aus welt.de, 23.08.2019
Das Märchen von den Abgehängten im Osten
Die Vorstellung, dass die Menschen im Osten beim Gehalt zurückfallen, hält sich hartnäckig. Neue Zahlen zeigen jedoch: Bei den Einkommen holen die östlichen Länder mächtig auf. Dafür leidet die Region an einem ganz anderen Problem.
Die Vorstellung, dass die Menschen im Osten beim Gehalt zurückfallen, hält sich hartnäckig. Neue Zahlen zeigen jedoch: Bei den Einkommen holen die östlichen Länder mächtig auf. Dafür leidet die Region an einem ganz anderen Problem.
Die ostdeutschen Länder sind wirtschaftlich hoffnungslos abgehängt, das ist ein Gefühl, mit dem sich
nicht zuletzt die Wahlkämpfer in Brandenburg und Sachsen konfrontiert sehen. Von gleichwertigen Lebensverhältnissen sei Deutschland weit entfernt, bekommen sie zu hören.
Doch eine aktuelle Auswertung der Zahlen zeigt: Was die Einkommen angeht, schließen die Menschen im Osten immer weiter auf ihre Landsleute im Westen auf, und auch von einem generellen ökonomischen Absterben der Provinz kann keine Rede sein. Wenn es das Gefühl gibt, „abgehängt“ zu sein, hat das meist eine andere Ursache, die nicht direkt mit Lohn und Gehalt und Vermögen zu tun hat.
Wissenschaftler des Ifo-Instituts in München haben die relevanten Daten der vergangenen 20 Jahre ausgewertet und kommen zum Schluss, dass Deutschland generell nicht ungleicher, sondern gleicher wird. Sie konstatieren einen starken Trend: „Die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen zwischen den Regionen ist in Deutschland in den letzten zwei Jahrzehnten zurückgegangen“, sagt Ifo-Chef Clemens Fuest.
Die Ifo-Forscher erkennen an, dass die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik politisch einen hohen Stellenwert hat, auch wenn umstritten ist, „an welchen Indikatoren gemessen werden soll, wann Lebensverhältnisse gleichwertig sind und wann nicht“, merkt Fuest an.
Gerade in der ostdeutschen Provinz hätten Menschen das Gefühl, ökonomisch abgehängt zu sein, nicht nur gegenüber Westdeutschland, sondern auch gegenüber den großen Städten in Ostdeutschland. Sowohl auf Zehn-Jahres- als auch auf Zwanzig-Jahres-Sicht haben sich die verfügbaren Einkommen nirgendwo so stark verbessert zwischen Ostsee und Erzgebirge.
Zwischen 2007 und 2017 (das sind die aktuellsten verfügbaren Daten) führt Sachsen-Anhalt die Liste der Bundesländer mit der stärksten Verbesserung an, und zwar mit einem Zuwachs von 32 Prozent. Deutschlandweit legten die Einkommen in dieser Zeit nur um 22 Prozent zu. Die schwächsten Länder waren Hamburg, Bremen und das Saarland.
Ein anderer Beleg für die Annäherung: Schon 2017 waren die verfügbaren Einkommen im Saarland nur noch unwesentlich höher als in Brandenburg. Angesichts der Tatsache, dass das kleinste Flächenland 2018 mit einer schrumpfenden Wirtschaft konfrontiert war, ist es gut möglich, dass der durchschnittliche Brandenburger vergangenes Jahr mehr Geld zur Verfügung hatte als der durchschnittliche Saarländer, allerdings liegen die Daten für 2018 noch nicht vor.
Das gleiche Ergebnis stellt sich auch ein, wenn nicht die Bundesländer, sondern Kreise und kreisfreie Städte verglichen werden. „Die Ungleichheit unter den Regionen in Deutschland hat den letzten zwei Jahrzehnten entgegen vielen Behauptungen keineswegs zugenommen, sondern ist gesunken“, sagt Fuest.
Dabei falle auf, dass der Aufholprozess des Ostens seit 2006 stärker ausgeprägt war als in der Zeit zwischen 1994 und 2006. Mit anderen Worten: Gerade im zurückliegenden Jahrzehnt gibt es einen klaren Trend zu mehr Gleichheit, nicht weniger Gleichheit.
In Zahlen sieht das so aus: Im Jahr 1994 ermöglichten die reichsten zehn Prozent der Regionen ein um 57 Prozent höheres Einkommen als als die ärmsten zehn Prozent. Im Jahr 2016 lag diese Einkommensdifferenz nur noch bei etwa 45 Prozent. Beim Vergleich des obersten und untersten Fünftels der Regionen ergibt sich ein Rückgang von 49 Prozent auf 35 Prozent.
