Parteichefs Grigori Sinowjew ein ernsthafter Rivale erwachsen, der überdies mit der «Leningradskaja Prawda» über eine eigene Tageszeitung verfügte. Auch Sinowjews Nachfolger Sergei Kirow erschien in Stalins Augen als gefährlicher Widersacher – Kirow wurde 1934 unter ungeklärten Umständen Opfer eines Mordanschlags. 

«Heldentum» ist anders

Stalins Argwohn gegenüber Leningrad ist durch zahlreiche Äusserungen belegt. So nannte er die Stadt etwa eine «einsame Insel im Meer». Im Jahr 1942 waren Gerüchte im Umlauf, die Sowjetführung wolle Leningrad für 10 oder 25 Jahre an die Briten und Amerikaner verpachten, um für die westliche Militärhilfe im Kampf gegen Nazi-Deutschland zu bezahlen. Nach der Beendigung der Blockade wurden in Leningrad sogar Stimmen laut, die Hauptstadt müsse wieder an die Newa verlegt werden. Ende der vierziger Jahre kam es schliesslich im Rahmen der sogenannten Leningrader Affäre zu einer Reihe von Entlassungen, Verhaftungen und Prozessen, in denen sich das Moskauer Zentrum rücksichtslos gegen die Stadt an der Newa durchsetzte.



Die Liste der Verwerfungen zwischen Stalin und Leningrad ist also lang. Gleichwohl ist es schwierig, aus dieser problematischen Beziehung eine bewusste Vernichtungspolitik Stalins gegenüber Leningrad abzuleiten. Stalin war ein rücksichtsloser Massenmörder – in Leningrad, Moskau und in seinem heimatlichen Georgien. Jedenfalls ist es wichtig, dass Elena Chizhova mit ihrem Beitrag eine Diskussion über das russische Geschichtsbild angestossen hat. Darüber hinaus merkt sie an, dass es falsch sei, vom «Heldentum» der eingeschlossenen Leningrader zu sprechen. Nur ein bewusst gewähltes Handeln könne «heldenhaft» sein. Die Blockade stelle aber für die Leningrader ein von aussen auferzwungenes tragisches Schicksal dar.

Ulrich M. Schmid ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands sowie Prorektor Aussenbeziehungen an der Universität St. Gallen. Zuletzt ist von ihm 2015 bei Suhrkamp erschienen: «Technologien der Seele. Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur».

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen