Mogulreich, 17. Jhdt.
"Ein kulturelles Erbe wird unterdrückt"
Ein Interview von Nadire Biskin
SPIEGEL ONLINE: Herr Ghandour, in Ihrem Buch beschäftigen Sie sich aus historischer Perspektive mit Erotik im Islam. Welche Bedeutung hatte Sex unter Muslimen vor der Kolonialzeit?
Ghandour: Natürlich ist es schwierig, hier zu verallgemeinern. Aber Sex war um das Jahr 1000 beispielsweise bei den Abbasiden oder später im Osmanischen Reich - also in der heutigen Türkei, in Ägypten und im Irak - positiv konnotiert. Er war weder schmutzig noch unheilig. Dadurch ist zum Beispiel auch eine Sprache entstanden, die Sex und Erotik feiert. Im Deutschen gibt es heute nur die Wahl zwischen medizinischer Fachterminologie und umgangssprachlicher vulgär-scherzhafter Ausdrucksweise. Im klassischen Arabischen hingegen sind Bezeichnungen für Geschlechtsorgane wertfrei, die Vagina als Schimpfwort gab es in den meisten muslimischen Kulturen nicht. Dafür existieren allein für den Penis 114 Synonyme und für das weibliche Geschlechtsteil 99. Manche Sufis, also asketische Muslime und Mystiker, betrachteten Sex sogar als einen Weg der Gotteserkenntnis.
SPIEGEL ONLINE: Gibt es deswegen auch das Versprechen auf 40 Jungfrauen im Paradies?
Ghandour: Nein, das ist ein Mythos. Das steht nirgends im Koran. Es gibt prophetische Überlieferungen, die sind allerdings nicht authentisch. Theologen wissen nur, dass es im Paradies sexuelle Gefühle gibt - wie diese aber konkret aussehen, weiß niemand.
SPIEGEL ONLINE: Galten diese früheren liberalen Vorstellungen auch für Frauen?
Ghandour: Teilweise. Frauen sind und waren auch damals überall benachteiligt, allein weil Männer die Diskurse dominieren, wobei das nicht typisch muslimisch, sondern typisch patriarchal ist. Gleichzeitig gab es in manchen Epochen urbane Räume und Phänomene, wie zum Beispiel Hamams, die als Safe Space für Frauen galten. Dort konnten sie zum Beispiel Sex mit Frauen haben oder eine männliche Geschlechterrolle übernehmen.
Ghandour: Früher war in der muslimisch geprägten Welt, zumindest in den Städten, mehr Gelassenheit, Sex war kein Tabuthema. Man konnte damals als Religionsgelehrter auch Sexgeschichten oder homoerotische Gedichte schreiben; das Sexuelle war in der Gesellschaft präsenter und diverser. Heute hingegen gibt es klare Kategorien, was sein darf und was nicht - ich würde sagen, ein kulturelles Erbe wird unterdrückt.
SPIEGEL ONLINE: Wie kam es dazu?
Ali Ghandour, Jahrgang 1983, ist islamischer Theologe und Publizist - unter anderem hat er sich mit Buddhismus beschäftigt. Sein Buch trägt den Titel "Liebe, Sex und Allah. Das unterdrückte erotische Erbe der Muslime".
Ghandour: Ein Faktor ist der Imperialismus, der die viktorianischen Vorstellungen in die muslimisch geprägten Länder eingeführt hat. Es wurden bewusst und unbewusst europäische Normen des 19. Jahrhunderts übernommen - zum Beispiel die moralische Idee, dass Geschlechtsverkehr nur der Fortpflanzung und dem Wohl der Nation dienen soll. In Ländern wie Indien oder Algerien zwangen die europäischen Kolonialherren solche Normen auch mit Gewalt auf. Darüber hinaus gab es einen Aufstieg von verschieden Ideologien wie Nationalismus, Kommunismus und Islamismus. Alle haben die Kontrolle des Menschen und seiner Sexualität gemein. Und Kontrolle führt immer zu Verboten.
SPIEGEL ONLINE: Heute werden Muslime in Deutschland häufig mit Frauenfeindlichkeit und Homophobie in Verbindung gebracht.
Ghandour: Eins vorneweg: Frauenfeindlichkeit und Homophobie sind keine Phänomene, die man nur bei Muslimen findet. Es gibt sie überall. Homophobie, wie wir sie heute kennen, ist ein Phänomen, das die Muslime vor dem 19. Jahrhundert nicht kannten. Denn blickt man zurück, wird man feststellen, dass es unter Muslimen früher zum Beispiel einen sehr offenen Umgang mit gleichgeschlechtlichen Beziehungen gab.
SPIEGEL ONLINE: In Deutschland wird immer wieder über Sexualaufklärungsunterricht für Geflüchtete aus muslimischen Ländern diskutiert. Was halten Sie von solchen Kursen?
Ghandour: An sich ist Sexualaufklärung immer gut und zwar für jeden und jede. Das Interessante an der heutigen Sexualmoral unter Muslimen ist die Tatsache, dass sie vielleicht stärker von der europäischen Sexualmoral des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als von der eigenen Tradition geprägt ist. Es gab einen Bruch durch den Kontakt mit Europäern, keine eigenständige Entwicklung. Muslime verfielen in eine Schockstarre und reagierten mit Angst auf alles Neue und vor allem auf alles Europäische, es wurde nicht mehr agiert, sondern nur noch reagiert.
SPIEGEL ONLINE: Was kann man jetzt dagegen machen?
Ghandour: Muslime sollten die eigenen vergessenen Traditionen kennenlernen - damit meine ich die eigene sexuelle und erotische Geschichte. Was nicht heißen soll, dass wir zurück in die Vergangenheit sollen. Sondern, dass man das Positive aus der eigenen Geschichte aufgreift, das Negative überwindet und gleichzeitig die aktuelle Wissenschaft einbezieht, natürlich mit einem kritischen Blick. Muslimische Gelehrte sollten Sexualität und Liebe viel mehr thematisieren.
SPIEGEL ONLINE: Was sollten Muslime selbst verändern, wenn es um Sex und Liebe geht?
Ghandour: Mehr sexuelle Freiheiten zulassen. Die gemeinschaftliche Kontrolle und die Einschränkung der Sexualität der Menschen durch Normen, die aus völlig anderen Zeiten stammen, sind heute teilweise kontraproduktiv. Es ist wichtig, die Möglichkeiten und Erkenntnisse unserer Zeit zu nutzen und in das Gerüst von muslimischen Normen zu integrieren. So ein Prozess ist muslimischen Denktraditionen auch nicht fremd. Er wurde nur verlernt.
Nota. - Um erotische Darstellungen aus islamischem Herrschaftsgebiet wie die obige aufzutreiben, muss man schon im nordindichen Moghul-Reich suchen; wo eine kleine islamische Oberschicht mongolischer Herkunft über ein große Masse hinduistischer Untertanen gebot - und dabei zweckmäßigerweise eine lieberale Auslegung des Koran vertraten. Ob Manohar, der Maler der obigen Miniatur, selbst Moslem oder Hindu war, konnte ich nicht herausfinden.
JE
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