Angesichts der Größe der Wohlstandsunterschiede zwischen West und Ost zur Zeit der deutschen Wiedervereinigung könne man die Auffassung vertreten, dass der Aufholprozess zu langsam verlaufe. „Andererseits ist es nicht richtig zu behaupten, der Abstand zwischen reichen und armen Regionen in Deutschland würde immer größer. Zumindest bei den verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte ist vielmehr das Gegenteil der Fall“, erklärt Fuest. Jedenfalls sei es unangemessen, von einem generellen Trend zu wachsender regionaler Divergenz zu sprechen.
Die Provinz hält sich wacker gegen die Stadt
Auch die These, dass das platte Land gegenüber der Stadt an Wohlstand einbüßt, lässt sich aus den Daten nicht ableiten. Vielmehr haben sich die Unterschiede zwischen den Regionen in den letzten zwei Jahrzehnten deutschlandweit vermindert. Allerdings machen die Ifo-Forscher eine Einschränkung: Sie stellen fest, dass die Einkommensunterschiede zwischen Stadt und Land in Westdeutschland tendenziell zugenommen haben, der starke Aufholprozess der ostdeutschen Provinz gleicht das allerdings mehr als aus.
Die verwendeten Daten stammen aus dem Mikrozensus auf Ebene der Kreise und kreisfreien Städte. „Der auffälligste Befund lautet, dass deutschlandweit das Stadt-Land-Gefälle in den vergangenen zwei Jahrzehnten gesunken ist. Während das Durchschnittseinkommen in der Stadt 1994 noch rund elf Prozent höher war als auf dem Land, lag es 2016 nur noch acht Prozent darüber“, heißt es in der Studie. In der öffentlichen Diskussion herrsche vielfach der Eindruck vor, ländliche Gegenden seien prinzipiell abgehängt, was so nicht der Fall sei.
Das bedeutet allerdings nicht, dass in den Gegenden fern der städtischen Zentren alles zum Besten steht. Die Ifo-Wissenschaftler finden hier auch problematische Entwicklungen, gerade in den neuen Bundesländern: Dörfer und kleine Städte erleiden hier vielerorts Alterung und Wegzug junger Menschen. Laut der Untersuchung ist die Bevölkerungsdichte in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands zwischen 1994 und 2016 um mehr als ein Drittel gesunken. Gleichzeitig ist das mittlere Alter von 38 auf 50 Jahre nach oben gesprungen.
Ökonomisch ist es strittig, ob es Sinn hat, dem Fortzug der Menschen in größere und dichtere Siedlungen entgegenzuwirken. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) betonte zuletzt die Bedeutung der Regionalförderung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und auch für die dezentrale wirtschaftliche Infrastruktur des Landes. Fuest führt hingegen an, dass Zuwanderung in die Städte ökonomisch durchaus Vorteile mit sich bringt.
Er nennt das „Nutzung von Agglomerationsvorteilen durch Skalenerträge und Wissensexternalitäten“. Insofern sei es ökonomisch nicht ohne weiteres möglich, eine Förderung der ländlichen Räume mit Effizienzargumenten zu rechtfertigen. Zugleich räumt der Ifo-Chef ein: „Politisch finden Maßnahmen zur Eindämmung regionaler Divergenzen in Deutschland jedoch breite Unterstützung.“ Damit solche Maßnahmen erfolgreich sein können, müssten sie jedoch vor allem die Stabilisierung der demografischen Entwicklung der ländlichen Regionen in den Blick nehmen.
Es bleibt eine naheliegende Kritik, dass die verfügbaren Einkommen anders als die Markteinkommen zum nicht geringen Teil durch staatliche Umverteilung beeinflusst werden. Ohne Renten, Kindergeld und andere Ausgleichszahlungen würde sich die finanzielle Situation also deutlich weniger gleich präsentieren.
„In der Tat wären die Einkommensunterschiede zwischen den Regionen deutlich höher, wenn sie nicht durch progressive Einkommensteuer, Sozialversicherungen und Finanzausgleich reduziert würden“, erklärt der Chef des Ifo-Instituts, der zu den angesehensten Ökonomen Deutschlands gehört. Das erkläre aber nicht das Ausmaß, in dem die Einkommensunterschiede zurückgehen. Der Hauptgrund sei eine Konvergenz der realen Wirtschaftskraft pro Kopf.
Was beim Stadt-Land-Vergleich außerdem zu berücksichtigen ist: In der Ifo-Analyse wurden regionale Preisniveauänderungen zum Beispiel durch steigende Wohnkosten in Ballungsräumen nicht berücksichtigt. Die höheren Wohnkosten in den Städten dürften also den Einkommensvorsprung der Städter zum großen Teil aufzehren. Dieser Faktor dürfte in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen haben, auch und gerade in Ostdeutschland.
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