Donnerstag, 8. August 2019

Deutscher Vormärz.

1837 protestierten mehrere Professoren – die «Göttinger Sieben» – gegen die Aushebelung des verhältnismässig liberalen hannoverschen Staatsgrundgesetzes. Lithografie nach einer Zeichnung von Carl Rohde, 1837/1838.
aus nzz.ch,

Langweiliger Biedermeier? Von wegen!
Ab 1815 brach Deutschland in die Moderne auf 
Zwischen 1815 und 1848 haben sich im Jahrestakt Dinge von weitreichender Bedeutung ereignet. In einem bestechenden Buch bringt der Politikwissenschafter Wilhelm Bleek den Lesern die unterschätzte Periode des «Vormärz» näher.

von Cord Aschenbrenner 

Schon das Wort Vormärz ist schwierig. Die Deutschen, die bis heute eine gewisse Fremdheit mit der Märzrevolution von 1848 pflegen, können mit den dreissig Jahren davor auch wenig anfangen. Im allgemeinen historischen Bewusstsein spielt die Revolution keine grössere Rolle, von Stolz auf den Versuch, der «Fürstenherrschaft» ein Ende zu setzen und demokratischen Verhältnissen näher zu kommen, gar nicht zu reden. Wohl sagt vielen der Begriff Biedermeier etwas. Doch über das damit assoziierte Mobiliar hinaus prägt nur die Vorstellung einer unpolitischen, langweiligen Innerlichkeit das Bild der Zeit vom Ende des Wiener Kongresses 1815 bis zur Revolution.


Dass diese Zeit des vermeintlichen bürgerlichen Sich-Verkriechens eine Reaktion war auf die mit den Mitteln politischer Unterdrückung durchgesetzte «Restauration», die Wiederherstellung vorrevolutionärer und vornapoleonischer Zustände, mag auch noch zur allgemeinen Kenntnis gehören. Dass es aber im Vormärz in bald jedem Jahr ein kulturelles, technisches oder zivilgesellschaftliches (wie es heute hiesse) Ereignis mit manchmal bis in die Gegenwart anhaltender Wirkung gab, hin und wieder auch ein politisches – dies lässt sich nun in einem höchst gelungenen, von der ersten bis zur letzten Seite überaus interessanten Buch nachlesen. 

Sieben mutige Göttinger

Verfasst hat es der emeritierte Bochumer Politikwissenschafter Wilhelm Bleek, der für die betreffende Zeit insofern ein Spezialist ist, als er einem der wichtigsten Protagonisten des deutschen Vormärz, nämlich Friedrich Christoph Dahlmann, eine umfassende Biografie gewidmet hat. Dieser in höchstem Masse politische Professor (und Mitbegründer von Bleeks Zunft, der Politikwissenschaft) taucht, es geht gar nicht anders, auch hier auf, war er doch der führende Kopf der «Göttinger Sieben», denen Bleek ein Kapitel widmet.

Diese sieben Professoren an der Landesuniversität des Königreichs Hannover hatten im Jahr 1837 eine «Protestation» verfasst, die sich gegen die Aufhebung des hannoverschen Staatsgrundgesetzes durch den hannoverschen König richtete – ein Putsch von oben gegen die einigermassen liberale Verfassung von 1833, den die Göttinger Professoren, unter ihnen die beiden Brüder Wilhelm und Jacob Grimm, sich nicht bieten lassen wollten.

Es folgten die Entlassung und der Landesverweis der sieben Gelehrten. Und es folgte eine beispiellose Solidarität der bürgerlichen Öffentlichkeit mit den mutigen Verteidigern der verfassungsmässigen Ordnung: Sympathieadressen, Geldzuwendungen und, nicht zuletzt, gleichsam die Erhebung in den gesamtdeutschen Heroenstand. Bleek wertet die Protestation als «wichtige Vorstufe» der Märzrevolution neun Jahre später. Ihr Wortführer Dahlmann war so populär, dass er, als er 1842 mit einem Rheindampfer in Bonn anlegte, um dort an der wenige Jahre zuvor (1818) gegründeten Universität endlich wieder einen Lehrstuhl zu übernehmen, mit Böllerschüssen begrüsst wurde, «wie beim Empfang eines Fürsten», schreibt Bleek. 

Reiseführer für Rheinromantiker

Diese kleine Episode erwähnt der Verfasser im Kapitel über die Erstveröffentlichung des «Baedeker» im Jahr 1832. Dessen Thema war die «Rheinreise von Mainz bis Köln», übernommen von einem Konkurs gegangenen Verlag. Die dritte Auflage der «Rheinreise» enthielt dann schon die für alle weiteren Baedeker-Führer kennzeichnenden Details: preiswerte Gasthöfe, Stadtpläne und Dampfschiffverbindungen, gewissenhaft recherchiert vom Verleger Karl Baedeker (der hier warum auch immer überwiegend Klaus genannt wird, ein Fehler, der dem legendär pingeligen Baedeker nie und nimmer passiert wäre) vor dem Hintergrund der anhaltenden Rheinromantik, der Revolution im Verkehrswesen und dem Aufschwung des Reisens, drei die Epoche kennzeichnende Phänomene.

Geradezu bestrickend an Bleeks Buch ist seine zwanglose, farbige Art des Erzählens. Sie findet ihre Entsprechung in der kapitelweisen und ebenso zwang-, jedoch nicht absichtslosen Auswahl bemerkenswerter Begebenheiten, die alle – chronologisch geordnet – unter dem weiten Dach des Vormärz ihren Platz haben: die Verfassung von Sachsen-Weimar-Eisenach von 1816 mit der darin verankerten «Freiheit der Presse», vom Staatsminister Goethe als «Pressfrechheit» bemäkelt und im Kreise der deutschen Mitfürsten von Grossherzog Carl August übel vermerkt; das Wartburgfest 1817, das Hambacher Fest 1832 und das Kölner Dombaufest 1842.

Oder auch der Bau des Auswandererhafens Bremerhaven (1827) und die Erfindung des elektromagnetischen Telegrafen durch die Professoren Gauss und Weber (1833); der Tod Friedrich Krupps 1826 und derjenige Goethes 1832, bald nach der Vollendung des «Faust»; die Uraufführung des «Freischütz» 1821, acht Jahre später die Wiederaufführung von Bachs Matthäus-Passion nach vielen Jahrzehnten durch das musikalische Wunderkind Felix Mendelssohn Bartholdy; politisch interessanter als musikalisch ist das Schleswig-Holstein-Lied mit seiner nationaldeutschen Botschaft aus dem Jahr 1844.

«Deutschlands Aufbruch in die Moderne» lautet passend der Untertitel des Buchs. Wilhelm Bleek ist es gelungen, diesen vielfältigen, zum Teil drängenden Aufbruch unterschiedlichster Art so zu schildern, dass seine Leser wohl nie wieder vom Biedermeier, ganz bestimmt aber vom Vormärz sprechen werden.
 
Wilhelm Bleek: Vormärz. Deutschlands Aufbruch in die Moderne 1815–1848. Verlag C. H. Beck, München 2019. 336 S., Fr. 42.90.

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